Bilder Johanna-Maria Fritz / Ostkreuz
Johanna-Maria Fritz ist 31 Jahre alt und zählt bereits zu den renommiertesten Kriegsfotografinnen. Sie ist mit ihrer Kamera in Afghanistan, im Sudan und in der Ukraine unterwegs. Gespräch mit einer Getriebenen.
Johanna-Maria Fritz wohnt in Berlin, doch die meiste Zeit ist sie an den entlegensten und gefährlichsten Orten der Welt unterwegs. Die Massengräber in Butscha, die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, der Bürgerkrieg im Sudan. Die 31-Jährige war eine der Ersten, die diese Ereignisse mit ihrer Kamera dokumentiert haben. Ein Gespräch über Verantwortung, Angst und das Leben zwischen Krieg und Alltag.
Was treibt einen an, sich immer wieder in Lebensgefahr zu begeben? Und wann ist es Zeit, die Kamera einzupacken und zu fliehen?
Johanna-Maria Fritz, Sie haben kürzlich im Sudan im Spital der Hauptstadt Khartum fotografiert. Auf Ihren Fotos sieht man von Granatsplittern zerrissene Gesichter, tote Babys, erschöpfte Ärzte. Wie fühlt es sich für Sie an, solches Leid zu dokumentieren?
Im Sudan war ich drei Wochen mit einem Journalisten unterwegs. Die humanitäre Krise dort ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Fast alle Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sind gestorben. Auch ein fünfzig Tage altes Kind. Die Mutter ist siebzehn Jahre alt. Sie wurde von einem Kämpfer der Rebellen, der Rapid Support Forces (RSF), vergewaltigt und geschwängert. Ihr Wohnort stand lange unter deren Kontrolle, deshalb konnte sie nicht ins Spital. Das Kind wurde krank, und als die Mutter endlich ins Spital konnte, war es zu spät. Die Menschen in diesem Spital sind gestorben wie die Fliegen. Als ich abends meine Bilder sortiert und bearbeitet habe, sass ich zwischendurch nur da und heulte.
Johanna-Maria Fritz
Johanna-Maria Fritz, geboren 1994, studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin. Ihre Arbeiten wurden unter anderem im «Spiegel», in der «Zeit», in «Le Monde» und der NZZ veröffentlicht. Sie wurde mit dem Inge-Morath-Preis und dem Lotto-Brandenburg-Preis ausgezeichnet und erhielt ein VG-Bild-Kunst-Stipendium. Bis zum 25. Mai sind ihre Arbeiten in der Ausstellung «Zeit der Umbrüche: Johanna-Maria Fritz» im Willy-Brandt-Haus in Berlin zu sehen.
Viele Ihrer Bilder sind sehr intim. Gibt es Momente, in denen Sie zögern abzudrücken?
Im Sudan ist mir das passiert. An dem Tag, als die junge Frau ihr Kind verlor, konnte ich sie nicht fotografieren. Ich empfand es als unangebracht. Ich blieb bei ihr, aber ohne Kamera. Auch an eine Situation in der Ukraine kann ich mich gut erinnern. Das war vor zwei Jahren in der Region Bachmut, im Osten. Der Ort wurde massiv bombardiert. Der Bürgermeister sagte, dass eine Frau in einem Schutzkeller ein Kind gebären werde, und fragte, ob ich hingehen wolle. Die Frau willigte ein, ich durfte die Geburt fotografieren. Aber ich konnte einfach nicht. Ich fand es falsch, ich wollte ihr in diesem Moment nicht meine Kamera ins Gesicht halten.
Sie sind mit Ihrer Kamera in der ganzen Welt unterwegs, beobachten grosses Leid, riskieren Ihr Leben. Was treibt Sie an?
Ich habe ein grosses Interesse an der Welt, und meine Arbeit macht mir Spass. Ich lerne Menschen kennen, die ich ohne diesen Job nicht kennenlernen würde. Und ich lerne viel über das Leben. Ich versuche, keine Vorurteile zu haben, unbefangen auf Menschen zuzugehen. In den vergangenen Jahren habe ich aber auch gemerkt, dass ich eine grosse Verantwortung trage.
Inwiefern?
Ich dokumentiere Verbrechen und werde als Fotografin zur Zeugin. Ich erinnere mich immer an die Fotos aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, etwa jene der berühmten amerikanischen Kriegsfotografin Lee Miller. Ohne ihre Fotos aus den KZ Dachau und Buchenwald hätte man das Ausmass von Gewalt und Tod nicht verstanden.
Gibt es Reisen, auf denen Ihnen diese Verantwortung besonders bewusst wird?
