Andreea Campeanu

Ich hatte eine Geschichte gelesen, die in der heutigen Zeit so schön und hoffnungsvoll und traurig klang, dass sie nur ein Märchen sein konnte. Vielleicht war sie nicht wahr, aber ich wusste: Ich muss die Grossmutter finden.

Die Grossmutter I

Auf dem Tisch liegen Teller und Schüsseln, gefüllt mit Fleischbällchen, Oliven, Käse. «Esst! Esst!», befiehlt uns die alte Frau, die auf der Bank sitzt. «Wieso essen sie nicht mehr?», fragt sie ihren Enkel, der an den Türrahmen gelehnt steht. «Wir essen ja, wir essen!», sagen wir schnell und nehmen ein Fleischbällchen und von den Oliven.

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Ihr Enkel entschuldigt sich, dass er mir nicht auf meine Nachricht geantwortet habe. Er habe sie nicht gesehen. Nun ja, es sei Ostern. Aber, um ehrlich zu sein, er hätte wohl geschrieben, dass ein Interview mit seiner Grossmutter nicht möglich sei. Nun, da wir bereits hier seien – wieso nicht?

Und so sitze ich mit meiner Fotografin in diesem kleinen Häuschen mit weissen Holzschindeln, in einem Tal im Norden Rumäniens, wenige Meter vom Ufer des Viseu, der hier noch ein Bach ist, bevor er später in den Tisza fliesst und dann in der Donau verschwindet, der Grossmutter gegenüber, und kann kaum glauben, dass es sie tatsächlich gibt.

Sie ist wie auf ihren Tiktok-Videos, die Hunderttausende Zuschauer fanden. Eine alte Frau, die durch schmale Augenschlitze skeptisch, aber auch neugierig ihre Umgebung beobachtet und gerne und laut redet.

«Ich weiss ja nicht, was ihr mich fragen werdet, wenn ich die Antwort nicht weiss, werde ich nicht antworten, und wenn ich etwas sage, das ich nicht hätte sagen sollen – nun gut, dann habe ich es gesagt», beginnt die Grossmutter und wartet dann, bis mir der Enkel oder meine Fotografin übersetzt haben. Meistens aber redet sie einfach weiter, ich nehme auf, was sie sagt, manchmal verstehe ich einen Satz, ein paar Worte und muss lachen, weil sie lacht, laut und aus dem Bauch heraus.

Ich kenne das Lachen. Als sie in einem Video auf Tiktok vom Science-Fiction-Roman «Dune» und von den Sandwürmern auf dem Wüstenplaneten erzählt, lacht sie ebenfalls aus ihrem Bauch und sagt: «3 Kilometer lange Würmer! Wie Autobusse!»

Solche Videos haben sie im ganzen Land berühmt gemacht. Aus Bukarest schicken ihr die grössten Verlage Rumäniens Buchpakete. Fans schreiben Postkarten. Hunderte hinterlassen Kommentare auf ihrem Tiktok- und Youtube-Account.

Die Videos machen glücklich. Weil sie unbearbeitet erscheinen, ehrlich, echt. Ungescripteter Erfolg im Post-Truth-Zeitalter – das gibt es heute noch?

Und weil sie dabei glücklich wirkt. Als ich ihre Videos zum ersten Mal sah, hatte ich einen Schatz gefunden.

Jetzt, wo ich der Grossmutter gegenübersitze, fühlt es sich an, als würde ich von einem Märchenbuch verschluckt.

Das böse Tiktok

Ganz im Osten Europas, wo der Kontinent ins Schwarze Meer abgleitet, geschah im Winter 2024 etwas, was wie aus einem düsteren Märchen unserer Zeit klingt: Ein Mann, von dem zuvor niemand gehört hatte, verzauberte ein ganzes Volk mit kurzen Botschaften, die plötzlich auf den Handys aller Menschen erschienen – wie ein Fluch, der sich über das Land legte.

