Freitag, Oktober 11

Das Massaker der Hamas traf Israel komplett unvorbereitet. Doch im Krieg gegen den Hizbullah zeigen die israelischen Nachrichtendienste ihr Können. Woran liegt das?

Israel fühlte sich sicher. Obwohl es am Vorabend des Hamas-Massakers genügend Hinweise auf einen bevorstehenden Angriff gab, wurde dieser nicht verhindert. Für Israels legendäre Geheimdienste – Mossad, Shin Bet und Aman – wird der 7. Oktober für immer eine Blamage bleiben.

Ein Jahr später hingegen scheinen die Nachrichtendienste wieder zur Hochform aufgelaufen zu sein. Die explodierenden Pager und Walkie-Talkies bei Hunderten Hizbullah-Mitgliedern schienen geradezu aus einem «James Bond»-Film zu kommen. Die Tötung des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah und grosser Teile der Führung der Schiitenmiliz wenige Tage darauf zementierte den Triumph. Woran liegt es, dass die israelischen Nachrichtendienste so versagten – und dann derart triumphierten?

Die Gründe für das Versagen am 7. Oktober

Die Hamas hatte die Angriffe des 7. Oktobers und das Massaker bereits Monate zuvor durchgespielt. Videos dieser Übungen verbreitete sie in den sozialen Netzwerken. Zudem hatten sogenannte Späherinnen in den Militärbasen nahe dem Gazastreifen schon Wochen vor dem Angriff vor verdächtigen Aktivitäten der Hamas gewarnt. Ihnen wurde nicht zugehört. Das war allerdings nur einer der Gründe, die zum nachrichtendienstlichen Desaster führten.

  • Selbstüberschätzung: «Der Grund für das Versagen ist einfach», sagt Yossi Melman im Gespräch: «Hybris.» Der Journalist beobachtet seit den achtziger Jahren die Arbeit der israelischen Nachrichtendienste. Israel habe sich zu sehr auf die vorherrschende Meinung verlassen, die Hamas sei primär daran interessiert, den Gazastreifen zu regieren. «Die Geheimdienste waren davon überzeugt, dass sie eine so gute Überwachung hätten, um einen Angriff im Voraus erkennen zu können.» Die Informationen seien in grosser Fülle vorhanden gewesen, sagt Melman. «Die Interpretation dieser Informationen war das Problem.»
  • Die politischen Richtlinien: Ein weiterer Grund war laut Melman, dass ein Grossangriff der Hamas nicht in das vorherrschende politische Konzept der Regierung Netanyahu passte. «Er verfolgte die Teile-und-herrsche-Taktik», sagt Melman. «Netanyahu schwächte die palästinensische Autonomiebehörde und stärkte die Hamas», sagt der Journalist. Indem die palästinensischen Gebiete gespalten blieben, konnte Israel die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern. Ein wichtiger Baustein dieser Strategie war die finanzielle Unterstützung der Hamas – da mit einer Terrororganisation nicht über Staatlichkeit verhandelt werden kann. Netanyahu benötigte dafür Ruhe in Gaza. «Diese Agenda leitete auch das Militär und die Sicherheitsdienste vor dem 7. Oktober.»
  • Interne Ablenkung: Im Jahr vor dem Krieg kümmerte sich die israelische Politik kaum um die Gefahren an ihren Grenzen, sondern war mit einer umstrittenen Justizreform beschäftigt, die Tausende auf die Strasse brachte. Schon damals warnten die Chefs des Sicherheitsapparats, dass das innere Chaos die israelischen Streitkräfte schwäche. Tausende Reservisten hatten damals aus Protest ihren Dienst verweigert. Inmitten dieser Unruhen schlug die Hamas zu.
  • Vertrauen in Hightech: «Die grundlegende Überzeugung im Mossad, im Shin Bet und im Militärgeheimdienst Aman war, dass die Sensoren und die technologische Überwachung uns einen überwältigenden Vorteil gegenüber der Hamas geben», sagt Michael Milshtein. Der Forscher an der Universität Tel Aviv leitete früher die Palästinenser-Abteilung des israelischen Militärgeheimdiensts. Seiner Ansicht nach habe dieses Vertrauen in Technologie die Israeli geblendet: «Am Schluss kam die Hamas mit Eseln und Toyotas und hat den Hightech-Zaun überwunden.» Doch das Problem liege noch tiefer: «Ein wichtiger Grund für das Versagen war, dass immer weniger Geheimdienstoffiziere in Israel Arabisch sprechen, die Kultur des Islam kennen und wirklich das Denken der anderen Seite nachvollziehen können.»

