Sonntag, März 16

Nachdem Ditaji Kambundji am Weltrekord gekratzt und den EM-Titel über 60 Meter Hürden gewonnen hat, startet sie nächste Woche an den Hallen-WM in China. Was ist dort möglich?

Mujinga Kambundji sagte einmal zu ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester Ditaji: «Du musst nicht auf den Ballon warten, du kannst die Rakete nehmen.» Sie spielte damit auf den Karriereverlauf der beiden Leichtathletinnen aus Bern an. Mujinga Kambundji brauchte für den Weg an die Weltspitze Geduld, erlebte Hochs und Tiefs.

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Mittlerweile hat die 32-jährige Sprinterin zehn Medaillen an WM und EM gewonnen – so viele wie niemand in der Geschichte der Schweizer Leichtathletik. In Tokio und Paris stand sie im Olympiafinal über 100 Meter.

Schneller verlief der Aufstieg der Hürdenläuferin Ditaji Kambundji, die schon vier EM-Podestplätze im Palmarès hat und auf ihrem Weg von den Erfahrungen der älteren Schwester profitierte. Es heisst schon länger, sie sei noch talentierter als Mujinga. Ein Indiz dafür ist das Bild, das Realität geworden ist: Ditaji Kambundji stürmte wie eine Rakete in die Weltspitze. Sie ist erst 22 Jahre alt.

Selbst Kambundjis Trainerin ist überrascht

Diese Rakete erreichte vor gut einer Woche eine neue, höhere Umlaufbahn. Für Schweizer Leichtathletinnen und Leichtathleten ist ein Europarekord eine Seltenheit – und eigentlich das höchste aller Gefühle. Diese Maxime galt bis zu den Hallen-EM vergangene Woche in den Niederlanden; sie galt, bis Kambundji kam.

Im EM-Final in Apeldoorn brauchte sie 7,67 Sekunden über 60 Meter Hürden, Europarekord. Sie verbesserte ihre alte Bestmarke um 13 Hundertstel, eine neue Dimension. Kambundji verpasste den Hallen-Weltrekord um nur zwei Hundertstel – einen Weltrekord, das hat niemand aus der Schweizer Leichtathletik auch nur annähernd erreicht. Selbst ihre Trainerin Claudine Müller war überrascht ob dieser Schnelligkeit, sie sagte dem «Blick», sie habe zwar um Kambundjis starke Form gewusst: «Aber so schnell? Das war auch für mich ein grosses ‹Wow›.»

Kambundji gewann an den EM die erste Goldmedaille bei der Elite. Sie war im Final schneller als ihr Trainingskollege Jason Joseph, der im Halbfinal bei den Männern gescheitert ist. Kambundji sagt: «Dass ich so nahe am Weltrekord war, hat mir die Augen geöffnet und gezeigt, was alles möglich ist.»

Früher waren die Beine schneller als der Kopf

Raketen sind rasante Geräte, voller unbändiger Energie. Attribute, die auch für Kambundji gelten. Doch Raketen explodieren manchmal unkontrolliert; bis das System zusammenpasst, braucht es viele Testflüge. Diese Erfahrung hat auch Kambundji gemacht.

Startet eine Hürdensprinterin wie Kambundji zu aggressiv und zu schnell, kommt sie zu nahe an die Hindernisse. Das bringt das System durcheinander. Chaos ist programmiert. Die Beine werden schneller als der Kopf. Oft kommt es zum Crash. Stürze sind Kambundji mehrfach unterlaufen, zum Beispiel an den Hallen-WM 2022 oder den U-20-WM 2021. Das kostete sie eine Medaille.

Diese Erlebnisse arbeitete sie einerseits mit einer Sportpsychologin auf, Kambundji lernte, ihre Energie zu bändigen. Andererseits habe sie an Wettkämpfen und im Training Erfahrungen und Sicherheit gewonnen. Und: «Ich finde mittlerweile in jedem Lauf etwas, das ich verbessern kann, ob er nun gut oder schlecht war. Bei der Selbstreflexion habe ich grosse Fortschritte gemacht», sagt Kambundji.

