Montag, September 30

Zwischen Bürohäusern und Bordellen – ein Abend mit den Helfern der Langstrasse.

I.
Der Wanderarbeiter und das Entrecôte

Ein Mann mit zerschlissenen Schuhen und staubigen Hosen starrt gebannt in eine Kiste voller Lebensmittel. Sein Blick schweift über einen Papayasalat und eine Packung getrocknete Mangos und bleibt dann an einem in weissem Plastik eingepackten Entrecôte hängen. Er zeigt darauf, die Helferin vor ihm reicht es ihm.

«Carne!», ruft er und hebt es an die Nase. Er lächelt. Das beste Stück dieses Abends, es gehört ihm.

Vor ihm lacht auch Schwester Ariane, 51, im blau-weissen Nonnenhabit. «Fleisch ist für die Leute hier das Grösste», sagt sie. Dann winkt sie ihn weiter dahin, wo der Mann – ein Wanderarbeiter aus Südamerika – erhält, was er sonst noch braucht: Früchte, Nudeln, Brot, Pepsi und eine warme Mahlzeit.

Hinter ihm warten die anderen: Grossmütter auf Hockern, Mütter mit Kinderwagen, Alte, Obdachlose, viele Geflüchtete. Neben ihnen ragen die Bürohäuser der Zürcher Europaallee hoch. Hier, hinter dem Schweizer Google-Hauptsitz und einem Residenz-Apartment-Haus namens Gustav, stehen jeden Tag einige hundert Menschen Schlange. Für Lebensmittel.

Organisiert wird die Essensabgabe vom Verein Incontro, geleitet von der Nonne Ariane Stocklin und dem Pfarrer Karl Wolf. Seit sieben Jahren gibt es die Gassenarbeit des Vereins im Zürcher Langstrassenquartier, seit der Pandemie die «Mensa unter freiem Himmel», die täglich stattfindet.

Das Essen stammt aus Restaurants, die Lebensmittel aus Bäckereien, die sie sonst vernichten würden, und von Grossverteilern, die sie sonst wegwürfen. Die allererste Box aber, die mit den Delikatessen, stammt an diesem heissen Freitag im Juli von Globus Delicatessa.

In ihr findet ein Süchtiger einen eingemachten Hummerschwanz, sucht eine Ukrainerin ein Rinderfiletsteak aus, beäugt eine italienische Rentnerin misstrauisch ein Behältnis mit gefüllten Aprikosen. Die Überreste des Zürcher Überflusses – sie landen hier in den Händen jener, die sonst nicht viel von ihm haben.

Der Pfarrer Karl Wolf begann in den 1970ern in Frankfurt mit der Gassenarbeit. Er hat nie damit aufgehört.

Während der Corona-Pandemie ist viel über Armut in Zürich gesprochen worden. Ihre Essensausgabe wurde zum Symbol dafür. Wie hat sich die Situation seither verändert?

Schwester Ariane: Armut und Not haben sich verschärft. Im Moment sehen wir sehr viele Wanderarbeiter aus dem Osten, aus Italien, Spanien und England, aber auch aus Nordafrika und Südamerika. Viele von ihnen haben keine Unterkunft und schlafen draussen. Sie suchen eine Stelle. Aber wie willst du eine Stelle finden ohne Adresse und Aufenthaltsbewilligung?

Karl Wolf: Es kommen viele Geflüchtete zu uns. Uns fallen die teilweise miserablen Bedingungen in den Asylunterkünften auf. Eine Frau, die sich an uns gewendet hat, lebt allein mit drei Männern in einer Wohnung. Die Männer trinken jeden Abend, werden aufdringlich. Die Frau hat Angst und kann nicht mehr schlafen.

Weshalb kommen so viele Wanderarbeiter hierher?

Ariane: Die wirtschaftliche Lage in ihrer Heimat. Sie haben dort keine ausreichende Lebensgrundlage und wandern aus. Hier heisst es dann: Für sie haben wir in Zürich keinen Platz. Sie können eine Nacht bleiben, dann bringen wir sie wieder an die Grenze.

Wolf: Viele kommen nicht nur aus materieller Not, sondern auch schwer traumatisiert zu uns, durch Kriege und Gewalt. Unsere Einstellung ist deshalb eine andere: Wir nehmen sie als Menschen an, ohne jede Bedingung. Alte und Junge, die mit dem Leben ringen und nach Perspektiven suchen – sie alle haben auch das Recht auf eine Existenz.

