Mittwoch, Januar 15

Rote Listen und Monitoringprogramme: Die Schweiz überwacht den Zustand der Artenvielfalt so systematisch und flächendeckend wie kaum ein anderes Land. Hunderte Experten sind beteiligt – der Aufwand ist immens, ob im Feld oder bei der Auswertung.

Zwischen den sommerheissen Feldern liegt dunkel ein Teich. Am Ufer stehen Weidenbäume, und dann sind da die Seerosen, sie bedecken mindestens ein Drittel der Wasseroberfläche und blühen in Weiss und Rosa. Die beiden Botaniker, die zum Teich hinabgestiegen sind, werfen nur einen sehr kurzen Blick auf die Blüten und urteilen schnell: Hybride, keine Wildpflanzen, biologisch uninteressant. Auf dem Wasser treibt ein Film aus Algen, an einer Stelle ein blaugrüner Schleimklumpen: Blaualgen, hochgiftig. «Der Teich ist mehr oder weniger tot», sagt Adrian Möhl. «Zu viele Nährstoffe im Wasser. Das ist bessere Bschütti.» Bschütti, so nennen sie in Bern die Gülle.

Es wird viel über Biodiversität gesprochen und geschrieben und darüber, dass sie in der Krise sei, weltweit, aber auch in der Schweiz. Biodiversität, das ist ein Begriff, den man schnell einmal benutzt, aber dessen wirkliche Bedeutung kaum in Worten zu erfassen ist. Man könnte ihn übersetzen als «Vielfalt des Lebens», aber es ist auch: die Verknüpfung von allem mit allem. Die Biodiversität ist auch Grundlage allen menschlichen Lebens. Es ist klar, dass sie geschützt werden muss. Doch was man nicht beziffern kann, kann man schlecht bewahren.

Deshalb erhebt die Schweiz flächendeckend und systematisch Daten zur Artenvielfalt, mit verschiedenen Programmen, die sich gegenseitig ergänzen. Die einen fokussieren auf das Gesamtbild: Welche Arten leben in einem bestimmten Gebiet? Die anderen schauen auf das, was es nur an sehr wenigen Orten gibt: die gefährdeten Arten.

Und deshalb stapfen die Botaniker Adrian Möhl und Stefan Eggenberg von Info Flora, dem Artenregister der Pflanzen der Schweiz, zu dem Seerosenteich und vorher quer durch eine Wiese und suchen eine Distel.

Zu viel Stickstoff: Die gefährdete Art wächst hier nicht mehr

Stefan Eggenberg ist ein grosser Mann, aber das Gras in der Farbe reifen Weizens reicht auch ihm bis über die Hüfte. Von weitem wirkte die Fläche in der Nähe von Flaach im Kanton Zürich beinahe vertrocknet. Nun tauchen vor den Wanderschuhen lauter Pflanzen auf, die es gerne auch einmal feucht haben: Sumpfschachtelhalm, Gilbweiderich, Sibirische Schwertlilie und Gemeiner Froschlöffel.

Aber Eggenberg sucht etwas anderes, etwas Seltenes, eine Pflanze, die in den vergangenen Jahren an immer weniger Orten zu sehen war, und die deshalb auf der Roten Liste der gefährdeten Arten steht: Cirsium tuberosum, die Knollige Kratzdistel.

Anders als ihre Verwandte, die Acker-Kratzdistel, die als Unkraut gilt und bekämpft wird, braucht die Knollige Kratzdistel einen mageren, also nährstoffarmen Boden.

Hier aber, wo sie 1994 gesichtet wurde, wächst nun verwilderter Spargel vom Bauernhof auf der anderen Strassenseite und vor allem: «ein bisschen zu viel Schilf», wie Eggenberg bemerkt.

Die Distel, erklärt er, müsste an den höher gelegenen, trockeneren Hanglagen stehen. Er wird sie nicht finden. Die Population an dieser Stelle ist erloschen. «Wahrscheinlich liegt es am Stickstoffeintrag. Die Nährstoffe aus Dünger oder Gülle aus der Tierhaltung gelangen über die Luft auf diese Fläche», sagt er. «Das Schilf zeigt, dass es einen Nährstoffüberschuss gibt.»

Rote Listen schätzen das Aussterberisiko ein

Im Jahr 1966 gab die Internationale Union zur Bewahrung der Natur, kurz IUCN, das erste Mal «red data lists» mit vom Aussterben bedrohten Tieren und Pflanzen auf der ganzen Welt heraus.

