Montag, November 10

Ob im Donbass oder in Charkiw – die Deep State Map zeigt, wie sich die Lage an der Front verändert. Hinter dem Projekt stehen ukrainische Patrioten. Genau deshalb bekämpfen sie nicht nur die Falschinformationen aus Moskau, sondern auch jene aus Kiew.

Als Roman Pohorili und Ruslan Mikula 2021 erstmals mit einer Karte experimentierten, die Kriege und Konflikte live abbildet, fanden sie das vor allem technisch interessant. Doch dann marschierte Russland in ihr Heimatland ein: Ihre Website DeepStateMap.live wurde zur lebenswichtigen Ressource, für Notfalldienste und selbst für die ukrainische Armee. Wer die Lage im Donbass verstehen will – oder nun jene in Charkiw –, kommt um diese Karte kaum herum. Sie verzeichnet inzwischen weit über eine Milliarde Zugriffe.

Das macht die Deep State Map zu einer der meistgenutzten Karte des Ukraine-Krieges. Das Team um Pohorili und Mikula hat eine intuitive Benutzeroberfläche geschaffen, welche die wichtigsten Informationen fast auf einen Blick präsentiert: von Moskau besetzte Gebiete sind rosa oder orange, befreite Territorien grün, die umkämpften grau. Wer will, kann die Topografie und die Wetterlage darüberlegen, den Verlauf der Schützengräben verfolgen oder sich ansehen, welche Einheiten wo an der Front stationiert sind.

Ukrainische Patrioten ohne falsche Illusionen

Es gibt aber eine Einschränkung: Die Deep State Map zeigt nur russische Stellungen, keine ukrainischen. Roman Pohorili will dem Feind keine nützlichen Informationen liefern. Im Zoom-Gespräch mit der NZZ gesteht der 24-Jährige, dass er kein objektiver Beobachter sei. «Es geht um unsere Ukraine, und wir kämpfen für den Sieg.» Dies heisst, dass er laufende Operationen des ukrainischen Militärs manchmal unterschlägt, selbst wenn sein Team davon weiss.

Änderungen gibt es aber jeden Tag. Mit einer Timeline-Funktion kann man Frontverschiebungen beliebig in die Vergangenheit verfolgen. Oder zumindest fast: Die ersten sechs Wochen des Krieges gingen bei einem Relaunch der Seite verloren. Zunächst hatte sie auf Basis von Google Maps funktioniert, doch die Karte wurde blockiert – mutmasslich bekam der amerikanische Konzern wegen russischer Hackerangriffe und ungelöster Haftungsfragen kalte Füsse. Die Autoren mussten sie völlig neu programmieren.

Die Grundlage der Ukraine-Karte der NZZ

Die NZZ veröffentlicht seit Beginn des Ukraine-Kriegs eine interaktive Karte, die den Verlauf der Front zeigt. Sie können die Karte unter folgendem Link abrufen. Auf der NZZ-Karte sind Beiträge von NZZ-Korrespondenten, Satellitenbilder und wichtige Ereignisse des Krieges markiert. Die Daten des Frontverlaufs für die NZZ-Karte stammen seit dem Einmarsch der Russen am 24. Februar 2022 von LiveUAmaps.com. Der Grund, warum sich die NZZ für diesen Dienst und nicht für Deep State Map entschieden hat, liegt darin, dass die Macher von LiveUAmaps ihre Daten seit Beginn des Krieges kontinuierlich maschinenlesbar zur Verfügung stellen. Dadurch wird die Datenverarbeitung erleichtert. (bsk.)

Pohorili versichert aber, dass die sichtbaren Informationen korrekt seien. Es habe keinen Sinn, russische Eroberungen und damit einhergehende Verschiebungen der Front zu verschweigen, wenn dies beispielsweise die Evakuierung von Zivilisten gefährde; schliesslich ist der ukrainische Katastrophenschutz offizieller Partner. Dem ehemaligen Anwalt geht es um Grundsätzliches: «Die Leute sollen sich keine Illusionen machen. Sie müssen der Realität ins Auge sehen.» Nur wenn sie die wahre Lage an der Front verstünden, könnten sie die Russen effektiv bekämpfen.

Dass diese Lage schwierig ist, weiss Pohorili besser als die meisten in der Ukraine. Über hundert Personen liefern der Deep State Map als Freiwillige Informationen zu. Viele dienen selbst in der Armee und stehen an der Front. Das Kernteam, dessen Grösse Pohorili aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, analysiert Videos, Nachrichten und Bilder. Es entscheidet, wann die Karte aktualisiert wird.