Gibt es auch solche, die es hier schaffen?

Ariane: Gerade ist ein 18-Jähriger zu uns gekommen, der eine Stelle als Tellerwäscher gefunden hat. Er ist daran, Bewilligungen und eine Wohnmöglichkeit zu suchen. Aber noch lebt er auf der Gasse.

Kommen auch Schweizerinnen und Schweizer?

Wolf: Ja, das sind Leute, denen der mangelnde Wohnraum, die steigenden Mieten, Krankenkassenprämien und Lebenskosten zu schaffen machen. Zum Beispiel eine Frau mit Long Covid, die keine IV bekommt. Oder eine alleinerziehende Mutter, die ihre Wohnung verloren hat und seit Monaten keine neue findet. Jetzt ist sie obdachlos.

In der Warteschlange Ihrer Essensausgabe stehen jeden Tag Hunderte. Den einen sieht man die Armut an, andere tragen Earpods und schöne neue Kleider. Brauchen wirklich alle Hilfe?

Ariane: Die Leute stehen hier stundenlang in der Hitze oder im strömenden Regen, beäugt von allen, für ein Paket, das einen Tag lang reicht. Das tut niemand, wenn er eine andere Wahl hat. Auch auf die Kleider sprechen uns viele an. Dabei ist die Erklärung simpel: Das meiste stammt von unseren Kleidersammlungen. Wir sind hier in Zürich – da landet auch Neues, zum Teil von angesagten Marken, bei den Altkleidern.


II.
Der Zuhälter und der Pfirsich

Der Zuhälter will auch einen Pfirsich haben. Er tritt zum Pfarrer, streckt fordernd die Hand aus. Doch Karl Wolf sagt freundlich: «Die sind nur für die Frauen.»

Die Frauen: Zu Dutzenden kommen sie, strömen aus den Bordellen, hier an der Langstrasse, im Herzen des Zürcher Rotlichtmilieus. Sie sprechen Französisch, Englisch, Spanisch, Rumänisch. Kommen aus Südamerika, Afrika, Osteuropa. Es gibt Frauen, die nur wenige Wochen in Zürich verbringen, bevor sie von ihren Zuhältern in die nächste Stadt geschickt werden. Andere machen ihre Arbeit eigenständig und leben seit Jahren in Zürich.

Alle kommen, so schnell sie können, wenn der Pfarrer und die Nonne mit ihrem Auto vor die Bordelle fahren. Neben einer Ladung Pfirsiche haben sie 150 Säcke mit Hygieneartikeln dabei – Hautpflege, Binden, Deodorants, Duschmittel.

Eine lange Schlange bildet sich neben dem Auto, bis auf dem Trottoir kein Durchkommen mehr ist.

Da tritt ein Mann aus einem der Milieulokale, schlendert lässig auf die Frauen zu. Mit einer Handbewegung will er sie zur Seite scheuchen. Er, lässt er sie wissen, muss jetzt hier durch. Die Frauen, die sich eben noch am Strassenrand präsentiert haben, für Männer wie ihn, sie schreien auf. «Go away!», rufen sie, «va-t-en!» Und dann: «Das hier ist für uns.»

Der Mann bleibt stehen, richtet sich auf, will die Hände heben und verliert dann angesichts der Übermacht den Mut. Er kehrt um und lässt den Frauen ihren Platz.

Die nehmen sich ihre Säcke und ihre Pfirsiche, dann kehren sie rasch zurück in ihre Zimmer. Hinter ihnen kommt ein Mann – muskulös, im schwarzen Reebok-Shirt – langsam immer näher. Er beobachtet ihr Tun genau.

Dann, nach weniger als zwanzig Minuten, sind alle Säcke weg. Die Frauen, die noch angerannt kommen, gehen leer aus; nur ein paar Pfirsiche sind noch übrig. Die Frauen wechseln ein paar Worte mit Schwester Ariane und Pfarrer Wolf. Dann – «bis zur Messe am Sonntag, wir sehen uns» – gehen sie wieder. Die Langstrasse sieht wieder aus wie zuvor.

Und der Zuhälter, der ganz am Anfang eine Frucht wollte, läuft lässig zu Schwester Ariane und Pfarrer Wolf, einen Pfirsich in der Hand. «Ich habe doch noch einen bekommen», sagt er. Und beisst hinein.

Arianne Stocklin ist in der Zürcher Altstadt aufgewachsen. Ihr Bruder war obdachlos, sie wurde Nonne – und hilft nun jenen, zu denen er einst gehörte.