Er hiess Calin Georgescu, und gemeinsam mit seiner Frau verbreitete er auf Tiktok Videos über Verrat und Verschwörungen, behauptete, sein Land, Rumänien, werde von Geheimdiensten kontrolliert und nur er könne es retten. Seine Video-Nachrichten erreichten Millionen, auch Menschen, die seinem Tiktok-Account gar nicht folgten und nur Schmink- und Tanzvideos, aber keine politische Werbung wünschten. Der Tiktok-Algorithmus hatte sie massenhaft verbreitet.

Dann geschah etwas Unglaubliches: Die Menschen wählten Calin Georgescu bei den Präsidentschaftswahlen, obwohl sie ihn nur vom Bildschirm kannten.

Im Land brach Aufruhr aus. Ein Gericht entschied, Georgescu habe betrogen, geholfen hätten ihm fremde Mächte. Die Wahlen wurden annulliert. Die Menschen waren wütend, verwirrt, verängstigt. Tiktok hatte ein ganzes Volk verhext.

Ich las im Internet von Georgescus Zauber. Die Geschichte stimmte mich nachdenklich. Ich dachte an das Internet zurück, mit dem ich aufgewachsen war. An einen Ort, wo Menschen Gleichgesinnte fanden, Wissen teilten, sich halfen. Das scheint Lichtjahre her, vielleicht war es immer eine Illusion gewesen. PIm Frühling reise ich nach Rumänien.

In einem Märchen sind die Rollen klar verteilt. Der Zauberer, die Hexe, der Held oder die Heldin. In Bukarest treffe ich den Weisen, der mehr von der dunklen Seite der Welt weiss als wir gewöhnlichen Menschen.

Ionita Sorin ist Chef einer Organisation, die studiert, wie sich Botschaften auf Tiktok und in anderen sozialen Netzwerken verbreiten und wer dort wieso erfolgreich ist. Er hat auch Georgescus Tricks genau studiert und sagt, dass die Rumänen die perfekten Opfer gewesen seien. «Wir sind wie geschaffen für diese App. Bei uns war das Mündliche schon immer wichtiger als das Geschriebene. Die Kurzvideos sind wie Gerüchte, die wir uns erzählen können.»

Der Weise weiss mehr, aber glücklicher macht ihn das nicht. Sorin scheint sein Wissen banal, fast nutzlos. Irgendwann seufzt er und erklärt mir, dass es kein Land in Europa gebe, in dem mehr Menschen diese Videos konsumierten. Mehr als acht Millionen Menschen seien in Rumänien auf Tiktok, das ist fast die Hälfte aller Rumänen. «Rumänien hat europaweit den höchsten Anteil an Tiktok-Nutzern – fast die Hälfte der Bevölkerung.» Er wirkt dabei traurig. Als ob er den Glauben an die Menschen verloren hätte.

Als ich gehe, erwähnt er beiläufig: Auch ältere Rumänen auf dem Land seien auf Tiktok aktiv. Sie pflegten so Kontakt zu ihren Kindern und Enkeln im Ausland. Das überrascht mich. Die App, die die Jungen verblödet und ein Volk vergiftet hat, soll ausgerechnet das Leben der Alten verbessern?

Ich denke an meine Grossmutter, die ihr iPhone nie zu bedienen gelernt hat, und frage mich, ob ich es eine gute Idee finde, wenn sie einen Tiktok-Account besässe. Dann google ich etwas zu alten Menschen auf Tiktok in Rumänien.

Tatsächlich finde ich ein paar ältere Tiktok-Influencer. Da ist zum Beispiel ein alter Mann, der für die Kamera an seinem Gehstock tanzt und damit viele Fans gewonnen hat, die nun seine Videos abonniert haben. Das klingt irgendwie lustig und unschuldig. Dann sehe ich, dass ich mit dem Gesicht des alten Mannes bedruckte Tassen und T-Shirts kaufen kann. Seine Familie hat den Grossvater mithilfe von Tiktok in eine Art Tanzbär verwandelt.