Gerade Bilder, so Pohorili, liessen sich mit den Methoden der sogenannten Open Source Intelligence (Osint) gut überprüfen. Die Analysten gleichen die Lage von Gebäuden oder Strassen mit Satellitenbildern ab, um sicherzustellen, dass die Angaben der Autoren über den Aufnahmeort eines Videos stimmen.

Informationskrieg und Propaganda

Damit treten sie auch Falschinformationen entgegen: So verbreiteten russische Kanäle jüngst ein Video, das angeblich die Hissung der russischen Flagge im Zentrum der strategisch bedeutsamen Ortschaft Otscheretine zeigte. Deep State Map konnte nachweisen, dass sich die russischen Soldaten erst am Rand des Dorfes befanden. Dieses fiel einige Tage später.

Pohorili weiss, dass der Kampf um die Ukraine ein Informationskrieg ist, in dem es wenig Raum für objektive Informationen zwischen Propaganda und Gegenpropaganda gibt. Im Gegensatz aber zu «Rybar», einem einflussreichen russischen Telegram-Kanal mit ähnlichem Profil, habe die Deep State Map nie bewusst Falschinformationen verbreitet. Die Armeeführung sei für seine Karte zwar eine wichtige Informationsquelle. «Aber sie haben uns nie Vorgaben gemacht oder versucht, unsere Arbeit zu steuern.» Das Geld komme ausschliesslich aus Spenden.

Pohorili und seine Kollegen kritisieren die Armeeführung nicht direkt, auch wenn in der Ukraine keine Zensur wie in Russland herrscht. «Das ist unser Staat, und wir müssen ihn unterstützen», sagt er. Auf dem Telegram-Kanal von Deep State Map werden die täglichen Ereignisse an der Front dennoch ungeschminkt kommentiert, was ein wichtiger Grund für die Glaubwürdigkeit von dessen Analysen ist.

Ein Beispiel dafür ist Russlands Einmarsch im Gebiet Charkiw am letzten Freitag. Das regionale Armeekommando behauptete bis am Abend, es sei kein Territorium verlorengegangen, später hiess es, man habe den Angriff gestoppt. Die Deep State Map stellte das umkämpfte Gebiet zunächst als graue Zone dar. Sobald belastbare Informationen von der Front vorlagen, schlug sie grenznahe Dörfer dem russisch besetzten Gebiet zu. Und obschon die zuständigen Militärbehörden festhielten, die graue Zone vergrössere sich nicht, dehnte sich diese bis Sonntagabend auf der Karte immer mehr aus.

Die Autoren der Deep State Map schaffen so eine Realität, die objektiv wirkt, die Kommentare dazu sind kurz und trocken. Offen widersprachen Pohorili und seine Kollegen dem Regionalkommando auch im Februar, als dieses nach dem Fall von Awdijiwka behauptete, die ukrainischen Truppen zögen sich hinter «vorbereitete Verteidigungslinien» westlich der Stadt zurück. In Tat und Wahrheit bestanden diese höchstens in Ansätzen – Russland rückt weiter vor. Den Fall von Otscheretine Ende April nannte die Deep State Map «die Öffnung der Büchse der Pandora».

Die Ukraine braucht neue Waffen

Für Roman Pohorili ist es legitim, Probleme anzusprechen. «Alle müssen verstehen, dass die Lage im Donbass sehr, sehr schwer ist, damit sie sich mehr bemühen und damit die Gesellschaft nicht nachlässt.» Dies gelte für schlechte Kommandanten ebenso wie für die Menschen, die weit weg von der Front nicht einfach ihr gewohntes Leben weiterführen könnten. «Wir brauchen viel mehr – von fast allem.»

Die neuen Waffen, die nun aus den USA kämen, motivierten die Soldaten, sagt Pohorili. Sie wüssten aber auch, dass eine schwere Zeit vor der Ukraine liege, dass die Verteidigung gegen die Russen eher noch schwieriger werde. Erfolgsmeldungen seien deshalb sehr wichtig für die Moral. Um diese auch innerhalb des Teams hochzuhalten, verstecken sich in der Karte einige Spielereien: So fliegt über dem Schwarzen Meer ein Vogel. Klickt man ihn an, erscheint aus dem Nichts Baby-Yoda, ein Jedi-Zauberer aus dem «Star Wars»-Universum. Mit einer Handbewegung lässt er alle russischen Einheiten in die Luft fliegen. Danach fordert die Site den Benutzer auf, für neue ukrainische Drohnen zu spenden.

Exit mobile version