Sie machen seit Jahren fast jede Woche eine Tour durch das Zürcher Milieu. Wie geht es den Frauen?

Ariane: Es hat sehr viele neue, sehr viele junge Frauen. Alle erzählen, dass das Geschäft nicht läuft und das Geld fehlt. Sie zeigen uns die hohen Rechnungen für ihre Zimmer, die sie nicht zahlen können. Viele nehmen Drogen, Medikamente und Alkohol, um diese Arbeit und das damit verbundene Trauma auszuhalten.

Von Strafverfolgern hören wir, dass die Zürcher Freier sehr fordernd sind, in ganz Europa zu den schlimmsten gehören.

Ariane: Das hören wir auch. Sex ohne Kondom, mehr Gewalt – und extrem tiefe Preise. Wer nur mit Kondom arbeitet, erhält viel weniger Geld, die Freier bleiben aus. Eine Frau hat uns erzählt, dass sie gerade einmal 600 Franken pro Monat einnimmt.

Wolf: Bei den jungen Frauen denke ich: Sind sie überhaupt volljährig? Aber oft sind sie, kaum an der Langstrasse, schon wieder weg.

Wie freiwillig ist die Sexarbeit, die hier betrieben wird?

Ariane: Wir sprechen nie von Sexarbeit. Das würde ja implizieren, dass das eine Arbeit ist, die ich wähle, in der ich mich entfalten kann, die mir guttut und die ich auch wieder kündigen kann. Aber diese Frauen wurden meist mit dem falschen Versprechen einer guten Arbeit im Gastgewerbe oder einem Hotel hierhergeholt. Sie landen dann aber in der Prostitution – in einer Situation, die sie nicht gewählt haben, die sie zerstört und aus der es wegen der vielen Abhängigkeiten kaum einen Ausweg gibt.

Machen Sie es sich da nicht ein bisschen einfach? Es gibt ja auch Frauen, die sagen, dass sie das freiwillig tun – ökonomisch eigenständig, als ganz normale Arbeit.

Ariane: Dass eine Frau so etwas wählt, hat immer mit ihrer Geschichte zu tun. Ist es wirklich eine freie Wahl? Ich kenne eine Frau aus dem Milieu, die das auch über sich sagt. Aber je länger ich sie kenne, desto mehr merke ich: Sie ist dermassen geschädigt von ihrer Biografie und ihrer «Arbeit». Um das auszuhalten, greift sie zu Drogen. Da ist nicht viel von Freiwilligkeit.

Wolf: Hier stellt sich die Frage: Was wird aus der unantastbaren Würde einer Frau, die den eigenen Körper, also sich selbst verkauft?

Da projizieren Sie jetzt aber eigene moralische Vorstellungen auf andere. Letztlich sagen Sie damit: Das darf eine Frau mit ihrem Körper nicht tun.

Wolf: Nein, ich rede nicht von Moral. Ich habe 1979 als katholischer Diakon im Frankfurter Rotlichtmilieu begonnen, die Kinder der betroffenen Frauen in der Grundschule zu unterrichten. Seit da beobachte ich die verheerenden Folgen, die diese Arbeit mit sich bringt. Ich denke an die Frau, die als Kind selbst Gewalt erlebte und nun ihre 11-jährige Tochter an Männer verleiht, während sie sich prostituiert. Ich denke an die schwangere 19-Jährige aus Osteuropa, die ihrem Clan, weil sie schwanger ist, besonders viel Geld einbringt und bis wenige Tage vor der Geburt auf der Langstrasse anschaffen muss. Ein moralinsaurer Blick ist weder hilfreich noch angebracht und er ist gewiss nicht meiner. Was da passiert, nenne ich wie viele Betroffene eine Entmenschlichung.

Ariane: Es geht darum, merken zu wollen, was die Prostitution bei den Frauen auslöst. Sie sind zum Teil so traumatisiert, dass sie gar keinen Zugang mehr zu dem haben, was sie tun und was ihnen angetan wird. Dieses Milieu ist verheerend für die Menschen. Das wird auch bewusst eingesetzt: Die Frauen werden Gewalt und Ausbeutung ausgesetzt – bis sie innerlich so gespalten sind, dass man frei über sie verfügen kann.

Sie sprechen sich für ein Modell aus, auf das die nordischen Länder im Umgang mit Prostitution setzen: Sex kaufen ist verboten, Freier werden bestraft. Dieses Modell ist allerdings äusserst umstritten. Kritiker sagen, damit werde nichts besser. Im Gegenteil: Ein Verbot würde die Prostituierten nur noch stärker in die Illegalität drängen. Wollen Sie das?