Irgendwann stosse ich auf ein Porträt über eine Grossmutter, die auf Tiktok Bücher bespricht und so im ganzen Land bekannt geworden ist: Die Geschichte klingt so schön, dass ich sie fast nicht glauben kann. Sie handelt von der 84-jährigen Ileana Ivascu, die ganz im Norden des Landes, in einem kleinen Tal, am Ende des Dorfes allein in einem Häuschen lebt und einsam war, bis sie zu lesen begann, ihr Enkel sie filmte, als sie über die Bücher redete, und diese Videos auf Tiktok stellte. Grossmutter Ivascu wurde berühmt. Zehntausende folgten ihr, Hunderttausende schauten ihre Videos. Und so war sie nicht mehr allein.

Ich bin misstrauisch. In einer Zeit, in der das Internet sogar einen Opa in einen für Geld tanzenden Clown verwandelt, sollte eine einsame alte Frau der Lesesucht verfallen sein und dank einer App, die ein ganzes Land in kollektive Hysterie versetzt hatte, zur Inspirationsquelle Hunderttausender Rumänen geworden sein? Einfach, weil sie Freude an Geschichten hatte? All das, ohne dass irgendjemand Profit daraus schlug?

Ich muss die Grossmutter finden.

Die Suche

Auf Tiktok und Youtube klicke ich mich schnell zu den Videos der Grossmutter vor. Sie trägt ein Kopftuch, ein weisses Gilet mit Rüschen. Hinter ihr sieht man braune Schränke, einen Wandteppich. Die Kamera filmt sie von unten. Ein runzliges Gesicht mit grosser knubbliger Nase und schwarze Augen, die das Licht verschlucken. In ihren Händen hält sie ein Buch in die Kamera. «Weisse Nächte» von Fjodor Dostojewski. Sie erzählt von einem einsamen jungen Mann, «der seine Nächte so gut zubrachte, wie er es halt konnte. Er war in Sankt Petersburg, und er ging auf die Strasse, und er lief und lief und lief.» Sie lacht weniger als etwa im Video, in dem sie den Science-Fiction-Roman «Dune» bespricht und vom Prinzen erzählt, der fliehen muss, von seiner Mätresse und Gewürzen, die sich in der Wüste auf einem fernen Planeten ernten lassen. So unglaublich ihr diese Geschichte erscheint, so glücklich macht es sie, dass sich jemand eine solch fremde Welt ersonnen hat.

Ich schaue ihr zu, das Video beruhigt mich, es ist einfach und schön.

Ich scrolle durch Kommentare unterhalb der Videos auf Youtube. Bei «Dune» schreibt Zuschauer Darius: «Oh, ‹Dune›, eines meiner Lieblingsbücher. Mit solchen Büchern wird Grandma viele Leben leben. Ich wünsche ihr viel Gesundheit!»

SweetSeptember17 kommentiert Dostojewski: «Ich habe dich gerade erst entdeckt, aber ich werde alle deine Buchbesprechungen anschauen. Du bist wunderbar! Du inspirierst mich zu lesen.»

Und Zuschauer Rick_and_Mortimer schreibt unter dasselbe Video: «Wow, wie sehr ich dieses Buch liebe und wie es mir das Herz brach.»

Die Videos sehen zwar so aus, als ob sie weder inszeniert noch bearbeitet worden wären, aber auch das konnte eine Masche sein. Ich schreibe dem Account und warte ein paar Stunden ohne grosse Hoffnung. Im Artikel hat es geheissen, die Grossmutter lebe in einem Dorf in der Region Maramures, den Namen des Dorfes hat die Journalistin nicht erwähnt.

Und so fahre ich am Ostersonntag mit meiner Fotografin durch Maramures, ganz im Norden Rumäniens, an der Grenze zur Ukraine. Eine spärlich besiedelte, hügelige Landschaft, die so aussieht, wie die Schweiz ausgesehen haben muss, bevor sie von Hochspannungsleitungen, Autobahnen und Dorfumfahrungsstrassen kultiviert worden ist. Aber nur weil die Region dünn besiedelt ist, heisst das nicht, dass das Dorf der Grossmutter einfach zu finden wäre. Maramures ist leer, aber gross.