Die Gründe für die Erfolge im Krieg gegen den Hizbullah

Während die israelischen Nachrichtendienste vor dem 7. Oktober versagten, zeigen sie heute an der Nordgrenze ihr Können. In wenigen Wochen dezimierte die israelische Armee die Kommandostruktur des Hizbullah und fügt der libanesischen Schiitenmiliz weiterhin heftige Schläge zu. Das hat massgeblich zwei Gründe.

  • Unterschiedliche Prioritäten: Seit Jahrzehnten gibt es in Israel die Überzeugung, dass der von Iran unterstützte Hizbullah der Hauptfeind sei, die Gefahr durch militante Palästinenser im Vergleich allerdings vernachlässigt werden könne. Die Pager- und Walkie-Talkie-Explosionen sind der Beweis dafür: Eine solch komplexe nachrichtendienstliche Operation benötigt jahrelange Vorbereitungen und bindet immense finanzielle und menschliche Ressourcen. «Das zeigt, dass der Fokus der Geheimdienste nicht Gaza war, sondern der Hizbullah», sagt der frühere Geheimdienstmitarbeiter Milshtein.
  • Lehren aus der Geschichte: Die israelischen Dienste und das Militär haben die falschen Schlüsse aus der Vergangenheit gezogen. Die kurzen Gaza-Kriege der Vergangenheit, die Israel immer nur «Kampagnen» nannte, hatten den gewünschten Effekt: Nach einem kurzen Aufbäumen der Hamas herrschte jeweils wieder Ruhe. Der zweite Libanonkrieg 2006 hingegen wurde in Israel weitgehend als Niederlage angesehen. Laut israelischen Sicherheitsexperten wurden daraufhin vor allem die geheimdienstlichen Aktivitäten in Libanon intensiviert. In Gaza fühlte Israel sich hingegen auf der sicheren Seite – in der Vergangenheit hatte es ja auch funktioniert.

Welche Reformen hat es seitdem in Israel gegeben?

Noch ist nicht klar, welche Lehren Israel aus dem Versagen seiner Sicherheitsdienste am 7. Oktober gezogen hat. Die Sicherheitsdienste haben ihre eigenen internen Untersuchungen angekündigt. «Aber die sind nicht wirklich hart», sagt Yossi Melman. «Denn oft werden diese Untersuchungen von Freunden und Kollegen derjenigen durchgeführt, die untersucht werden sollen.»

Was Israel nun brauche, sei eine staatliche Untersuchungskommission, so wie nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973, bei dem Israel ebenfalls von seinen Feinden überrascht worden sei, sagt Melman. «Doch Netanyahu wehrt sich dagegen.» Denn dann würde auch sein eigenes Versagen ans Tageslicht kommen, sagt der Journalist.

Im September kündigte der Chef der Einheit 8200 der israelischen Verteidigungskräfte, Yossi Sariel, seinen Rücktritt an. Diese Militäreinheit kümmert sich um die militärische Aufklärung und war wohl massgeblich mitverantwortlich für die Katastrophe des 7. Oktobers. Weitere Rücktritte prominenter Führungsfiguren aus dem Sicherheitsapparat hat es bisher nicht gegeben. «Die meisten der Personen, die für das Versagen verantwortlich waren, befinden sich immer noch auf ihren Positionen», sagt Michael Mihlshtein.

Die Rücktritte seien wichtig, sagt der ehemalige Geheimdienstler. «Nur wenn die wichtigsten Verantwortlichen weg sind, können die Nachrichtendienste tiefe, strukturelle Reformen angehen», sagt Mihlshtein. «Leider gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie bald gehen werden.»

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