Freitag, Oktober 18

Entwurzelung, Zwangsadoption und Kinderhandel: Adoptionen haben heute einen schlechten Ruf. Doch zwischen den 1940er und den nuller Jahren wurden Zehntausende Kinder adoptiert. Wie ist es ihnen ergangen?

Traumatisiert seien sie, Problemkinder mit Bindungsängsten und spätere Erwachsene, die unter Identitätskrisen litten. Mit solchen Vorurteilen sind Adoptivkinder von klein auf konfrontiert. Werden wirklich alle von dem Trauma des Verlassenwerdens eingeholt? Und kann die Adoptivfamilie genetische Verwandtschaft überhaupt ersetzen?

Wir haben zehn Personen gefragt, wie es sich anfühlt, adoptiert zu sein.

Corinne Villard, 47, kaufmännische Angestellte, Ulmiz

Seit drei Jahren weiss ich: Ich bin mein Leben lang angelogen worden.

«Gseesch, i ha ders doch gseit», sagte mein Bruder, als ich ungläubig den Brief von meinem Patenonkel las. Es war Anfang 2021, unsere Mutter war soeben gestorben, unser Vater war schon ein paar Jahre tot. Mein Bruder hegte schon länger den Verdacht, dass wir nicht die leiblichen Kinder unserer Eltern waren. Er hatte die alten Fotoalben durchstöbert und in keinem einzigen Album Bilder von unserer schwangeren Mutter gefunden. Für mich war dies ein schwaches Indiz, war sie doch eine sehr eitle Frau. Nun teilte unser Onkel uns per Brief mit: Wir wurden adoptiert – und wir waren noch nicht einmal Geschwister. Es fühlte sich an, als ob meine ganze Identität zu bröckeln beginnt.

Mein Bruder und ich hatten kein enges Verhältnis. Wir waren grundverschieden: Ich war eine Realistin, er ein Idealist. Auch die Beziehung zu meinen Eltern war schwierig. Meine Mutter hatte narzisstische Züge. Sie war selbstzentriert, bemitleidete sich oft, brauchte viel Aufmerksamkeit. Oft fühlte es sich an, als wäre sie auf mich und mein Leben eifersüchtig. Zuneigung und Nähe erlebten wir zu Hause kaum. Ich hatte häufig das Gefühl, keine Mutter zu haben. Aber ich habe nie gedacht, dass ich adoptiert sein könnte.

Der Brief unseres Onkels verschaffte mir eine Art der Erleichterung. Dann wurde ich wütend. Ich fühlte mich verraten von meinen Eltern, von ihren Verwandten und von den Bekannten, die alle eingeweiht waren. Und ich hatte keine Möglichkeit mehr, meine Eltern zur Rede zu stellen.

Ich brauchte eine Weile, bis ich psychisch in der Lage war, eine Nachforschung beim Kanton zu beantragen.

Meine schlimmste Befürchtung war, dass meine leibliche Mutter bereits tot sein könnte. Dem war nicht so. Ich erhielt von der kantonalen Behörde den Kontakt zu meiner Mutter. Wir beschlossen, uns zu treffen. Es war für mich weniger emotional, als ich mir das vorgestellt hatte. Alle diese Bilder, die ich aus dem Fernsehen kannte, wo sich Menschen schluchzend in die Arme fallen – sie trafen nicht zu. Wir umarmten uns. Ihr liefen Tränen über die Wangen, ich weinte nicht. Für mich war sie eine fremde Frau.

Meine Mutter und ich trafen uns über die nächsten Monate ein paarmal. Ich entdeckte Ähnlichkeiten: Wir beide waren realistisch und strukturiert. Wir verstanden uns auf Anhieb. Ich erfuhr, dass mein Vater Theo hiess, der «schöne Theo», wie meine Mutter ihn nannte. Er hatte Kinder und war bereits zum zweiten Mal verheiratet, als meine Mutter sich auf ihn einliess. Ihr sei es wichtig gewesen, dass ich in einer Familie aufwachsen dürfe. Also gab sie mich weg.