Inzwischen gibt es in vielen Ländern der Erde regionale Rote Listen, die anders als die globale Liste direkten Einfluss auf die Naturschutzpolitik des jeweiligen Staates haben können. Sie schätzen auf Grundlage bestimmter Kriterien das Aussterberisiko der einzelnen Arten ein.

Der wichtigste Faktor dabei ist immer der Trend, also die Frage: Nimmt der Bestand ab? Besteht kein Risiko, bekommt die Art das Etikett «nicht gefährdet» (LC); bei beginnendem Risiko «potenziell gefährdet» (NT). Die Kategorien «gefährdet» (VU), «stark gefährdet» (EN) und «vom Aussterben bedroht» (CR) sind die, die gemeint sind, wenn man im alltäglichen Sprachgebrauch sagt, «die Art steht auf der Roten Liste».

Gefährdung hat mit der Häufigkeit des Vorkommens nicht unbedingt zu tun; es gibt in der Schweiz eine viel grössere Zahl an seltenen als an häufigen Arten, und vielen geht es immer noch gut: Eggenberg nennt als Beispiele bei den Pflanzen das Kopfige Läusekraut oder den Zwerg-Baldrian. Nur in sehr wenigen Fällen wird eine Art allein aufgrund ihrer Seltenheit als gefährdet eingestuft.

Die Vorkommen der gefährdeten Arten werden einzeln überprüft

In der Schweiz ist das Ziel, die Listen alle zehn Jahre neu zu erstellen. Was das heisst, zeigt sich an dem heissen Sommertag, an dem Stefan Eggenberg und Adrian Möhl in Flaach durch die Wiesen stiefeln.

Dass sie das an einem Arbeitstag machen, ist ungewöhnlich. Die Rote Liste der Gefässpflanzen der Schweiz – das sind alle Pflanzen ausser den Moosen und einigen Grünalgen – beruht vor allem auf den Anstrengungen von etwa 400 Ehrenamtlichen mit botanischen Kenntnissen. Jeden Tag gehen über die Info-Flora-App bis zu 10 000 Meldungen von Pflanzensichtungen ein, erstellt von Wanderern, Biologen oder Hobby-Botanikern, das GPS registriert die Position. Eggenberg und Möhl koordinieren bei Info Flora diese freiwillige Arbeit, machen sie aber in ihrer Freizeit auch selbst. Für die Revision der Roten Liste wird für jede Art geschaut, ob sich aus den Meldungen bereits ein Trend ablesen lässt.

Bei etwa 800 der insgesamt 2762 gelisteten Arten ist das nicht der Fall. Für sie wählen die Mitarbeiter von Info Flora 30 Fundmeldungen aus den vergangenen 30 Jahren zufällig aus. Dann gehen sie oder die Ehrenamtlichen an jeden dieser Orte und schauen nach, ob es die fragliche Art dort noch gibt. Möhl zieht dafür oft nach Feierabend noch los. «Die Arbeit hört nie auf», sagt er. «Mein Umfeld kennt das schon. Wenn ich für das Wochenende ein Ausflugsziel vorschlage, kommt sofort die Frage, welche Pflanze es denn dort zu suchen gibt.»

Weder die Armleuchteralge noch die Braunwurz sind auffindbar

An diesem Tag ist er «im siebten Himmel», wie er das ausdrückt, und er will zeigen, warum. Während Eggenberg die Kratzdistel auf der Wiese suchte, kümmerte Möhl sich um die Armleuchteralge, die wegen ihrer Wuchsform so genannt wird. Mit einem Stock zieht er nun ein grünes Büschel aus einem Tümpel und hält es in die Sonne. «Dieser Glanz! Wie Perlen! Und hier sieht man sogar die leuchtend orangen Fortpflanzungsorgane!» Der als «verletzlich» eingestuften Armleuchteralge Nitella opaca scheint es gut zu gehen.

Mission erfüllt – zumindest glauben die Botaniker das zu diesem Zeitpunkt noch. Nach ausführlicher Analyse der Probe, die Möhl mit ins Labor nimmt, stellt sich später heraus: Es ist wohl eine andere Art, Nitella syncarpa – eingestuft als «stark gefährdet». Er findet in der Nähe auch noch eine weitere Armleuchteralge, Chara vulgaris, doch keine Nitella opaca. Möhl glaubt trotzdem, dass sie noch da ist, nur sei sie eher früher im Jahr zu sehen. Er will im nächsten Frühling nochmals hinfahren und nachschauen.

Auch die dritte Pflanze, die sie an diesem Tag suchen, ist nicht aufzufinden. Vor sieben Jahren will eine ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Nähe des Tümpels eine Wasser-Braunwurz gesehen haben. Möhl wird nachforschen, ob sie weitere Informationen hat und wie sicher sie sich bei der Bestimmung war. Immerhin: Das Habitat existiert noch.