Im Sudan. Zwar wissen viele, dass dort Krieg herrscht. Aber niemand hat das Ausmass begriffen. Das liegt auch daran, dass kaum andere internationale Journalisten vor Ort waren. Einerseits fehlt das Interesse, anderseits ist der Aufwand immens. Die Reise ist kompliziert und teuer. Es gehört auch Glück dazu, als Journalistin überhaupt eine Einreisegenehmigung zu bekommen. Möglicherweise gehören also meine Fotos aus dem Sudan zu den wenigen Bildern, die Leser zu sehen bekommen.
Wie sind Sie eigentlich Kriegsfotografin geworden?
Ich habe mit 17 Jahren angefangen zu fotografieren. Erst versuchte ich mich in der Modefotografie, aber das hat mich nicht interessiert. Dann begann ich, mich mit den Kriegsfotografinnen Lee Miller und Anja Niedringhaus auseinanderzusetzen. Ihre Arbeit hat mich sehr beeindruckt.
Wie ging es dann weiter?
Ich beschäftigte mich mit Dokumentarfotografie und begleitete für mein Abschlussprojekt an der Ostkreuzschule für Fotografie einen Zirkus in Island. Später kamen Zirkusprojekte im Westjordanland, in Afghanistan und Syrien dazu. Sonst liest man vor allem negative Schlagzeilen über diese Länder. Ich wollte auch die andere Seite zeigen. Dabei begann ich, mich generell mit dem Nahen Osten zu befassen.
2021 haben Sie in Afghanistan kurz nach der Machtergreifung der Taliban Porträts der Kämpfer gemacht. Wie kam es dazu?
Damals war ich für die NZZ im Gebiet Kandahar unterwegs. Zurück in Kabul, habe ich überlegt, wie ich diesen Moment der Machtübernahme in der Hauptstadt festhalten könnte. Jahrelang wurde über die Taliban geredet, man hat sich vor diesen Männern gefürchtet. Und nun waren sie in ganz Kabul unterwegs. Mein Dolmetscher und ich beschlossen, die Männer zu porträtieren. Wir kauften auf dem Markt einen Stoff als Leinwand, um sie davor zu fotografieren. Dann gingen wir in das Villenviertel, in dem früher die Regierungsmitglieder gewohnt hatten und wo sich nun die Taliban einquartiert hatten.
Und dann?
Wir fragten die Taliban, ob wir sie porträtieren dürften. Manchen merkte man an, dass es ihnen unangenehm war, mit mir als Frau zu sprechen. Manche waren aber auch sehr offen. Ich glaube, das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn ich Afghanin wäre. Und wahrscheinlich wäre es heute nicht mehr möglich. Damals herrschte eine Euphorie unter den Taliban, sie fühlten sich geschmeichelt, dass ich sie fotografieren wollte.
Sie haben in einem Interview gesagt, dass es noch immer ein «Macker-Ding» sei, über Krieg zu berichten. Wie ist es, als Frau in Kriegsgebieten zu arbeiten?
Es ändert sich etwas. Es gibt inzwischen mehr Frauen, die über Kriege berichten. Aber die Redaktionen könnten noch viel mehr jüngere Frauen losschicken. Vermutlich meinen immer noch viele, dass der Job für Frauen zu hart sei. Dabei gibt es auch Vorteile, eine Frau zu sein.
Welche?
An der ukrainischen Front hatte ich das Gefühl, dass Frauen die Situation auflockern und weicher machen können. Im Militär sind vor allem Männer. Sie freuen sich über jegliche Art von Abwechslung. Manche sagten, sie seien froh, dass auch Journalistinnen anwesend seien. Mir wurde auch von männlichen Kollegen gesagt, dass ich als kleine Frau schneller Zugang zu Menschen fände, dass ich die Stimmung entspannte.
Gibt es auch negative Reaktionen?
Ich werde oft unterschätzt. Ich arbeite regelmässig mit einer Kollegin zusammen. Oft wird uns etwa von Presseoffizieren gesagt, dass wir etwas nicht machen könnten, weil wir Frauen sind. Zum Beispiel einen Ort an der Front besuchen. Wenn wir aber sagen, wo wir schon überall waren, stimmen sie meist doch zu. Und dann gibt es natürlich auch Sexismus von männlichen Kollegen. Aber den gibt es auch in der Berliner U-Bahn.
Gibt es Facetten des Kriegsalltags, an die Sie sich nicht gewöhnen können?