Zwei Jahre nachdem ich meine Mutter kennengelernt hatte, starb sie unerwartet. Wir hatten nicht lange Gelegenheit, die verlorene Zeit aufzuholen. Dafür habe ich nun eine Halbschwester, und wir pflegen einen guten Kontakt. Es fühlt sich noch nicht wie Familie an, aber wir sind dabei, uns besser kennenzulernen.

Nun wage ich den nächsten Schritt: Ich habe einen Nachforschungsauftrag für meinen Vater gemacht. Ich würde ihn und meine anderen Geschwister gerne noch kennenlernen. Es ist, als würde ich das Puzzle meiner Identität langsam wieder zusammensetzen: Der Kern, das bin ich selbst, ist heute klarer denn je. Und alles darum herum versuche ich nun zu ergänzen.

Sarah Jane Riek, 39, Schlagersängerin, Rothenfluh

Wäre ich nicht adoptiert worden, wäre ich wohl gestorben. Ich war sechs Monate alt, als ich von Indien in die Schweiz gebracht wurde. Es schneite an jenem Tag, ich trug einen Skidress. Ich hatte damals Fieberkrämpfe und Salmonellen. Bis heute bin ich jener Frau, die mich geboren hat, dankbar, dass sie mich nicht abgetrieben oder umgebracht, sondern zur Adoption freigegeben hat. Wer sie ist, weiss ich nicht. Es hat mich nie interessiert.

Viele Adoptierte stellen sich eine berührende Begegnung mit ihrer leiblichen Mutter vor. Ich glaube, das entspricht fast nie der Wirklichkeit. Vielleicht war meine Mutter selbst noch ein Kind, als sie mich geboren hat. Vielleicht war sie eine Prostituierte, oder sie wurde vergewaltigt. Ich will das Elend meiner Herkunft gar nicht wissen.

Meine Mami ist jene Frau, die mich adoptiert hat. Meine Herkunft hat sie nie verheimlicht. Schon als ich klein war, sagte sie mir: «Andere Kinder kamen aus dem Bauch, du kamst mit dem Flugzeug.» Auf meiner Taufkarte stand damals der Spruch: «Eines Kindes Heimat ist auf keiner Landkarte zu finden: nur in den Herzen der Menschen, die es lieben.» Ich habe nie an der Liebe meiner Eltern oder an meiner Zugehörigkeit gezweifelt.

Jedoch war es in der Schule im ländlichen Rothenfluh nicht immer leicht. Ich sah anders aus als die meisten Kinder und musste mir oft Sprüche anhören. Da konterte ich jeweils: «Meine Eltern haben mich gewollt. Deine Eltern mussten dich nehmen.» Meine Adoption hat mich auch schlagfertig gemacht.

Ich mag in Indien geboren sein, aber es hat mich nie gereizt, zurückzureisen. Indische Menschen sind für mich Fremde. Meine Freunde sagen, ich sei schweizerischer als viele Schweizer: Ich mag bodenständiges Essen, singe Volksmusik, und am liebsten bin ich zu Hause bei meinen Papillon-Hunden. Zu reisen und andere Kulturen kennenzulernen, sagt mir nicht viel. Als Sängerin besuche ich hin und wieder andere Länder, das reicht mir vollkommen.

Noch immer bin ich meiner Mutter sehr nahe. Sie lebt im Haus nebenan. Für mich war immer klar, dass ich auch selbst einmal Mutter werden will. Doch mein Ex-Mann und ich blieben kinderlos, zwei Schwangerschaften endeten in einer Fehlgeburt. Wir dachten auch über eine Adoption nach. Doch wir trennten uns, ehe der Prozess fortgeschritten war. Im Nachhinein bin ich froh, hat es damals nicht geklappt. Ich könnte mir zwar immer noch vorstellen zu adoptieren – aber das müssen beide wollen.

Klara Obermüller, 83, Journalistin, Autorin und Fernsehmoderatorin, Zürich

Meine Mutter erzählte mir meine Geschichte auf einem Waldspaziergang, als ich 9 Jahre alt war. Die Geschichte ging so: Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich sehnlichst ein Kind. Sie suchten ein Säuglingsheim in St. Gallen auf, wo in einem Zimmer ganz viele Bettchen standen. In einem dieser Bettchen lag ein Säugling, der sie schon von weitem anlächelte. Da wussten die beiden: Das ist es, das ist unser Kind.