Cyréna Samba-Mayela runs 7.78 for 60m hurdles gold | World Indoor Championships Belgrade 22

Die Freude, die sie schon als Kind verspürte, ist geblieben

Mittlerweile schafft sie es, einen flüssigen Lauf zusammenzusetzen, bei dem Schnelligkeit und Technik perfekt ineinandergreifen. Kambundji sagt: «Ich habe gelernt, mit der Geschwindigkeit umzugehen, sie zu kanalisieren.» Wenn sie über das Hürdenlaufen spricht, ist die Faszination für die Verbindung von Tempo und Technik spürbar. Bis zum Schluss sei alles offen, nichts vorgezeichnet, selbst bei der letzten Hürde könne noch etwas passieren. «Es ist auch ein Risiko dabei, doch das finde ich spannend. Ich spiele gerne damit», sagt Kambundji. Aus der Test-Rakete ist ein Serienmodell geworden.

Kambundji sagt, sie fühle sich mittlerweile wohl an Wettkämpfen. Sie wisse genau, was sie brauche, damit sie in diesen mentalen Zustand komme; den sie als angespannt, aber doch locker beschreibt: «Ich hatte schon als Kind Freude an Wettkämpfen, und diese Freude ist immer noch da.» Kambundji hat gemerkt, dass sie vor wichtigen Rennen zwar nervös ist, diese Nervosität sie aber nicht lähmt.

Kambundji sagt, vor der Präsentation ihrer Maturaarbeit sei sie viel angespannter gewesen als vor einem EM-Final vor Tausenden von Zuschauern. «Ich habe im Training Vertrauen in meine Fähigkeiten aufgebaut.» Vor dem Start bricht sie die Aufgabe auf das Einfache herunter. «Ich sage mir, dass ich nur 60 Meter Hürden laufen muss und weiss, dass ich das schon tausend Mal gemacht habe und ich gut darin bin.»

Sie ist sich bewusst, dass es in ihrer Karriere bisher nur aufwärtsgegangen ist, bis auf die Stürze erlebte sie kaum Rückschläge – eine Rakete eben. Kambundji sagt: «Es ist nicht selbstverständlich, dass ich mich jedes Jahr verbessere, jedes Jahr eine persönliche Bestleistung laufe.» Den Gedanken, dass sie irgendwann stagnieren oder andere Probleme bekommen könnte, blendet sie aus. «Es bringt nichts, mir Sorgen zu machen. Ich ergreife lieber alle Massnahmen, damit ich weiter Fortschritte mache. Ich habe mittlerweile das Vertrauen, dass ich eine Lösung finde, wenn ich anstehe.»

Auch die Grossmutter hat an ihrem Lauf nichts auszusetzen

Um den Exploit von Apeldoorn zu verdauen, blieb wenig Zeit. Kambundji hat den EM-Titel mit der Familie gefeiert, die über 90 Jahre alte Grossmutter besucht und ihr die Goldmedaille gezeigt. «Sie war stolz auf mich und hatte am Lauf nichts auszusetzen. Solche Momente bedeuten mir viel, und sie helfen mir, diese Erlebnisse sacken zu lassen.»

Am kommenden Wochenende stehen bereits die Hallen-Weltmeisterschaften in Nanjing, China, an. Es geht Schlag auf Schlag. Kambundji stört das nicht. Sie sagt, sie habe nun Selbstvertrauen getankt: «Dass die WM so schnell kommen, ist für mich eine grosse Chance. Ich bin gespannt darauf, was ich zeigen werde.» Erreicht sie in China die nächste Stufe?

Kambundji weiss, dass sie um die Medaillen mitlaufen wird, vielleicht sogar um den Weltmeistertitel. Das hat ihr die Europameisterschaft aufgezeigt: «Ich gehe heute nicht mehr an einen Grossanlass, um einfach dabei zu sein, sondern mit dem Ziel, eine Medaille zu gewinnen.» Kambundji hat die Ansprüche hochgeschraubt. «Ich träume von einer WM-Medaille im Freien, davon, an der Weltspitze zu sein», sagt sie.

Insgeheim weiss sie, dass der Traum schon nahe an der Realität ist. Die Rakete ist längst noch nicht ausgebrannt.

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