Die berühmteste Weisswein-Neuzüchtung hat ihren Ursprung am linken Zürichseeufer. Die Urrebe von Müller-Thurgau, auch bekannt als Riesling-Sylvaner, wird bis heute kultiviert.
Als Hermann Müller-Thurgau 1892 seine Zuchttrauben in Wädenswil setzte, hatte er wohl nicht damit gerechnet, dass diese Traube einst die erfolgreichste Weisswein-Neuzüchtung der Welt wird. Ein einfacher, süffiger Wein, der später die Weinkeller von Zürich bis nach Neuseeland füllte. Er kreuzte zwei Traubensorten und nannte sie Riesling × Sylvaner.
Im Glauben, er habe die Sorte Riesling mit dem Erbgut der Sorte Sylvaner kombiniert. Ein Irrtum.
Bis heute stehen im Weinbauzentrum in Wädenswil direkte Nachkommen des Stocks 58 – der Urrebe von Müller-Thurgau. Neben dem rosafarbenen Winzerhäuschen mit Seesicht zwirbelt sich eine unscheinbare Rebe an einem fast schon morschen Stock hinauf.
Jacqueline Achermann hat die Geschichte der unscheinbaren Weintraube erforscht – anlässlich des 175. Geburtstags von Hermann Müller-Thurgau. Achermann ist selbst Winzerin. Das war sie nicht immer, nach Jahren in der Kommunikation liess sie sich im Weinbauzentrum Wädenswil zur Weinbäuerin ausbilden.
Doch wie wurde aus einer Rebe aus Wädenswil die weltweit erfolgreichste Weisswein-Neuzüchtung?
Das Geheimnis liegt in der Süffigkeit
Der 1850 in Tägerwilen geborene Hermann Müller stammte aus einer Bäcker- und Winzerfamilie. Später benannte er sich nach seinem Heimatkanton in Müller-Thurgau um. Er studierte am Polytechnikum in Zürich, der heutigen ETH, wo er mit dem Fachlehrer-Diplom für Naturwissenschaften abschloss. Er promovierte 1874 am Botanischen Institut der Universität Würzburg.
1876 erhielt er an einer renommierten Forschungsanstalt für Obst- und Weinbau im deutschen Geisenheim eine Anstellung. Dort tüftelte er an einer neuen Weissweinsorte. Seine Vision: eine Traubensorte, die viel abwirft, leicht zu kultivieren ist und einen tieferen Säuregehalt als Riesling hat.
1891 wurde ihm der Posten als Direktor der neugegründeten Deutschschweizer Versuchsstation und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil angeboten. Und so kehrte er zurück in die Schweiz. Im Gepäck: 150 Stecklinge seiner Rebenkreuzungen. Am Zürichsee pflanzt er die vielversprechendsten schliesslich ein.
Die Winzerin Achermann sagt: «Bei Kreuzungsversuchen ist es so, als hätte man hundert Kinder, und man schaut, welches am besten gedeiht. Nur sind es keine Kinder, sondern Stöcke.» Müller-Thurgaus «Lieblingskind» war der Stock 58.
Fünf Jahre lang vermehrte und erforschte Müller-Thurgau die Rebsorte des Stocks 58. Zunächst blieb die Sorte in der Schweiz. Das änderte sich 1913. Der bayrische Weinbauinspektor August Dern brachte nach einem Besuch in der Schweiz hundert Stecklinge nach Deutschland. Dern taufte sie auf den Namen Müller-Thurgau. Der Name hat sich in Deutschland bis heute durchgesetzt.
Der Erfolg kam erst später: 1925 wurden 400 Setzlinge von einem deutschen Winzer nach Deutschland geschmuggelt – und zogen die Aufmerksamkeit von Weinbauern auf sich. Laut Jacqueline Achermann sollten die Reben aus der Schweiz dem Weinbau am deutschen Ufer des Bodensees auf die Beine helfen.
Wer ist der Vater?
Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich Müller-Thurgaus Sorte rasant im gesamten deutschen Weinbaugebiet. Hermann Müller-Thurgau selbst erlebte den Erfolg seiner Weintraube jedoch nicht mehr. Er starb 1927.