Dieser Säugling war ich. Meine Eltern haben mich im Sommer 1940 zu sich genommen, da war ich drei Monate alt. Die Geschichte sollte mir das Gefühl geben, ein Wunschkind zu sein. Meine Mutter sagte zu mir: Du bist das Glück meines Lebens. Ich erinnere mich, dass mich diese Geschichte damals nicht sonderlich aufgewühlt hat. Im Gegenteil, sie klang aufregend, fast wie ein Märchen. Und ich war die Hauptfigur.

Für ein Kind von 9 Jahren war die Geschichte sicher passend. Aber als ich älter wurde, als die Fragen kamen und die Suche nach der eigenen Identität, der eigenen Herkunft begann, da hätte es einer anderen Geschichte bedurft. Doch diese kam nicht.

Ich bin sehr behütet aufgewachsen und habe mich in meinem Elternhaus stets sicher und geborgen gefühlt. Gleichzeitig wusste ich aber auch: Über meine wahre Herkunft durfte nicht gesprochen werden. Dadurch bekam ich den Eindruck, als sei die Wahrheit etwas, dessen man sich schämen muss. Unter dieser Heimlichtuerei habe ich in meiner Kindheit und Jugend am meisten gelitten. Sie vermittelte mir das Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte. Nicht zu wissen, wer ich eigentlich bin und woher ich komme, und auch nicht danach fragen zu dürfen, löste eine tiefe Verunsicherung in mir aus. Trage ich etwas Ungutes in mir, etwas Bedrohliches, was jederzeit hervorbrechen kann? Das machte mir Angst, Angst vor mir selbst.

Ich war etwa 17 Jahre alt, als ich eines Tages den Schreibtisch meines Vaters durchsuchte und dabei auf mein Adoptionsdossier stiess. In den Unterlagen stand, dass meine Mutter nach meiner Geburt in der Psychiatrie gelandet war und Jahre dort verbracht hatte. Sie sei schizophren, debil und nymphomanisch gewesen, hiess es, und von einem «Tunichtgut» schwanger geworden, der sie im Stich gelassen habe. Nach der Niederkunft hatte sie mich zur Adoption freigegeben. Wie freiwillig dies geschah, wurde nicht erwähnt.

Was ich da las, hat mich auf Jahre hinaus zutiefst verunsichert. Meine Angst, dass mit mir etwas nicht stimmte, schien bestätigt. Ich legte die Dokumente wieder genau so in die Schublade zurück, wie ich sie gefunden hatte. Doch mein Vater war ein überaus ordentlicher Mensch und merkte gleich, dass ich seinen Schreibtisch durchsucht hatte. Als ich mir die Dokumente ein weiteres Mal vornehmen wollte, waren sie verschwunden. Gesprochen haben wir darüber nie. Meine Herkunft blieb ein Tabu, an das ich nicht zu rühren wagte.

Es ist gut möglich, dass meinen Eltern von den Behörden geraten worden war, die Hintergründe meiner Herkunft vor mir zu verheimlichen. Im Gegensatz zu heute, wo jedermann ein Recht auf Kenntnis seiner biologischen Wurzeln hat, war man damals der Ansicht, es sei im Interesse des Kindes, möglichst wenig über seine Herkunft zu wissen. Die Praxis passte zum allgemeinen Klima der Zeit. Ich erinnere mich gut, wie über alles geschwiegen wurde, was sich in der Familie zutrug. Probleme wurden nicht nach aussen getragen, Krankheiten wie zum Beispiel Krebs nicht beim Namen genannt. Das geht keinen etwas an, bekam ich immer wieder zu hören. Dass das Gebot auch für mich und meine Herkunft galt, wusste ich und hielt mich daran.

Erst die 68er Bewegung hat dieses Schweigegebot aufgebrochen und so manche scheinbar eherne Gewissheit infrage gestellt. Entscheidend für mich war vor allem die veränderte Einstellung gegenüber Biologie und Vererbung. Auf einmal galt Vererbung nichts mehr und Milieu alles. Nicht was jemand in sich trug, war von Bedeutung, sondern was das gesellschaftliche Umfeld und vor allem die Erziehung aus ihm machten. Für mich waren diese neuen Ideen ungeheuer befreiend. Endlich konnte ich die quälenden Fragen nach belastenden Erbanlagen hinter mir lassen und mich an das halten, was ich selbst aus mir gemacht hatte. Auch wenn ich heute weiss, dass beides eine Rolle spielt, die Vererbung und das Milieu, hat mich dieses Gefühl der Befreiung nie mehr verlassen.