Dass Gefahr auch dann droht, wenn alles ganz normal wirkt. Wenn ich mit der Armee an der Front unterwegs bin, weiss ich: Es drohen Artillerie-Einschläge, Drohnen, Minen. Aber schon zwanzig Kilometer von der Front entfernt wähne ich mich in Sicherheit. In Kramatorsk geht mir das zum Beispiel so, dort sind noch immer Cafés und Restaurants geöffnet. An solchen Orten vergesse ich die Gefahr. Obwohl ich natürlich weiss, dass auch dort jederzeit eine Rakete einschlagen könnte und auch schon eingeschlagen ist. Das russische Militär zielt auch auf Hotels. Mehrere, in denen ich bereits übernachtet habe, sind bombardiert worden.
Sind Sie ein risikofreudiger Mensch?
Ich war schon immer der neugierige Typ. Eine, die gern irgendwo hochklettert. Aber wenn das Risiko keinem grösseren Zweck dient, dann mache ich es nicht. Ich würde mich nicht unnötig in Gefahr begeben.
2014 wurde Ihre Kollegin, die Fotografin Anja Niedringhaus, in Afghanistan von einem Polizisten erschossen. Was macht das mit Ihnen?
Je länger ich den Job mache, desto vorsichtiger werde ich. Ich weiss inzwischen, wo ich mir sichere Informationen holen kann. Ich erkundige mich sehr breit, bevor ich losfahre. Ich habe eine Kontaktperson in Deutschland, die ich alle 24 Stunden kontaktiere, die immer weiss, was ich mache, und sich auskennt. Natürlich kann mir trotzdem etwas passieren.
Gab es einen Moment, in dem die Angst so gross war, dass Sie dachten: Jetzt ist Schluss, jetzt höre ich auf?
Angst ja, aber ans Aufhören habe ich deshalb nicht gedacht. In der Ukraine wurde es einmal sehr knapp. Als ich das letzte Mal an der Front war, sollte ich mit einem Auto abgeholt werden, um ins Quartier zurückzufahren. Es war Nacht, es lag Schnee, es waren minus achtzehn Grad. Ich bin zum vereinbarten Treffpunkt gelaufen, etwa vier Kilometer von der russischen Stellung entfernt. Ein ukrainischer Soldat lief hinter mir, einer vor mir. Wir warteten und warteten, aber es kam niemand.
Und dann?
Plötzlich war da eine Drohne. Wir wussten nicht, ob es eine russische oder eine ukrainische war. Also versteckten wir uns im Gebüsch. Der Scheinwerfer der Drohne ist die ganze Zeit um uns gekreist. Ich dachte: «Du Scheissdrohne, geh weg, geh weg, bitte geh weg.»
Ging sie weg?
Sie hat uns Gott sei Dank nicht entdeckt und ist weitergeflogen. Aber das Auto, auf das wir warteten, kam nicht. Irgendwann wurde uns über Funk gesagt, dass es einen Unfall hatte. Dann habe ich noch eine Nacht in der ukrainischen Stellung geschlafen, bis ich am nächsten Morgen abgeholt wurde.
Wie gehen Sie in einer solchen Gefahrensituation mit Ihrer Angst um?
Man darf keine Panik bekommen. Man darf sich auf keinen Fall von Angst beherrschen lassen und wegrennen. Man muss strukturiert denken, ruhig bleiben, immer schon den nächsten Schritt im Kopf haben. Sonst bringt man alle in Gefahr. In solchen Situationen merkt man schnell, ob man diesen Job machen kann oder eben nicht.
Man liest im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg immer öfter von Drohnen. Was bedeuten sie für die Arbeit von Journalisten?
Jedes Mal, wenn ich wieder in die Ukraine reise, gibt es wieder irgendwelche neuen absurden Erfindungen. Seit ein paar Monaten setzen sowohl die Russen als auch die Ukrainer Drohnen mit Glasfaserkabel ein. Man kann sie nicht verfolgen und auch ihr Signal nicht mehr stören. Sie können ungestört auf ihre Ziele zufliegen und angreifen. Mittlerweile gibt es Drohnen, die wenig Akku verbrauchen. Sie fliegen an einen Ort und gehen dort in den Schlummermodus. Wenn sie Bewegungen registrieren, aktivieren sie sich und greifen an.
Was bedeutet das für Sie?
Ich muss mir immer wieder neue Wege zurechtlegen. Was vor einem Jahr noch ging, geht jetzt nicht mehr. Ich kann wegen der Drohnen zum Beispiel nicht mehr zu Fuss an der Front unterwegs sein, so wie früher in Bachmut.
Kommt es vor, dass Sie Grenzen ziehen, einen Tag Pause einlegen oder einen Ort nicht besuchen?
