Samstag, Dezember 21

Die Notfallpsychologin Christina Gunsch sagt nach dem Angriff in Zürich, dass eine Vermeidungshaltung weder für Kinder noch Eltern aus psychologischer Sicht sinnvoll wäre.

Eine blutige Attacke auf Kinder sorgte diese Woche über Zürich hinaus für Entsetzen. Der Täter, ein 23-jähriger Chinese, griff mit einem Messer eine Gruppe Kinder an, die auf dem Weg vom Kindergarten in den nahe gelegenen Hort war. Drei fünfjährige Buben wurden verletzt, einer von ihnen schwer. Sie befinden sich ausser Lebensgefahr.

Der Täter wurde verhaftet und sitzt in Untersuchungshaft. Sein Motiv ist unklar, kurz vor der Tat setzte er einen wirren Post über sexuelle Phantasien und unerwiderte Liebe ab.

Christina Gunsch, Notfallpsychologin und Fachleiterin Psychotraumatologie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, erklärt, wie Kinder eine solche Wahnsinnstat seelisch verarbeiten.

Frau Gunsch, was geschieht mit einem Kind, wenn es einen gewaltsamen Angriff aus nächster Nähe erlebt?

So ein Vorfall kann das Grundvertrauen in die Menschheit erschüttern. Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene gut zu ihnen schauen. Schliesslich sind sie in einer schwächeren Position. Wenn Kinder einen Erwachsenen bei so einer Gewalttat beobachten, kann vieles infrage gestellt werden.

Was macht ein Care-Team, wenn es am Tatort gebraucht wird?

So ein Team ist in den ersten zwei bis drei Tagen damit beschäftigt, zu stabilisieren und zu normalisieren. Es ist eine Ausnahmesituation, alle sind mitgenommen oder erschüttert. Die Kinder sollten möglichst bald durch ihre primären Bezugspersonen betreut werden oder durch Verwandte oder Bekannte, die das Kind gut kennen und Ruhe ausstrahlen können. Um die Normalität wiederherzustellen, hilft es entscheidend, dass der Täter verhaftet worden ist. Ab dem Zeitpunkt können die Kinder und auch die Eltern wieder besser durchatmen.

Und wenn ein Kind nach dem Warum einer solchen Wahnsinnstat fragt?

Man muss die Kinder ernst nehmen, aber je nach Kind ist der Entwicklungsstand sehr unterschiedlich. Man sollte also nachfragen, was das Kind sich überhaupt selber vorstellen kann. Wenn das Kind etwa vermutet, dass der Täter psychisch krank war, kann man darauf eingehen und sagen: Das ist eine gute Idee. Genau dies werden die Polizei und die Ärzte nun herausfinden. Man muss die Fragen wahrheitsgetreu beantworten, aber nur kurz, ohne zu monologisieren und die ganze Welt erklären zu wollen. Wichtig ist auch, zu relativieren: Nur ganz wenige Leute sind so fest krank, dass sie auf andere losgehen.

Wie wichtig ist es, dass die Eltern sofort zu ihrem Kind können?

Prinzipiell sollten die Bezugspersonen möglichst schnell zu den Kindern gelassen werden. Die Kinder rufen nach ihrem Nest, nach ihrem sicheren Ort. Aber es gibt in solchen Ausnahmesituationen auch übergeordnete Interessen. Bei derart grossen «Kisten», um es in der Sprache der Polizei zu sagen, ist die Lage manchmal chaotisch. Da muss man aufpassen, dass nicht Fehlinformationen zirkulieren oder ein grosses Durcheinander entsteht. Etwa wenn Eltern fälschlicherweise erfahren, ihr Kind sei verletzt. Darum ist es wichtig, dass die Kinder in der allerersten Zeit von Profis betreut werden und, sobald die Lage gesichert und strukturiert ist, die Eltern mit ihren Kindern zusammengeführt werden können.

Es betraf einen für die Kinder wichtigen Ort: den Hort und den Weg zum Hort. Was verändert das?

Das Sicherheitsgefühl sollte möglichst schnell wiederhergestellt werden. Man muss mit dem Kind und den Eltern zusammen einordnen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas so Schlimmes passiert, sehr, sehr klein ist. Das Ziel ist, dass das Kind und auch das Umfeld realisieren, dass dieser Ort an dem spezifischen Tag gefährlich war. Aber dass er nun wieder sicher ist.

Die Kinder sind offenbar schon in den Hort zurückgekehrt.

Das ist der richtige Schritt, dass man gegen eine Vermeidungshaltung arbeitet. Es verhält sich wie bei Banküberfällen, wo das Personal auch möglichst schnell wieder an den Ort des Geschehens zurückgehen sollte. In der Anfangsphase ist eine Vermeidungshaltung logisch, so reagiert unser Hirn. Es möchte für Sicherheit sorgen. Aber nach spätestens vier bis sechs Wochen sollte diese Vermeidung weggehen, sonst wäre das ein Symptom für eine Traumatisierung. Darum wird den Eltern geraten, dem Kind zu helfen, den Hort nicht zu lange meiden zu wollen.

Und wie soll das gehen?

Man muss die Eltern ermuntern, dass sie Vermeidungsverhalten nicht unterstützen, sondern das Kind behutsam begleiten, den Hort wieder zu meistern. Erst zum Beispiel begleitet durch einen Elternteil, dann zunehmend wieder selbständig.

Und wenn die Kinder in den nächsten Tagen nicht in den Hort zurückkehren wollen?

