Montag, November 18

Die EU-Institutionen verstehen sich immer weniger als Förderungsagenturen. Sie wollen lenken und kontrollieren.

«Und sie dreht sich doch.» Mit diesen Worten soll der berühmte Astronom Galileo Galilei 1633 auf seine Verurteilung durch die katholische Kirche reagiert haben.

Er sah nicht ein, warum er eine wissenschaftliche Erkenntnis widerrufen sollte, nur weil es einigen Kardinälen in Rom nicht gefiel. Für ihn war klar: Die Erde dreht sich um die Sonne, sie ist nicht das Zentrum des Universums.

Die Kirche mochte ihn zwar verurteilen, aber die Wahrheit würde sie nicht zum Verschwinden bringen können. Früher oder später würde er gewinnen, davon war Galilei überzeugt. Koste es, was es wolle.

Diese Geschichte ist eine der eindrücklichsten Gründungserzählungen der europäischen Wissenschaft. Wahrheit statt Macht, Wahrhaftigkeit statt Opportunismus.

Sie hat aber einen Schönheitsfehler.

Galilei hat diesen Satz gar nie gesagt, und der ganze Streit war vollkommen vermeidbar. Er ist nur ausgebrochen, weil Galilei in seine Heimatstadt Florenz zurückgekehrt war, die damals enge Beziehungen zum Vatikan unterhielt. Wäre er in der liberalen Universitätsstadt Padua geblieben, die von der Stadtrepublik Venedig aus regiert wurde, hätte er sein Buch ohne Schwierigkeiten publizieren können.

Venedig liess sich vom Papst nicht dreinreden. Und eine grosse intellektuelle Freiheit existierte erst recht in den protestantischen Gebieten nördlich der Alpen. Die «Discorsi», die Schrift, die Galilei nach der Verurteilung schrieb, wurden zuerst im niederländischen Leiden gedruckt.

Europa bot viele Freiräume

Gewiss, all diese historischen Präzisierungen mögen kleinlich wirken. Es geht ja bei den grossen Erzählungen hauptsächlich um eine moralische Botschaft an die Nachgeborenen. Bleibt standhaft, bleibt wahrhaftig!

Trotzdem ist es richtig, auf die tatsächlichen Umstände hinzuweisen, denn die wahre Geschichte enthält eine genauso wichtige Botschaft wie der berühmte Satz von Galilei.

Sie zeigt nämlich, dass Europa bereits im 17. Jahrhundert so viele Freiräume bot, dass der Aufstieg der modernen Naturwissenschaft nicht mehr aufzuhalten war. Galilei mochte in Florenz unter Hausarrest gestellt werden, aber an anderen Orten, insbesondere im liberalen England, blühte die Forschung wie nie zuvor. Europa war innovativ dank seiner Vielfalt und seinem Wettbewerb der Standorte.

Dies galt damals nicht nur für Theorien, sondern auch für Technologien. Ein Beispiel aus der Schweizer Wirtschaftsgeschichte ist illustrativ. So sprach zum Beispiel der Kaiser ein Verbot gegen einen neuen Seidenbandwebstuhl aus, weil er befürchtete, dass die höhere Produktionsleistung der neuen Maschine zu einer hohen Arbeitslosigkeit führen würde.

In der Stadt Basel, einem eidgenössischen Ort, wo solche Verbote keine Rechtsgültigkeit hatten, erblickten einige Kaufleute sofort eine Gelegenheit und importierten die neuen Maschinen, um die Seidenbandindustrie zu einer neuen Blüte zu bringen.

Der Plan gelang. Bis ins frühe 20. Jahrhundert bildete dieser Industriezweig die Grundlage der Basler Wirtschaft, bevor sie von der chemischen Industrie abgelöst wurde.

Basel wiederum wurde zu einem bevorzugten Standort für innovative französische Chemiker und Unternehmer, weil das französische Patentgesetz von 1844 das Produkt und nicht das Verfahren schützte. In der Schweiz existierte diese Einschränkung nicht.

Kein Mensch kann diese Fülle überblicken

Dieses Erfolgsrezept – Innovation dank Vielfalt und Wettbewerb der Standorte – funktionierte in Europa bis in die jüngste Zeit. Es diente auch als Inspiration für die Schaffung des EU-Binnenmarktes im späten 20. Jahrhundert.

Die Idee war, unnötige Schranken wegzuräumen, damit sich Unternehmen und Menschen mit guten Ideen besser entfalten konnten. Nach dem Fall der Mauer wehte in den 1990er Jahren ein liberaler und optimistischer Zeitgeist. Erst in jüngster Zeit ist er abhandengekommen. Die EU-Institutionen verstehen sich immer weniger als Förderungsagenturen. Sie wollen lenken und kontrollieren.

Allein im laufenden Jahr haben das EU-Parlament und der Rat der Europäischen Union – das Organ der Mitgliedsländer – nicht weniger als 64 Basisrechtsakte im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet. Dazu kommen 294 «andere Rechtsakte» (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse des Rats der Europäischen Union), die ebenfalls Gesetzescharakter haben.

Das ist aber noch längst nicht alles. Die Zahl der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter beträgt 583, und die «sonstigen Rechtsakte» zählen 441. Kein Mensch kann diese Fülle von neuen Regeln überblicken.

Es ist traurig anzusehen: Europa hat ein enormes wirtschaftliches Potenzial, aber scheint vergessen zu haben, wie es sich am besten entfalten kann. Vermutlich muss es noch schlimmer werden, bevor ein Ruck durch den Kontinent geht. Viel Zeit bleibt allerdings nicht mehr.

Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.

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