Auf Facebook und Instagram schreibe ich jemandem, der so heisst wie der Enkel, der im Artikel über die Grossmutter erwähnt worden ist. Er schreibt mir zurück, er freue sich über meine Anfrage, Literatur sei wichtig, er selbst studiere und arbeite am Theater in einer nahen Stadt, es wäre ihm ein Vergnügen, mit mir über Literatur zu reden. Nur: Der Enkel der gesuchten Grossmutter sei er nicht.

Ich hatte keinerlei Interesse, mit einem zufällig gefundenen Rumänen über Literatur zu reden – die Grossmutter musste es sein! Ich schreibe weitere Leute an, vergeblich.

Während wir durch die Hügel kurven, finde ich auf Facebook einen Account, der den Namen der Grossmutter trägt. Er zeigt eine alte Frau mit Kopftuch. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich wirklich um meine Büchergrossmutter handelt. Der letzte Beitrag ist mehrere Jahre alt, ein Foto, das einige Benutzer gelikt haben. Ich öffne die Facebook-Profile der Menschen, die sich über das Foto gefreut hatten. Mehrere stammen aus ein und demselben Ort. Einem Dorf in der Region Maramures.

Moisei ist eine lange Häuserschlange, an einer Hauptstrasse zwischen die Hügel geklemmt, wenig Verkehr, wenig Menschen auf der Strasse, auch die Parkplätze vor den Geschäften sind leer.

An einer Kreuzung stehen vier Menschen. Ich strecke ihnen das Handy mit dem Foto von Facebook entgegen und frage sie, ob sie die Frau kennen würden. Drei von ihnen schütteln den Kopf. «Nein, aber dieser Name. Die Ivascus lebten einst alle dort hinten», sagt ein Mann und zeigt Richtung Dorfende.

Wir überqueren eine kleine Brücke, fahren an holzigen Gartenzäunen und niedrigen Häusern vorbei. Irgendwann wissen wir nicht mehr weiter. Es hat hier Dutzende Häuser, verstreut über einen grossen Hang. Der Weg gabelt sich. In beide Richtungen unzählige Orte, wo sich die alte Frau aufhalten könnte.

Vor einem Gartentor zücke ich wieder das Handy und zeige das Foto. «Ah, ja, ich kenne sie!», sagt der Hausbesitzer. Seine Frau schaut ihn überrascht an: Was? Wirklich? «Ja, hab auch schon ein Video von ihr auf Tiktok gesehen.»

Ich werde nervös. So nahe, kann das tatsächlich sein?

«Ihr müsst der Strasse folgen, den Hang hinauf, bis ihr zu einem Haus kommt, das drei Stockwerke hat, aber kein Dach. Dann lasst ihr das Auto zurück und geht zu Fuss weiter. Links den Hang hinab, durch den Hain mit den Bäumen, bis ein kleines Häuschen kommt.»

Wir folgen der Strasse und suchen ein Haus ohne Dach. Überall sehen wir nur moderne Häuser mit Rollläden, die von abwesenden Besitzern erzählen. Kein Mensch, aber Dächer. Dann, plötzlich, taucht vor uns eine Bauruine auf. Drei Stockwerke. Kein Dach. Wir stellen das Auto ab. Zu unserer Linken eine Böschung, hohe Bäume, dazwischen ein Pfad, dem wir folgen, bis wir, weit unten, zwischen den Büschen, ein kleines Häuschen sehen. Die Türe steht offen, und ein Schatten bewegt sich langsam mal von links nach rechts und dann, nach einiger Zeit, wieder von rechts nach links. Dann stehen wir in ihrer Küche.

Die Grossmutter II

Sie hatte früher nie gelesen. Sie hatten keine Bücher zu Hause, aber wenn sie eine Zeitung fand, im Ofen, unter dem Herd, oder wenn sie den Tisch abdeckte und auf ein Blatt Papier stiess, dann las sie, sie las alles, was sie finden konnte. Nur nie ein Buch.