Ariane: Die Frage ist doch eine andere: Haben die Frauen überhaupt eine andere Wahl? Oder sind sie Gefangene eines Systems, in dem wir die Schultern zucken und sagen: Das hat’s immer gegeben, das brauchen halt diese Männer. Die Frauen an der Langstrasse fragen uns dauernd: «Hast du nicht eine andere Arbeit für uns?» Wenn man es ernst meint mit ihrer Wahlfreiheit, müsste man ihnen zuerst eine echte Alternative bieten. Dann würde man erkennen: Ohne Menschenhandel und Zuhälterei bleibt vom Milieu nicht mehr viel übrig.

Wolf: Wir stehen schlicht auf der Seite der Menschen – in einem System, in dem sie Opfer sind und fundamentaler Rechte und Perspektiven beraubt werden.


III.
Die Nonne und ihre Brüder

Wenn Schwester Ariane durch das Langstrassenquartier geht, spricht sie mit den Menschen wie eine Schwester zu ihrem Bruder. «Kommst du auch essen?», «Lange nicht gesehen, wie geht’s?», «Zum dritten Mal eine Lungenentzündung – das ist nicht gut».

Ariane ist 51 und Schwester in der Welt. Vor 23 Jahren gründete sie den Verein Incontro, seit da sind Menschen am Rand der Gesellschaft ihre Mission. Sie kennt sie mit Namen, auch dann, wenn sie sie nicht mehr kennen – wie ganz am Ende dieses Abends, als ein Süchtiger sie minutenlang anschreien wird, den Kopf Zentimeter vor ihrem, während seine Spucke fliegt.

Und sie ruhig mit ihm spricht, ihn beim Namen nennt, bis er wieder geht.

Fünf Stunden früher, bevor die Verteilaktion losgeht, trifft Ariane sich mit den Freiwilligen des Abends – einem pensionierten Lehrer, einer Atemtherapeutin, einer HR-Angestellten. Oder einer Ukrainerin, die früher selbst an dem Ort Essen holte, an dem sie es heute verteilt.

Während der Pandemie wurde die Schlange bei der Essensausgabe an der Europaallee zum Symbol für versteckte Armut, die plötzlich sichtbar wurde.

Mit Wägelchen, wie sie sonst Kitas für das Herumkarren der Kleinen brauchen, zieht der Trupp der Langstrasse entlang. Karrt von Hand Brot und Sandwiches, Nudeln und Schokoladentafeln bis an die Europaallee. Dort werden den ganzen Abend durch immer wieder Randständige aus dem Quartier kommen – Obdachlose und Süchtige mit glasigem Blick, die gehetzt Arianes Namen rufen.

Der Mann ohne Schuhe kennt sie. Auch die dünne Frau mit den Einstichstellen am ganzen Körper. Die alte Süchtige, die mit ihren Bändeln und Anhängern den ganzen Tag von Konsumstelle zu Konsumstelle wandert.

«Schwöschter, Schwöschter», rufen sie. Und Ariane lässt sie an der Schlange vorbei nach vorne.

Schwester Ariane, Sie sagten einmal, dass Sie auf der Gasse arbeiten würden, habe mit Ihrer Biografie zu tun. Sie wuchsen zu Platzspitzzeiten auf, als die Zürcher Innenstadt von der offenen Drogenszene dominiert war. Ihr Bruder landete selbst auf der Gasse.

Ariane: Immer wieder sagen mir Freiwillige, dass sie Angst haben vor der Begegnung und der Berührung mit Menschen auf der Gasse. Das habe ich nicht – weil ich damit aufgewachsen bin. Ich habe meinen sechs Jahre älteren Bruder als Bettler erlebt. Er kam damals zu mir, um mich um Lebensmitteln zu bitten. Und doch war er immer einfach mein Bruder. So erlebe ich heute auch die Menschen auf der Gasse, als meine Brüder und Schwestern.

Sie haben dank ihm die Distanz abgelegt, die andere zu Randständigen haben.

Ariane: Ich habe durch ihn schon als Kind einen natürlichen Zugang zu Leuten auf der Gasse gelernt. Die Beziehung zu meinem Bruder hat mir geholfen, sie nicht aus der Distanz und bloss oberflächlich zu betrachten. Dank ihm weiss ich, dass da immer eine Geschichte dahinter ist. Und dass es sich lohnt, sich mit ihr zu befassen.