Meine biologische Mutter habe ich nie kennengelernt. Durch Zufall ist es mir Jahre später gelungen, Einsicht in ihre Krankenakte zu nehmen. Ein Psychiater hat mir geholfen, die krude Medizinersprache von damals zu deuten. Debilität sei sicher eine Fehldiagnose, sagte er. Schizophrenie sei denkbar – zum Beispiel ausgelöst durch die traumatischen Erfahrungen der Geburt und der Kindswegnahme. In dem Dossier lag auch eine Fotografie der Frau, die mich geboren hatte. Es war das Bild einer fremden Person, das mir nichts sagte.

Heute bin ich mit meiner Herkunft im Reinen. Geholfen hat mir dabei sicher auch das Schreiben. Ich habe mich auf eine Reise zu mir selbst begeben, habe darüber geschrieben und öffentlich darüber gesprochen. Auch das war eine Befreiung. Das Märchen, das mir meine Eltern im Alter von 9 Jahren erzählt haben, hat seine Bedeutung nicht verloren, aber es ist revidiert und ergänzt worden. Am Ende steht meine eigene Geschichte: das, was ich aus mir gemacht habe.

Kim Jae-Hyong Starzacher, 55, Gesundheitsökonom, Zürich

Bei mir ist fast jede Erinnerung an die Reise in die Schweiz ausgelöscht. Dabei war ich schon 5 Jahre alt, als ich aus Korea adoptiert wurde.

Alles, was mir geblieben ist, ist der Geruch von Kimchi. Von koreanischem Essen. Die Bilder meiner Erinnerung sind aber nebelhaft: wie ich mit meiner Familie am Boden auf Matten schlief oder wie ich mit meiner Grossmutter den ganzen Tag auf dem Markt verbrachte.

Ich frage mich natürlich, warum ich mich nicht erinnern kann. Grundsätzlich ist eine Adoption ein traumatisches Erlebnis, und bestimmt hat mein Unterbewusstsein viele Erinnerungen verdrängt, weil sie für mich zu schmerzhaft sind und weil sie mich in die Vergangenheit zurückwerfen könnten.

Als Ökonom begreife ich Adoption als System von Angebot und Nachfrage: Die hohe Nachfrage nach Babys schafft immer wieder neue Märkte. Eine Zeitlang war Sri Lanka aktuell, dann Äthiopien, irgendwann war es Haiti. Ärmste Herkunftsländer, immer sind finanzielle Interessen im Spiel. Im Westen sollte man inzwischen begriffen haben, dass dies Korruption und Kinderhandel begünstigt.

Ich bin Vater von vier Kindern. Dass ungewollt kinderlose Paare fast alles tun, um ihre Sehnsucht nach einem Kind zu stillen, kann ich verstehen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich am Schluss doch von einer Adoption abraten. Insbesondere Auslandsadoptionen sehe ich kritisch.

Meine Eltern mussten nicht einmal nach Korea fliegen, um mich zu adoptieren. Terre des Hommes hat den ganzen Adoptionsprozess mit den koreanischen Vermittlern organisiert. Sie konnten mich in Vevey in Empfang nehmen, wo mich Terre des Hommes noch einige Tage in Quarantäne behielt. Damals war Südkorea der bekannteste Markt für Adoptionen. Anfang der 1970er Jahre wurden mehrere Flugzeuge mit Kindern aus Seoul beladen und in die Schweiz gebracht. In drei bis vier Jahren wurden über 1000 Kinder aus Südkorea adoptiert.

Meine Schwester stammt ebenfalls aus Korea, auch sie ist adoptiert. Wir hatten eine sehr schöne Kindheit mit liebevollen Eltern. Der einzige Vorwurf, den ich ihnen heute machen würde, ist, dass sie uns aus Unwissenheit oder aus einer Angst heraus abgeschottet haben, was unsere wahre Herkunft betraf. Wenn Korea zur Sprache kam, wehrten sie unsere Fragen ab mit der Aussage, dass wir jetzt Schweizer seien und dass hier unsere Heimat sei und nirgendwo sonst.