Auch in ihrem eigenen Haus waren keine Bücher. Nur die Bibel. Ein Zeuge Jehovas hatte sie ihr gebracht, auf dem Feld hatte er sie angesprochen, sie gefragt, ob sie die Bibel kenne, sie hatte verneint, am nächsten Tag kam er wieder, das Buch unter dem Arm.

Das Haus hatten sie und ihr Mann gebaut, mit ihren eigenen Händen, sie waren Bauern, hatten Kühe, mästeten Truthähne. «Manchmal arbeitete ich und vergass zu essen. Wollt ihr Saft? Ein Bier vielleicht?»

Nein, Grossmutter, erzähl weiter.

Sie spricht vom Kind und zeigt dann auf ihren Enkel. «Niemand kommt hierher, niemand besucht mich. Nicht mehr. Das Kind hat ja sein eigenes Leben.» Kein Bedauern, so ist es einfach. So soll es sein.

Und schliesslich steht es ja jetzt da, das Kind, im Türrahmen, ist doch zu Besuch gekommen, über Ostern. Und es kommt regelmässig, irgendjemand lädt schliesslich die Videos ins Internet, die Grossmutter ist es nämlich nicht. Aber was sind Besuche alle zwei Wochen, wenn man allein in einem Häuschen am Ende eines Dorfes zwischen den Bäumen versteckt lebt? Die Tage strecken sich ins Unendliche, die Zeit wird unbestimmt.

Vor fünf, sechs Jahren wurde die Zeit zu viel. Ihr Mann war schon lange gestorben, ihr einziger Sohn, der Vater des Enkels, ebenfalls, zwölf Jahre ist das bereits her, irgendwann brachte ihr der Enkel ein paar Bücher, und sie begann einfach zu lesen. «Um mir die Zeit zu vertreiben, dann wurde es mehr als das. Ein Weg durch die Stille, eine Therapie, ein Gebet.»

360 Bücher habe sie gelesen, sagt sie. In fünf Jahren. Ich rechne: Mehr als 60 pro Jahr, mehr als ein Buch pro Woche. Das ist viel, sehr viel. Letztes Jahr schaffte ich zwei Bücher pro Monat, meine Freundin findet, ich lese viel, ich sage jeweils, nein, gar nicht. Wie oft scrolle ich sinnlos auf dem Handy durch Instagram, sehe Videos wie das von der Grossmutter, die wirklich gelesen hat? So viel Zeit, in der ich nicht lese. Oder wie die Grossmutter sagt: «Ich lese in der Küche, ich lese im Hof, ich lese im Garten, ich lese, wenn die Stille unerträglich wird. Wenn ein Buch mich packt, esse ich nicht mehr, schlafe nicht mehr. Ich lese.»

Und wenn dir das Buch nicht gefällt, Grossmutter?

«Lese ich es trotzdem fertig. Es gibt kein Buch, das ich nicht beendet habe. So bin ich. Und dann nehme ich einen Stift und schreibe das Datum auf die erste Seite. Dann stelle ich es auf das Regal.»

Neben der Küche liegt ein Zimmer und daneben noch ein Zimmer, und dort an der Wand steht ein kleines Regal, so hoch wie die Grossmutter, und darauf sind die 360 Bücher, mit Datum versehen. Kein Buch ungelesen, diese lagern in einem anderen Regal in einem anderen Raum.

Hier finden sich «Dune», «Harry Potter», sogar ein Manga, «rückwärts habe ich es gelesen!», Kafka und Hesse und Krimis. Und die weissrussische Journalistin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die in ihren Büchern viele alte Frauen und Männer befragt hat, so wie ich jetzt die Grossmutter befrage. Das Buch fällt mir auf, weil es das erste Buch war, das die Grossmutter in ihren Videos besprach. Eine ungewöhnliche Wahl, dachte ich damals, auch weil es vom Holocaust handelt.

