Ein viertes Gleis soll die Kapazität des Stadelhofens erhöhen. Zur Vorbereitung nutzen die SBB den alten Lettentunnel.
Hinter dem dritten Gleis des Bahnhofs Stadelhofen klafft seit letztem Herbst ein Loch in der Wand des Tunnels, der in Richtung Hauptbahnhof führt. Wer auf einen Zug wartet, kann beobachten, wie Bauarbeiter in leuchtoranger Arbeitskleidung hinter den Betonelementen verschwinden. Je nach Standort ist ein grosser gelber Tunnelbagger sichtbar.
Das Loch gibt den Blick frei auf die alten Stützmauern des Bahnhofs Stadelhofen und den ehemaligen Lettentunnel. Mit dem Bau der S-Bahn wurde dieser überflüssig und wurde zugebaut. Nur ein kleiner Stummel blieb übrig, da sich darin der Eingang in die Zivilschutzanlage Hohe Promenade befindet.
Heute wacht Barbara – die Schutzheilige der Tunnelbauer – in einem Glaskasten über dem Eingang. Denn der alte Lettentunnel ist Ausgangspunkt für den Erkundungsstollen, den die SBB derzeit in den Untergrund treiben. Es sind Vorarbeiten für den Ausbau des Bahnhofs.
Die Erweiterung ist bitter nötig. Der Stadelhofen ist einer der wichtigsten Knotenpunkte für den Bahnverkehr in der Stadt Zürich. Er ist aber auch ein Engpass. 80 000 Personen nutzen ihn Tag für Tag, 770 Züge fahren ein und aus. Mehr geht nicht.
Ein viertes Gleis soll die Kapazität um 50 Prozent erhöhen. Dieses wird in einem zweiten Riesbachtunnel Richtung Tiefenbrunnen führen. In Richtung Stettbach entsteht ein zweiter Zürichbergtunnel, zum Hauptbahnhof ein zusätzlicher Hirschengrabentunnel. Voraussichtlich 2037 soll es so weit sein. Die SBB rechnen mit Kosten von 1,1 Milliarden Franken.
Der Erkundungsstollen hat ein deutlich kleineres Preisschild. Der Projektleiter Christoph Jauslin spricht am Dienstag von einem tiefen einstelligen Millionenbetrag. Die SBB haben an diesem Tag zu einer Führung durch die Baustelle geladen, die heute zur Sondierung dient und langfristig als Notausgang für das vierte Stadelhofen-Gleis genutzt wird.
Immer wieder müssen Christoph Jauslin und Marc Weber-Lenkel, Gesamtprojektleiter des Ausbaus Stadelhofen, ihre Ausführungen unterbrechen, weil der Lärm von ein- und abfahrenden Zügen alles übertönt. Dass die Sondierungsarbeiten bei laufendem Bahnbetrieb stattfinden, ist eine Herausforderung. So kann beispielsweise das Ausbruchmaterial jeweils erst in der Nacht abtransportiert werden. Die Züge sorgen zudem laufend für Erschütterungen.
Der Projektleiter Christoph Jauslin sagt, der Stollen erfülle im Prinzip zwei Zwecke: Zum einen gewännen die SBB wichtige Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Untergrunds rund um den Stadelhofen. «Zum anderen können wir quasi eins zu eins ausprobieren, wie der Bahnhof wirtschaftlich und baulich effizient erweitert werden kann.»
Eine bautechnische Herausforderung
Die Geologie beim Stadelhofen sei bautechnisch herausfordernd, sagt Jauslin. «Wie festgestampfter Sand, zwischendurch der eine oder andere Findling.» Solches Moränengestein sei zwar leicht abzubauen, aber instabil. Fester Fels sei einfacher zu handhaben.
23 Meter weit haben sich die Tunnelbagger in das lockere Gestein vorgearbeitet. Das sind 2 Meter pro Woche. Weitere 20 Meter stehen noch bevor.