Wir haben immer versucht, schweizerisch zu sein. Alle Eigenschaften und Tugenden dieser Kultur anzunehmen. Aber natürlich wurden wir immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass wir anders waren. Wenn wir uns ausserhalb unseres gewohnten Familien- oder Freundeskreises bewegten, wurden wir oft auf unser Aussehen angesprochen. Wenn mich jemand fragte, ob ich Chinese oder Japaner sei, oder wenn ich auf Englisch angesprochen wurde, schreckte mich das jedes Mal auf. Ja, es empörte mich auch etwas, ich dachte: Was? Hören die nicht, dass ich Schweizerdeutsch spreche? Ich bin doch Schweizer!

Heute ist das anders. Ich bin stolz auf die zwei Kulturen, die meine Identität ausmachen. Dass es so gekommen ist, hat mit meinen eigenen Kindern zu tun. Irgendwann begannen sie zu realisieren, dass sie und ich anders aussehen. Meine Kinder befragten mich über meine Herkunft, und ich musste schmerzhaft realisieren, dass ich so gut wie gar nichts darüber wusste. Ich konnte nicht mehr länger wegschauen und begann mich mit meiner Biografie auseinanderzusetzen. Nach Korea reiste ich 2010 das erste Mal, in Begleitung meiner Familie.

Meine erste Korea-Reise hat mich verändert. Die Menschen, denen wir dort begegneten, haben in mir ein Gefühl der Vertrautheit und Zugehörigkeit ausgelöst. Die Mentalität der Koreaner ist eine sehr emotionale, zugewandte. Sie gelten als die Südländer unter den Asiaten. Mir kam das alles sehr bekannt vor.

Terre des Hommes konnte mir trotz mehrmaligem Nachfragen nicht bei der Suche nach meinen leiblichen Eltern helfen. Da haben meine Frau und ich bei einer nächsten Korea-Reise auf eigene Faust recherchiert. Innerhalb von einer Woche haben wir die Frau gefunden, die gemäss meinen Papieren meine Mutter sein soll. Da habe ich erfahren, dass ich nicht Jae-Hyong Cho bin, wie der Name auf den Dokumenten lautete. Jae-Hyong Cho war ein Junge, der von seiner Familie zur Adoption freigegeben wurde, aber dann von seinem Grossvater in letzter Sekunde zurückgeholt wurde. Da er aber bereits zur Adoption in der Schweiz vermittelt wurde, musste ein Ersatz her. Dieser Ersatz war ich.

Der Schock über diese Enthüllung hielt sich für mich in Grenzen. Die Papiere, die ich von Terre des Hommes bekommen hatte, zeigten das Bild eines Jungen, der mir stets fremd vorkam. Weshalb ich mich nie in ihm erkannte, war nun geklärt. In Seoul durften wir dann im Archiv der Adoptionsstelle Tausende Akten durchschauen. Nebst dem Geschlecht und dem ungefähren Alter haben wir uns vor allem auf die Fotos fokussiert. Am dritten Tag hielt ich ein Dossier in der Hand, bei dem ich aufgrund des Fotos sofort wusste, dass es meins sein könnte. Mein Name ist laut diesem Dossier Hyun-Shik Kim.

Zahlreiche Informationen in dem dünnen Dossier stellten sich als gefälscht heraus. Ich kann also nicht hundertprozentig sagen, dass das beschriebene Kind wirklich ich bin. Falsche Angaben waren in diesen Dossiers keine Seltenheit. Die Kinder wurden manchmal von irgendjemandem aus der Familie abgegeben, die Mütter waren oft nicht einmal informiert darüber, was mit ihren Kindern geschah.

Viel mehr habe ich seither nicht erfahren. Trotz intensiver Recherche. Ziemlich sicher weiss ich, dass noch ein jüngerer Halbbruder irgendwo existieren muss. Als ich in die Schweiz kam, hatte ich Mühe damit, dass ich plötzlich der Jüngere war – denn meine Schwester war älter als ich. Offenbar habe ich sehr trotzig auf diese Tatsache reagiert, dass ich auf einmal der Kleine war.