Vor seinem Tod beschlichen ihn Zweifel. Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um eine Kreuzung von Riesling und Sylvaner handelt. Wie es ganz klein am Rand seiner Notizen vermerkt ist: «Die Kerne (. . .) nähern sich in Form und Grösse mehr den schlanken Samen von Sylvaner als den kurzen, gedrungenen des Rieslings. Sie sind eher noch etwas grösser und länger als die von Sylvaner. Ob vielleicht doch bei den Versuchen ein fremder Zellenkern sich eingefunden. Ist aber durch die Versuchsanordnung fast ausgeschlossen.»
Der Geschmack nach Muskateller und die Grösse der Beeren passten nicht zusammen. Nach Müller-Thurgaus Tod verdichteten sich die Hinweise darauf, dass etwas nicht stimmen kann. Doch erst 1999, als die Gentechnik es zuliess, konnte die Vatertraube ermittelt werden. Und es wurde klar, dass es sich um eine andere Traubensorte handelt: Madeleine Royale statt Sylvaner. Da die Sorte aber bereits als Riesling-Sylvaner bekannt war, einigte man sich, den Namen beizubehalten.
Denn Müller-Thurgaus Kreuzung entwickelte sich zu einem weltweiten Kassenschlager. Martin Wiederkehr leitet das Weinbauzentrum in Wädenswil. Wenn er von Riesling-Sylvaner spricht, nennt er die Traube eine «demokratische Sorte». Was er damit meint: eine Traube für alle, eine Traube, die mehrheitsfähig ist und nicht aussergewöhnlich sein will.
Das sei auch das Erfolgsrezept. Ein Erfolgsrezept, das es bis zur Kreuzung der beiden Sorten nicht gegeben habe. Laut Wiederkehr ist das Bouquet angenehm unkompliziert, blumig, spritzig , nicht zu schwer. Eine Weinsorte für die breite Menge.
In den 1960er bis 1980er Jahren sei die Quantität vor der Qualität gestanden, sagt Wiederkehr. So kam es, dass Riesling-Sylvaner in den 1970er Jahren in Deutschland sogar Riesling in der Anbaufläche überholte – 25 028 Hektaren Riesling-Sylvaner und nur 18 862 Hektaren Riesling. Zur besten Zeit gab es laut Wiederkehr weltweit 42 000 Hektaren, auf der Müller-Thurgaus Sorte angepflanzt wurde. Der Trend schwappte sogar bis nach Neuseeland über. Bis heute bauen dort Winzer die Sorte an.
Der Erfolg um Riesling-Sylvaner setzte sich bis in die 1990er Jahre fort, dann kam es zu einem Rückgang. Wiederkehr sagt, in den letzten Jahrzehnten sei wieder vermehrt die Qualität in den Fokus gerückt. «Wir konsumieren heute weniger Wein, dafür besseren.» Der Alkoholkonsum sei zurückgegangen, die Menschen setzten auf hochwertigere Produkte. Dennoch bleibt Müller-Thurgau mit einer Anbaufläche von 22 000 Hektaren die erfolgreichste Weisswein-Neuzucht, die von Hunderten von Winzern weltweit angepflanzt werden.
Ein Zürcher Kulturgut
Wiederkehr sagt, die wenigsten wüssten, dass der Urstock im Kanton Zürich gepflanzt worden sei. Deshalb sei es ihm wichtig gewesen, die noch bestehenden direkten Nachkommen des Urstocks 58 zu vermehren und die Geschichte aufzuarbeiten. Denn Müller-Thurgau sei mehr als nur eine beliebte Weinsorte, sie sei auch ein Kulturgut des Kantons Zürichs. Und ein Zeugnis dafür, was der Kanton für landwirtschaftliche Erfolge feiern konnte.
Am 1. Mai findet traditionell in der gesamten Deutschschweiz der Tag der offenen Weinkeller statt. Auch das Weinbauzentrum Wädenswil öffnet seine Türen und führt Touren durch ihren Rebberg. Dort, wo bis heute das wohl einzige Deutschschweizer Wein-Vermächtnis steht.