«Das Holocaust-Buch . . .» Sie scheint in Gedanken versunken. «Es berührte mich sehr. Ich fühlte mich immer den Juden verbunden. Sie haben so sehr gelitten. Zu sehr. Ich verstand nie, wieso. Ich verstehe es immer noch nicht. Das Buch half mir, es etwas besser zu verstehen. Noch mehr half mir die Bibel, die erklärte, wo das Leid begann, in Ägypten. Schon in der Bibel steht, dass sie nochmals leiden werden. Dass sie der Schmerz nie verlassen wird. Vielleicht leiden sie heute noch, vielleicht sogar hier.»

Sie schweigt. Ich frage nicht nach. Es braucht mich nicht. Nicht als Fragender, vielleicht auch nicht als Zuhörer.

«Ich war drei, als sie sie holten – die Juden. Wir hatten viele hier. Gute Leute. Sie lebten im Dorfzentrum. Wir lebten hier draussen. Sie waren die Starken, die Weisen. Sie hatten die Läden und arbeiteten hart. Sie haben diesen Ort aufgebaut, in vielerlei Hinsicht. Dann kamen die Soldaten. Meine Mutter arbeitete damals für die jüdischen Familien. Sie und zwei ihrer Schwestern arbeiteten für die Juden. So war das damals. Als sie acht waren, gingen sie zu den jüdischen Familien, mit sechzehn wurden sie verheiratet. Die Soldaten holten die Juden, als sie noch am Esstisch sassen. Das Essen war noch warm. Ich erinnere mich an den Schmerz meiner Mutter, wenn sie uns davon erzählte. Sie hörte, dass die Soldaten die Juden nach Viseu gebracht hatten. In Eisenbahnwaggons. Sie eilte nach Hause, holte, was sie in der Küche finden konnte, Zwiebeln, Mehl, und lief nach Viseu und brachte ihnen, was sie hatte. Danach wurde sie krank. Sie hatte zu viel gesehen. Nach dem Krieg kamen ein paar wenige zurück. Drei lebten mit uns. Die ersten Weihnachten nach dem Krieg verbrachten sie mit uns. Meine Mutter wusste, was sie assen, was sie mochten. Einer von hundert kehrte zurück. Nur.»

«Wieso essen sie nicht mehr?», fragt sie wieder ihren Enkel. Dieser zuckt mit den Schultern. Und so nehme ich eifrig eine Olive.

All diese Bücher in einem kleinen Regal, in einem Kopf, in wenigen Jahren, so viele Geschichten verdichtet – woher, wieso? Er, der dort am Türrahmen steht, der Enkel, er lächelt. Er brachte ihr die Bücher. Immer wieder neue. Keinem Plan folgend. Sie liest sie sowieso alle, egal, was er bringt. Früher schickten die Alten ihre Kinder in die Welt hinaus. Nun hatte der Enkel seine Grossmutter in die Welt entlassen. «Ich bin nie gereist», sagt die Grossmutter. «Einmal nach Bukarest, aber nur zum Bahnhof. Heute reise ich mit den Büchern an Orte, die ich nie mit meinen Füssen betreten habe. Wer weiss, wo ich noch enden werde. Und was sie mit mir machen werden.»

Das klingt, als ob sie sich in den Büchern verlöre. Aber so meint sie es nicht. Im Gegenteil.

«Wenn du ein Buch liest, ein richtiges Buch liest, dann findest du dich im Buch wieder. Vielleicht nur in einem Satz oder zwei, aber du findest ein Stück von dir dort, und du hältst inne und sagst dir: Das bin ich, das ist genau das, was mir widerfahren ist. Es ist ganz und gar unmöglich, dass du liest und dich nicht wiederfindest.»

Ich staune ob dieser Figur aus einem Märchen. Der Enkel lächelt, entschuldigend. Ich glaube, ich verstehe den Moment, in dem er entschied, sie zu filmen. Natürlich musste er sie filmen. So wird sie ihm von den Büchern erzählt haben, und er dachte sich: Unglaublich, was die Bücher mit dieser alten Frau machen. Wie sie sie verwandeln.