Heute bin ich Präsident von Dongari, einem Verein, der in den 1990ern von einem koreanischen Pastor gegründet wurde, um den aus Korea Adoptierten ein Forum zu geben, sich auszutauschen. Damals kam es zu einigen sehr tragischen Fällen von Selbsttötungen unter koreanischen Adoptierten. Der Pastor reiste damals in die Schweiz, um sich für die Aufklärung der schweizerisch-koreanischen Adoptionsgeschichten einzusetzen.

Mein Trauma habe ich, so gut es ging, aufgearbeitet. Unter anderem nahm ich an einer Familienaufstellung teil. Es handelt sich um eine Art der Gruppentherapie, in der andere Teilnehmer stellvertretend Personen verkörpern. Da bin ich dem Jungen von damals begegnet. Ich habe den koreanischen Kim, der über 40 Jahre nicht existieren durfte, umarmt. Er ist jetzt ein Teil von mir.

Caroline Schreyer, 55, Lehrerin und sechsfache Mutter,
Arbin (F)

Meine Eltern hatten uns nie gesagt, dass wir adoptiert waren. Aber ich wusste es. Nicht wegen meines Aussehens, so etwas fühlt man einfach. Als ich 12 Jahre alt war, habe ich mich vor meine Mutter gestellt und gefragt: «Ich bin adoptiert, gell?» Sie wurde wütend und stritt es ab. Ich blieb hartnäckig, habe so lange nachgefragt, bis sie zischte: «Sag ja deinem Bruder nichts!» Das war alles.

Ein oder zwei Jahre später, als mein Bruder und ich einmal alleine zu Hause waren, fanden wir den Schlüssel zum Kassenschrank und darin die Adoptionsunterlagen. Wir haben sie angeschaut und dann zurückgelegt. Wir haben mit den Eltern nie darüber gesprochen.

Wir wurden oft geschlagen. Vor allem mein Bruder, der wahrscheinlich ein ADHS-Kind war und oft Mist baute. Er wurde mit der Gürtelschnalle, dem Teppichklopfer oder dem Holzbrett geschlagen. Oft unten im Keller. Die Nachbarn haben das mitbekommen, aber nichts getan.

Ich war ein sehr angepasstes Kind, wurde aber auch regelmässig bestraft. Etwa wenn ich schlechte Noten hatte. Dann wurde ich das ganze Wochenende über in meinem Zimmer eingesperrt. Deshalb habe ich bis heute ein Problem mit geschlossenen Türen, bei mir stehen die Türen immer offen, und es stecken keine Schlüssel im Schloss.

Mein Vater war Polizist und oft abwesend. Meine Mutter hatte das Sagen. Sie war auch zu ihm böse, sie hat ihn unter dem Tisch gekniffen und getreten, wenn ihr etwas nicht passte.

Mit 18 Jahren bin ich von zu Hause weg und bin mit meinem Mann zusammengezogen. Als ich 20 war, haben wir geheiratet. Wir haben fünf leibliche Kinder, die mittlerweile erwachsen sind, und eine 11-jährige Adoptivtochter. Unsere Jüngste besucht die Sonderschule und wird nie selbständig leben können. Das sind die Überraschungen, die es bei Adoptivkindern geben kann. Man weiss nicht, was das Kind alles mitbringt. Und es gibt keine Stelle, die einem fachlich hilft, wenn Probleme auftreten. Adoptiveltern müssten meiner Meinung nach viel mehr unterstützt und geschult werden.

Wir hatten über die Jahre auch Pflegekinder. Es war mir ein Anliegen, Kindern, die es schwierig haben, zu helfen. Ich bin Lehrerin und arbeite momentan halbtags als Assistentin für Kinder mit besonderen Bedürfnissen in einer Schule in Basel. Da kann ich meine Erfahrungen nutzen.

Ich habe mit meinen Kindern alles anders gemacht als meine Mutter. Wir haben unsere Jüngste nie angelogen, wir haben immer offen über die Adoption gesprochen. Und wenn sie einmal ihre leiblichen Eltern finden will, werden wir sie dabei unterstützen. Meine Eltern hatten grosse Mühe damit, dass ich meine leibliche Mutter getroffen habe. Sie haben sogar gedroht, mich deswegen zu enterben.