Möhl registriert die Braunwurz in der App deshalb als an diesem Ort «wahrscheinlich vorhanden». Er sagt aber auch: Er habe viele der registrierten Fundpunkte dieser Pflanze in der Westschweiz besucht; an den wenigsten habe er sie gefunden. In der Roten Liste von 2016 wurde sie als «stark gefährdet» (EN) eingestuft. «In der Schweiz gibt es von dieser Art vielleicht weniger als 50 Individuen», sagt er. Nach IUCN-Kriterien hiesse das: höchste Gefährdungsstufe, vom Aussterben bedroht.

Auf der Roten Liste wird die Gefährdung im Zweifelsfall geringer dargestellt

Die Rote Liste liefert eigentlich ein zu positives Bild, das betont Eggenberg. «Im Zweifelsfall vergeben wir eine bessere Einstufung, mildern den Grad der Gefährdung also ab», erklärt er. Vor allem aber: Damit eine Art nach IUCN-Kriterien in der Neuauflage der Roten Liste wieder als gefährdet eingestuft werden kann, muss ihr Vorkommen weiter abnehmen.

Der Abstecher von Möhl und Eggenberg zum toten Seerosenteich dient der Ergänzung der Daten zu den einzelnen Arten. An diesen zufällig ausgewählten Orten soll überprüft werden, ob verlorengegangene Arten wieder auftauchen, ob sich also auch positive Trends ergeben.

Die Rote Liste ist das eine extreme Ende der Monitoringprogramme, sie fokussiert auf die seltenen und gefährdeten Arten. Der ergänzende Gegenpol ist ein seit 2001 durchgeführtes Programm, das mehr auf das Gesamtbild abzielt: das Biodiversitätsmonitoring Schweiz, kurz BDM.

Das Biodiversitätsmonitoring Schweiz deckt zufällig gewählte Rasterpunkte ab

«Wenn jemand zwei bis drei Stunden unterwegs ist und nur 15 Schmetterlinge sieht, da kann es schon sein, dass der dann zu uns sagt: Kann ich nicht eine interessantere Fläche haben?», erzählt Matthias Plattner am Telefon. Plattner ist Biologe und Mitinhaber von Hintermann Weber, einem Unternehmen für ökologische Beratung. Es ist vom Bundesamt für Umwelt (Bafu) mit der Organisation und der Durchführung des BDM betraut.

Im Gegensatz zu einigen der Roten Listen und den meisten Monitoringprogrammen im Ausland sind es beim BDM keine Ehrenamtlichen, die die Daten erheben, sondern jahrelang geschulte Experten mit grosser Artenkenntnis, und sie bekommen Geld. «Das ist kein Ingenieursgehalt, aber sie werden angemessen entschädigt», sagt Plattner.

Für diese Entschädigung laufen die Tagfalter-Experten etwa 500 Flächen ab, die jeweils 1 Quadratkilometer gross sind. Sie sind nicht danach ausgewählt, ob sie interessant sind, sondern Teil eines zufällig über das Land gelegten Rasters. Diese grossen Quadrate dienen der Dokumentation der Artenvielfalt in Landschaften. Auch Gefässpflanzen und Brutvögel werden erfasst. Auf 1500 weiteren, kleineren Flächen von je 10 Quadratkilometern schauen sich Spezialisten die dort lebenden Gefässpflanzen, Moose und Schnecken an. Ausserdem werden etwa 500 Gewässer-Abschnitte auf die Vielfalt wirbelloser Tiere untersucht.

Bei alpinen BDM-Flächen kommt zuerst der Bergführer

Zusammen bedecken die Untersuchungseinheiten 1,2 Prozent der Schweiz. Jede Fläche wird alle fünf Jahre wieder untersucht, und das bedeutet: Sie wird mehrfach abgeschritten. «Bei den Tagfaltern geht man siebenmal im Jahr, nur bei Sonnenschein und einer Mindesttemperatur von 18 Grad», erklärt Plattner.

In den Bergen reichen 13 Grad, die Flächen werden nur viermal begangen, und niemand wird sich beklagen, dass die Arbeit nicht interessant genug sei: «Schon die Anreise kann beschwerlich sein, auch körperlich», sagt Plattner. Um das Monitoring auf solchen Flächen durchzuführen, müssten die Experten sich nicht nur mit Schmetterlingen auskennen, sondern auch alpinistisch ausgebildet sein, auch wenn die zu begehende Strecke vorab von einem Bergführer geprüft werde.