Nein. Ich bin während eines Einsatzes im Arbeitsmodus und mache weiter. Wenn man einen Ort auslässt und nicht dabei ist, könnte man Wichtiges verpassen. Deswegen haben mein Kollege und ich im Sudan keine Pause gemacht. Aber wenn ich in der Ukraine bin, gehe ich ab und zu nach Kiew. Dort gibt es Cafés, Restaurants, ich treffe Freunde. Dort kann ich Abstand gewinnen.
Der heikle Zwischenfall mit der Drohne in der Ukraine war drei Wochen, bevor Sie in die Ferien nach Thailand gingen. Jetzt sitzen Sie in einem wunderschönen Haus und geniessen die Aussicht aufs Meer. Wie gehen Sie mit diesem Kontrast um?
Es ist kompliziert. Kürzlich war ich mit Freunden mit dem Kajak unterwegs – und ein Tourist flog eine Drohne, um Ferienbilder zu machen. Auf dieses Geräusch reagiere ich allergisch. Ich habe es als Gefahr abgespeichert. In den Ferien fällt es mir sonst meistens leicht abzuschalten.
Und zu Hause?
Wenn ich von einem Einsatz zurück nach Berlin komme, ist es schwerer. Ich bin erschöpft und brauche Zeit, bis ich wieder bereit bin, unter Menschen zu sein. Die Autofahrt von der Ukraine nach Berlin dauert zwei Tage, das hilft schon viel, um zu verarbeiten.
Wie geht Ihre Familie damit um, dass Sie sich solchen Gefahren aussetzen?
Für meine Mutter ist es sehr schwer. Sie war alleinerziehend, wir sind zu zweit. Mir ist wichtig, dass sie nicht unnötig in Panik versetzt wird. Wenn mir etwas passiert, wird zuerst meine Kontaktperson involviert. Meine Mutter wird erst informiert, wenn die Situation klar ist. Wenn sicher ist, dass es sich nicht um eine Lappalie handelt, ich etwa keinen Empfang habe, aber eigentlich in Sicherheit bin. Aber sie weiss immer ungefähr, wo ich bin. Und ich schaue, dass ich ihr ab und zu ein Zeichen gebe. Wenn ich unterwegs bin und keine Zeit zum Telefonieren habe, schicken wir Emojis hin und her.
Sprechen Sie mit Freunden über Ihre Einsätze?
Ich habe viele Menschen um mich, die Ähnliches erleben, die vieles verstehen, ohne dass ich es aussprechen muss. Aber ich habe natürlich auch Freunde, die nichts mit Journalismus zu tun haben und sich weniger mit dem Weltgeschehen beschäftigen. Ich habe Mühe, das zu verstehen.
Klären Sie Ihre Freunde manchmal auf?
Als ich in Butscha fotografierte, schrieben mir russische Freunde, die in Deutschland aufgewachsen sind. Sie fragten, ob die Menschen auf den Fotos echt seien. Ihre Eltern hatten ihnen gesagt, das seien alles Schauspieler. Dann ist es meine Aufgabe, zu sagen: Das ist russische Propaganda. Das sind echte Menschen, ich habe ihre Verwesung gerochen.
Als Fotografin, die ständig mit Bildern von Krieg und Krisen konfrontiert ist: Stumpft man irgendwann ab?
Abstumpfung ist das falsche Wort. Aber ich bin daran gewöhnt, harte Bilder zu sehen. Aber dadurch sind sie nicht weniger schlimm, sie treffen mich emotional trotzdem sehr. Mir sind Einzelschicksale wichtig, sie beschäftigen mich noch lange. Aber ich werde deswegen nicht zynisch, das ist nicht mein Naturell.
In all den Jahren: Was haben Sie über die Menschen und den Krieg gelernt?
Menschen gewöhnen sich schnell an Krieg, das ist gruselig. Ich habe das vor allem in der Ukraine oft erlebt. Sie sagen: «Ach ja, es ist ja noch nicht so schlimm, mein Haus ist ja noch nicht getroffen worden.» Die meisten wollen erst im letzten Moment gehen, dann ist aber oft eine Evakuierung viel schwieriger, und sie können nur das Allernötigste mitnehmen. Ausserdem gab es in der Ukraine vor allem am Anfang einen grossen Zusammenhalt. Man kümmerte sich umeinander. Manager einer Bank liessen sich zu Soldaten ausbilden, um ihre Heimat zu verteidigen. Andere kümmerten sich ehrenamtlich um alte Menschen und Verletzte. Menschen sind unglaublich anpassungsfähig.