Wie geht es Ihrem Bruder heute?

Ariane: Heute ist er weg von der Gasse, hat eine gute Familie. Wir sprechen oft zusammen über meine Arbeit. Er war da am Anfang sehr kritisch.

Warum?

Ariane: Als ich auf die Gasse ging, sagte er: «Du spinnst.» Er hatte schlechte Erfahrungen mit Hilfswerken gemacht, hat sie als aufdringlich und wenig zugänglich erlebt. Darum meinte er am Anfang: «Die werden sich von dir nicht helfen lassen.»

Spüren Sie bei Ihrer Arbeit auch Ablehnung?

Wolf: Klar. Manche fragen: «Was wollt ihr eigentlich von mir? Wollt ihr mich bekehren?» Auch Beschimpfungen und körperliche Angriffe hat es schon gegeben, oft aus Wut über etwas ganz anderes. Widerstand, Angst, Vertrauen, Misstrauen: Sie lassen uns spüren, was sie gerade erleben. Wir sind ihr Prellbock – die Symbolfigur für all das, was die Welt ihnen antut.

Sie sind beide religiöse Amtsträger, mit christlichen Symbolen unterwegs. Wollen Sie Ihre Klienten auch zum Glauben führen?

Ariane: Wir missionieren nicht, wir predigen auch nicht auf der Langstrasse. Unsere Mission ist eine andere: da zu sein für die Menschen – unabhängig von Religion und Weltanschauung.

Wolf: Einem anderen meine Wahrheit aufdrücken: Das wäre für mich ohnehin keine Mission, sondern Ideologie. Wenn schon bekehrt ein Mensch sich selbst, nicht ich ihn.

Und das kommt vor?

Wolf: Ja, schon. Für viele auf der Gasse ist der Glaube etwas ganz Selbstverständliches. Kürzlich war eine Frau bei uns im Gottesdienst und wurde dort von ihrem Zuhälter angerufen, immer wieder. Sie hat ihr Handy abgestellt, war aber extrem unter Stress, weinte. Am Schluss hat sie mich umarmt und gesagt: «Hilf mir bitte – bete für mich.» Das war für sie eine sehr ernste, existenzielle Bitte.

Wie ist das bei Ihnen: Würden Sie ohne den Glauben tun, was Sie tun?

Ariane: Nein, undenkbar. Gerade kürzlich hat uns jemand gefragt: Wie bringt ihr euer Handeln mit eurem Glauben zusammen? Und wir dachten: Hä?

. . . weil es für Sie dasselbe ist.

Ariane: Genau. Und das erlebe ich auch auf der Gasse: Bei diesen Leuten ist alles zusammengebrochen, sie haben keine Maske mehr, sie sind zuunterst angekommen. Dann hält man sich nicht mit Äusserlichkeiten auf. Man glaubt einfach – oder man tut es nicht.

Wie ist das, wenn Sie nicht helfen können?

Ariane: Dann sage ich mir: «Ich muss die Menschen nicht retten. Es reicht, wenn ich für sie da bin.» Die Not mit den Betroffenen auszuhalten, gibt Halt.

Ist das vielleicht der Grund, warum viele Leute helfen wollen, es aber nicht tun – weil sie die Ohnmacht nicht aushalten?

Wolf: Ich kann mir vorstellen, dass es in diese Richtung geht. Wenn die Leute mit den Bedürftigen auf Gasse in Berührung kommen, werden sie mit ihrer eigenen Bedürftigkeit konfrontiert. Sie merken, dass sie gar nicht so anders sind wie die, denen sie helfen. Dass sie wie die Menschen auf der Gasse verzweifelt etwas suchen, was ihnen fehlt.

Sie selbst verlieren nie die Hoffnung?

Ariane: Nein, dafür gibt es zu viele schöne Momente. Eine Amerikanerin kam kürzlich zu mir und sagte, sie habe noch nie eine Essensausgabe erlebt, bei der man ihr mit so viel Würde begegnet sei. Oder es gab da diesen jungen Mann, er ist schwer drogenabhängig. Er kam in unser Gassen-Café «Primero», ging in die Kapelle, hat Gitarre gespielt, seinen Schlagrahmkafi getrunken, ist noch zum Znacht geblieben. Dann hat er gesagt: «Hey, das ist so schön hier, wie zu Hause.» Und ist strahlend wieder gegangen.

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