Sie sah, wie er sie filmte. Sie dachte, es sei nur für ihn. «Etwas für später, um sich an mich zu erinnern, schau, das war meine Grossmutter. Ich wusste nicht, dass er mich mit der Welt teilen würde.»

Sie behauptet, sie hätte nicht weitergeredet, wenn sie das geahnt hätte. «Was die jungen Leute auch denken, vielleicht lachen sie über mich, vielleicht wissen sie nicht, was sie denken sollen. Aber ich sage ihnen, all denen, die nicht lesen: Werft euer Handy in den Brunnen! Überlasst es dem Teufel. Und nehmt ein Buch in die Hand. Es bereitet euch vor, aufs Leben, auf Prüfungen, auf Enttäuschungen, auf Freude. Alles ist in den Büchern – und nicht im Screen, den ihr in den Händen haltet, als sei er euer einziger Gott.»

Ich lache, natürlich lache ich, wer redet denn schon so. Auch meine Fotografin, die übersetzt, lacht.

«Ihr lacht, glaubt wohl, ich lüge. Aber es ist wahr!» Die Grossmutter redet nun ganz laut. «Ich will noch so viele Bücher lesen. Ich lese viele gleichzeitig. Nicht, weil ich mich nicht entscheiden kann. Ich bin gierig auf sie alle. Das ist das Einzige, was ich bereue. Dass ich so spät zu lesen begonnen habe. In meinem Alter ist alles nur ‹bis morgen›. Das Buchzeichen in meinem Buch, vielleicht bleibt es für immer dort. Vielleicht findet mich eines Tages jemand, Buch unter dem Arm, das Buchzeichen, wo ich es am Vortag eingesteckt habe, und sie wissen: Ich habe die Seite nie verlassen.»

Nach fast zwei Stunden verlassen wir die Grossmutter und den Enkel. Er zeigt uns Buchpakete, die Verlage aus Bukarest geschickt haben. Und Karten von Zuschauern mit Glückwünschen. «Lies weiter, Grossmutter», wünschen ihr die Fans, von denen sie gar nicht weiss, wie viele sie sind.

Oma

Ich gehe durch den Hain, am Grab im Gras vorbei, war es das des Sohnes? Die Bäume blühen weiss. Ich bin glücklich. Die Grossmutter war keine Influencerin, die etwas tat, weil es ihr Aufmerksamkeit und Geld brachte. Sie las und besprach die Bücher, weil es ihr Freude bereitete, ohne dass sie wusste, wer ihr alles zuhörte. Wer der Grossmutter auf Tiktok folgte, erfuhr Geschichten so wie früher – als Trost, nicht als Täuschung. Ihre Videos zeigten, was das Internet einst war, wieder sein könnte. Vielleicht manchmal, wenige Sekunden lang, immer noch ist.

Ein paar Wochen später sitze ich im Altersheim. Meine Oma lebt jetzt dort. Früher schenkte sie uns Bücher, stapelweise, jede Weihnachten, jeden Geburtstag und auch sonst. Ich las, als ich klein war, so viel, wie ich in meinem ganzen Leben nie mehr werde lesen können.

Oma kann kaum mehr lesen. Ihre Welt ist klein geworden. Sie hat zwar ihre Lupe. Aber wenn sie eine Seite gelesen hat, weiss sie nicht mehr, was auf den ersten Zeilen geschrieben stand. Oma hat ein Leben lang gelesen. Sie hat uns Enkeln vorgelesen und uns auf die Kyburg, ins Schlaraffenland oder nach Kanada zu den Silberfüchsen entführt.

Wir sitzen im Café des Altersheims, und ich erzähle ihr von meiner Reise durch Rumänien, nehme sie mit in den Palast Ceausescus, in die Dörfer von Maramures. Von der Grossmutter? Erzähle ich Oma nicht. Ich fürchte, sie würde erkennen, dass ihr die Leseabenteuer der Grossmutter nicht mehr möglich sind. Stattdessen zeige ich auf meinem Handy weitere Fotos von Rumänien. Und reise mit ihr raus, aus der Cafeteria des Altersheims.

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