Bei der Begehung notieren die Experten alle Arten, die sie sehen. Kann eine Art nicht im Flug identifiziert werden, wird sie mit dem Netz gefangen und genauer angeschaut, notfalls auch getötet, um sie mitzunehmen und unter dem Mikroskop zu bestimmen.

Die Masse der Stichproben zeigt den Rückgang der Artenvielfalt

Ob Berge oder Ebene, jede Fläche für sich ist eine Stichprobe, die allein nicht viel aussagt. Erst in der Masse werden die Stichproben bedeutsam. Nur wenn eine Veränderung auf vielen Messflächen beobachtet wird, kann sie als allgemeingültige Erkenntnis formuliert werden. Auf einer Fläche im Wallis wurden 82 Tagfalter-Arten gezählt, ein Rekord, aber nicht normal. «In sehr guten Quadraten findet man 80, in schlechten, sehr ausgeräumten Landschaften 10», sagt Plattner.

Eine weitere allgemeingültige Erkenntnis ist die Homogenisierung von Artengemeinschaften: Auf vielen Flächen lebt heute eine grössere Zahl von Arten als vor zwanzig Jahren, auch bei den Tagfaltern. Doch es sind oft solche, die es auch anderswo gibt, Generalisten, die überall zurechtkommen. Die seltenen Spezies, die auf bestimmte Lebensräume spezialisiert sind, gehen verloren. Vor allem im Mittelland gibt es mittlerweile überall das gleiche Ensemble. «Einheitsbrei», sagt der Botaniker Möhl dazu, der das Phänomen auch bei Pflanzen beobachtet.

Insgesamt, sagt Eggenberg, sei die Biodiversität der Schweiz eine Patientin auf der Intensivstation. Und auch wenn sich der Zustand stabilisiert habe, sei sie immer noch auf der Intensivstation. «Aber die Heilungsaussichten sind gut und die Therapien bekannt. Ich bin überzeugt, dass wir früher oder später lernen werden, gemeinsam mit der Natur zu wirtschaften und nicht gegen die Natur.»

Die Ergebnisse der Biodiversitätsüberwachung sind wissenschaftlicher Konsens

Jede noch so systematische Methode hat ihre Grenzen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Programmen synthetisch zusammengebracht und ausgewertet werden: Seltene Arten fallen beim BDM wortwörtlich durchs Raster, um sie kümmern sich die Roten Listen. Für Biotope von nationaler Bedeutung, das heisst Moore, Auengebiete, Amphibienlaichgebiete sowie Trockenwiesen und -weiden, gibt es die Wirkungskontrolle Biotopschutz, und das Monitoringprogramm des Bundesamts für Landwirtschaft, ALL-EMA, quantifiziert die Biodiversität in der Agrarlandschaft.

Immer sind es Spezialisten, die die Daten erheben: «Wer eine Wiese floristisch aufnimmt, kann nicht gleichzeitig die Insekten bestimmen», sagt Claudio de Sassi, der beim Bafu für die Monitoringprogramme zuständig ist. «Wir erheben die besten Daten, die es gibt.»

Die Daten aus allen Programmen sind ebenso frei zugänglich wie die wissenschaftlichen Publikationen, die Roten Listen und die Syntheseberichte des Bafu. Ausgewertet werden sie zum Teil von einem ganzen Netzwerk von Experten, die sie prüfen und diskutieren. Das ist de Sassi wichtig: «Man kann die Resultate der Monitoringprogramme nicht mit Einzelmeinungen gleichsetzen. Die Ergebnisse sind breit abgestützter wissenschaftlicher Konsens.»

Im lichten Wald wachsen seltene Orchideen

Am Waldrand haben Eggenberg und Möhl mit ihrer Suche nach der Knolligen Kratzdistel und der Braunwurz die Aufmerksamkeit des Revierförsters erregt. Der steigt aus dem Geländewagen, um herauszufinden, was die Männer da tun, und fängt dann gleich an zu erzählen. Er hat hier auf einer kleinen Kantonsfläche einen Lebensraum wiederhergestellt, der früher, in der Zeit der extensiven Weidewirtschaft, in der Schweiz oft vorkam: den lichten Wald.

Auf der Wiese unter den Bäumen reckt sich nun Stendelwurz, eine lichtzeigende Orchidee, deren Samen offenbar im Boden geschlummert haben. Die Art ist geschützt, und die einzelnen Pflanzen auf der Fläche sind mit roten Plastikbändeln markiert. Vielleicht wird in ein paar Jahren jemand kommen und für die Rote Liste nachschauen, ob sie noch da ist.

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