Ich war damals 31-jährig, unser drittes Kind war gerade geboren. Erst zu diesem Zeitpunkt war ich dazu bereit, weil ich Boden unter den Füssen hatte und wusste, wo ich hingehörte. Ich war auch neugierig und dachte, es könnte eine Bereicherung sein.

Die Vermittlungsstelle half mir, meine Mutter zu finden. Am 8. Dezember 2000 habe ich sie angerufen. Ich erinnere mich noch genau daran. Ich war aufgeregt und sagte niemandem etwas, nicht einmal meinem Mann. Es war dann überhaupt nicht komisch, ich hatte das Gefühl, als würde ich sie seit ewig kennen. Wir haben uns gleich verabredet, im Migros-Restaurant in Spreitenbach. Sie wohnte im Kanton Aargau, ich in Winterthur. Ich sagte ihr, dass ich einen blauen Pullover tragen würde und den Kinderwagen bei mir hätte. Für den Fall, dass wir uns nicht erkennen würden. Aber ich wusste sofort, wer sie war. Ich kann nicht erklären, wieso, es war einfach klar.

Sie hat mir nie erzählt, warum sie mich zur Adoption freigegeben hatte. Das war für mich auch nicht wichtig. Es hätte ja nichts geändert. Es war, wie es war, ich bin nicht nachtragend. Wenn ich aber im Rückblick über ihr Leben nachdenke, kann ich es schon nachvollziehen. Sie war nicht gut darin, Verantwortung zu übernehmen.

Im letzten November ist meine leibliche Mutter gestorben. Die Beziehung zu ihr war nicht ganz so einfach. Ich habe aber nie bereut, sie gesucht zu haben. Es ist wichtig, zu wissen, woher man kommt. Und ich habe dadurch auch meine Halbschwester gefunden. Wir haben bis heute engen Kontakt, sehen uns jede Woche.

Meine Schwester und ich gleichen uns extrem und sind auch sehr ähnlich. Wir sind beide Perfektionistinnen. Wir erziehen unsere Kinder gleich, wir lachen über die gleichen Dinge, wir lieben dieselben Filme. Aus meiner Sicht beeinflussen die Gene die Persönlichkeit mehr als das Umfeld und die Erziehung. Und egal, wie schwierig die eigene Kindheit war, ich bin überzeugt, dass man sein Leben in der Hand hat und das Beste daraus machen kann.

Lisa Wüthrich, 26, Sozialpädagogik-Studentin, Zürich

Ich wusste immer, dass ich adoptiert worden bin. Im Alter von 2 Jahren, aus Rumänien, von einer Roma-Familie. Ich hatte ein Bauchmami und ein Mami, das mich aufzog. Im Kindergarten habe ich damit geprahlt, dass ich zwei Mamis habe. Die Aufarbeitung verlief in Etappen, ich hatte immer wieder Phasen, in denen mich das Thema sehr beschäftigt hat. Ich hatte auch immer wieder Krisen. Dann warf ich meinen Adoptiveltern an den Kopf: «Ihr seid ja eh nicht meine Eltern, jetzt packe ich und gehe!» Sie haben dann jedes Mal eine Reise nach Rumänien geplant oder etwas Rumänisches gekocht. Sie haben unglaublich cool reagiert.

Mein Mami hat auch Rumänisch gelernt. Mein Papi hat sich sehr für die politische Lage und die Geschichte Rumäniens interessiert. Er weiss sehr viel über mein Herkunftsland. Mich hat das damals null interessiert, aber im Rückblick finde ich es schön, dass sie das für mich getan haben.

Während meiner Kindheit waren wir auch mehrmals in Rumänien in den Ferien. Als ich 12 war, haben wir das Kinderheim besucht, in dem ich gewesen war. Meine Eltern haben mich immer unterstützt. Sie haben mir auch angeboten, bei der Suche nach meinen leiblichen Eltern zu helfen. Aber dazu war ich damals noch nicht bereit.