Es wäre nachvollziehbar, aber aus psychologischer Sicht nicht sinnvoll. Man sollte jedoch unbedingt die Eltern und den Hort fragen, was das Kind brauche, um wieder in den Kindergarten oder die Schule zu kommen. Vielleicht sind das ungewöhnliche Massnahmen: etwa dass ein Elternteil oder andere Bezugspersonen in den Unterricht hineinsitzen dürfen, um dem Kind die nötige Sicherheit zu geben. Generell empfehlen wir Eltern, nach derlei Erlebnissen grosszügig zu sein mit Nähe zum Kind. Sie sollten so viel Sicherheit bieten wie möglich, aber nebenher die ganze Struktur wie Hobbys oder Ämtli erhalten. Das gibt Normalität, und die gibt Leitplanken. Das Gegenteil kann man teilweise bei Eltern sehen, die schwerkranke Kinder haben. Dort kann eine Schonhaltung dazu führen, dass Kinder erzieherisch ausser Rand und Band geraten.

Was kann so ein Ereignis kurzfristig auslösen?

Das Kind braucht mehr Nähe, schläft weniger gut oder nässt sich vielleicht ein, nachdem es schon eine Weile trocken war. Man geht davon aus, dass sich das nach vier Wochen wieder normalisiert. Wichtig ist auch, dass das Kind einen roten Faden durch das Ereignis spannt. Damit das Hirn dieses schlimme Erlebnis verarbeiten kann. Das macht unser Hirn meist intuitiv. Eltern sollen das Kind dabei beobachten, im Gespräch mit ihm sein und vielleicht fehlende Puzzlesteine liefern. Kindern, die nicht reden wollen, hilft es, eine Zeichnung zu machen. Manche zeigen ihre Belastung auch in traumatischen Spielen, die immer mit Mord und Totschlag enden und in denen es keinen guten Ausgang gibt. Dann kann man helfen, Lösungen zu finden. Etwa das Spiel damit beenden, dass die Polizei kommt und Verletzte versorgt werden.

Was für Folgestörungen können sich entwickeln?

Wenn die emotionale und kognitive Verarbeitung des Erlebten nicht gelingt und Symptome mehr als vier bis sechs Wochen anhalten, dann reden die Fachpersonen vom Vorliegen einer Traumafolgestörung. Dies kann sich in einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen. Die Kinder vermeiden Orte oder Gedanken ans Erlebte, sie berichten von Albträumen oder Bildern, die unkontrolliert auftauchen. Auch zeigen sie sich unkonzentriert, übererregt, sind in ständiger Fluchtbereitschaft. Es kann auch eine Angststörung auftreten als Folge der Traumatisierung.

Reagieren Kinder unterschiedlich auf solche Erlebnisse?

Auch hier sind die Eltern sehr entscheidend. Wenn diese auch erschüttert werden, ist das Ereignis für die Kinder noch gravierender. Ein Beispiel: Als ein Schulbus in den USA in den 1970er-Jahren gekidnappt wurde, stellte man im Nachhinein fest: Nicht jedes Kind trug eine posttraumatische Belastungsstörung davon. Je nachdem, ob die Kinder und deren Familien den Geiselnehmer ernst genommen und als gefährlich eingestuft hatten. Je mehr Todesangst Kinder hatten, desto grösser war die Wahrscheinlichkeit, eine Störung davonzutragen. Wenn Kinder und Eltern sehr belastet sind, müssen auch beide Unterstützung bekommen. Nur ein Kind zu therapieren, reicht nicht aus. Auch den Eltern muss entsprechende Unterstützung angeboten werden.

Wie widerstandsfähig sind Kinder?

Es kommt auf die Vorerfahrung an. Bei einem Kind mit Gewalterfahrung in der Vergangenheit kann so ein Ereignis viel tiefer gehen als bei einem Kind, das bisher sehr umsorgt hat gross werden können. Ein vorbelastetes Kind hat schon diverse Traumatisierungen erlebt, und nun kommt noch eine dazu. Diese Kumulation kann eine schwierige Rolle spielen. Grundsätzlich sind Kinder aber sehr resilient. Ein Kind mit einem guten Urvertrauen, mit einem guten Netz zu Hause hält einiges aus.

Wie erkläre ich so einen Vorfall meinen eigenen Kindern?

Der Fall Oerlikon wird in vielen Familien ein Thema sein. Man kann die eigenen Kinder ja kaum mehr vor Infos von aussen schützen. Darum gilt auch hier: Das Geschehene soll eingeordnet werden. Man muss betonen, dass unser Land sicher ist, dass es viele Polizisten gibt, welche für Sicherheit sorgen, und dass die Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz durch ein Messer verletzt zu werden, sehr klein ist.

Gibt es eine Erwachsenenwelt, die man Kindern besser verschweigt?

Fragen sollten wahrheitsgetreu beantwortet werden. Nehmen wir das Beispiel eines Suizids in der Familie. Eine Fünfjährige hat kein Konzept davon, dass man den Tod absichtlich herbeiführen kann. Leugnen und verschweigen ist aber nicht die Lösung. Besser sollte man sagen, dass die Grossmutter sich entschieden habe, sterben zu wollen. Das Kind wird in diesem Alter aber kaum nachfragen. Die Nachfragen werden später kommen, wenn das Kind begreifen kann, dass Menschen zu Suizid als letztem Ausweg greifen können. Entsprechend sollen Eltern und Bezugspersonen auf das Alter und die jeweilige Lebensphase des Kindes achten und Fragen nahe an der jeweiligen Erfahrungswelt des Kindes beantworten.

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