Vor jeder Grabungsetappe müssen Stahlrahmen verankert werden. Die Gewölbe müssen nach dem Ausbruch des Materials mehrfach stabilisiert werden: durch Stahlgitter und Spritzbeton. Zudem bohren die Arbeiter mehrere Löcher in die Decke, in die Stahlträger gestossen werden. «Beim richtigen Tunnel reichen Stahlträger allerdings nicht.» Stattdessen werde Zement in die Bohrlöcher gespritzt.
Die Form des Stollens erinnert an ein gotisches Kirchenfenster – ein Tunnel also, bei dem die Decke spitz zusammenläuft. Im Fachjargon spreche man von Paramentstollen, sagt Jauslin. Die Wahl dieser Form sei der Geologie geschuldet. Ein Tunnel in den Dimensionen des künftigen Perrons für das vierte Gleis lasse sich in so lockerem Gestein nur in Etappen bauen. Dafür würden zuerst zwei Paramentstollen nebeneinander erstellt und diese dann zu einer Tunnelröhre ausgebaut.
Zürichs Untergrund ist gut erforscht
Der Gesamtprojektleiter Marc Weber-Lenkel ist zufrieden mit den Erkenntnissen, die der Sondierungsstollen bisher geliefert hat. «Was wir antreffen, entspricht dem, was wir erwartet haben. Bisher leider kein Erdöl.» Der Untergrund der Stadt Zürich sei bereits sehr gut erforscht.
Mit dem Stollen lasse sich das Bauverfahren aber noch besser planen. Man erhalte quasi einen Querschnitt durch das Material, in dem dereinst der Tunnel erstellt werde. Eine aussergewöhnliche Ausgangslage, sagt Weber-Lenkel. Normalerweise basierten die Daten für ein Tunnelprojekt auf senkrechten Bohrproben. Solche haben die SBB zusätzlich zum Erkundungsstollen auf der ganzen Strecke vom Hirschengraben bis zum Tiefenbrunnen entnommen.
Beim Hirschengraben haben die SBB zusätzlich zum lockeren Gestein auch mit dem Grundwasserspiegel zu kämpfen. Weber-Lenkel sagt, bis in die 1980er Jahre habe man in solchen Fällen einfach den Grundwasserspiegel abgesenkt. Das gehe heute nicht mehr. «Wir haben uns für ein Verfahren entschieden, bei dem der Arbeitsbereich unter Überdruck gesetzt wird. Ähnlich wie bei einer Tauchkapsel.» So könne die Baustelle trocken gehalten werden, ohne dass permanent in das Grundwasser eingegriffen werden müsse.
Das Gebiet über dem geplanten Bahntunnel ist dicht besiedelt. Der Gesamtprojektleiter Weber-Lenkel sagt, die SBB seien deshalb in stetem Austausch mit den Betroffenen. Die Liegenschaften würden mit Sensoren überwacht, um allfällige Erschütterungen oder Lärmemissionen durch die Bauarbeiten einschätzen zu können.
Die gesammelten Daten fliessen in die Planung des Bauvorhabens ein. Die SBB sind im Zeitplan. Im Frühling sollen die Arbeiten am Erkundungsstollen abgeschlossen sein, danach beginnt das Bewilligungsverfahren.
Die SBB müssen bei der Erweiterung des Stadelhofens auch ein Projekt berücksichtigen, von dem noch nicht sicher ist, dass es überhaupt ausgeführt wird: Das Zürcher Stadtparlament liebäugelt nämlich mit einem Fussgängertunnel mit Rolltreppen und Förderbändern zwischen dem Stadelhofen und dem Kunsthaus. Marc Weber-Lenkel sagt, die SBB seien gewappnet für den Fall, dass die Stadt diese Verbindung bauen möchte. «Vor allem müssten wir dort, wo die Treppe beginnen würde, den Boden zusätzlich stabilisieren.» Konkret wäre das in der Ladenpassage, dort, wo sich heute ein Ochsner-Schuhgeschäft befindet.