Ich wollte erst eine Ausbildung machen und auf eigenen Füssen stehen. Als ich dann meine Lehre als Fachfrau Betreuung abgeschlossen hatte, meldete ich mich beim SSI (Internationaler Sozialdienst Schweiz) und bat sie, meine leiblichen Eltern in Rumänien zu suchen. Es hat ziemlich lange gedauert, aber sie haben sie gefunden. Am Anfang hatte ich nur Briefkontakt mit meiner Mutter. Sie kann nicht lesen und schreiben, eine ihrer Töchter hat ihr geholfen.

Ich hatte in der Schule Probleme und wurde gemobbt. Einer meiner Sekundarschullehrer wusste, wie er mich anpacken musste und mir Selbstvertrauen geben konnte. Er ist für mich eine wichtige Bezugsperson geworden. Er hat mich zusammen mit seiner Freundin im letzten Sommer nach Rumänien begleitet, nach Sibiu, wo die Familie meiner leiblichen Mutter lebt.

Meine erste Begegnung mit ihr war überwältigend. Wir trafen uns im Haus meiner Mutter, einer Art ärmlichem Bauernhof. Da waren so viele Leute im Raum, Angehörige und Nachbarn, und alle haben mich angestarrt und betatscht. Sie sind Roma, das ist eine andere Kultur, es war ihre Art, mir ihre Liebe zu zeigen. Aber für mich war das zu viel, weil ich gar nicht der touchy Typ bin. Meine Mutter brach in Tränen aus und lief davon, ich bin ihr hinterhergelaufen, und wir haben uns umarmt. Das war sehr schön.

Meine leiblichen Eltern waren sehr jung, als ich auf die Welt kam. Sie haben nun beide Kinder mit neuen Partnern. Meine Mutter hat drei. Eine meiner Halbschwestern ist 21 und hat bereits selber zwei Kinder. Eine andere ist 17 und hat ein Kind. Mein Bruder ist 15 und wurde gerade verheiratet. Sie leben in einer ganz anderen Welt.

Mein Vater hat fünf Kinder. Er war bei unserem Treffen ebenfalls dabei, er ist dafür von weit her angereist. Es war schön, ihn zu sehen. Er gleicht mir sehr stark. Ich habe in meinem Leben immer nach jemandem gesucht, der mir gleicht. Ich habe mich ihm deshalb gleich verbunden gefühlt.

Aber gleichzeitig war er mir auch fremd. Er ist sehr patriarchalisch. Er konnte nicht verstehen, dass ich noch nicht verheiratet bin und keine Kinder habe. Er wollte mich mit einem meiner Halbbrüder verheiraten. Unsere Vorstellungen passen überhaupt nicht zusammen. Ich musste mich danach von ihm abgrenzen. Mit meiner leiblichen Mutter habe ich aber noch Kontakt. Wir schreiben uns über Facebook, sehr achtsam und mit Respekt.

Ich will meine Familie in Rumänien irgendwann auch finanziell unterstützen, aber im Moment kann ich das nicht. Ich habe im Oktober angefangen, Sozialpädagogik zu studieren. Ich möchte künftig mit Kindern aus schwierigen Verhältnissen arbeiten. Ich möchte sie in ihrem Wachstum stärken.

Der Besuch in Rumänien hat mich weitergebracht. Ich habe etwas verarbeitet, nicht bewusst, aber es ist etwas passiert mit mir. Ich war jemand, der irgendwo in der Luft gehangen ist, und jetzt bin ich mehr auf dem Boden.

Ich war immer sehr autonomiebedürftig, wollte nie viel Nähe, etwa Kuscheln. Das hat meine Eltern manchmal auch verletzt. Ich glaube, Adoptierte brauchen viel Freiheit. Wenn man früh im Leben unsichere Bindungen hat, bringt das Bindungsängste mit sich. Das thematisiere ich auch bei Vorträgen vor Adoptiveltern. Seit zwei Jahren engagiere ich mich bei der PACH (Verein Pflege- und Adoptivkinder Schweiz). Ich kann da mit meinen Erfahrungen etwas beitragen.

Meine Adoptiveltern haben den Tag, an dem wir eine Familie geworden sind, immer zelebriert als meinen «Hallo-Tag». Ich empfehle allen werdenden Adoptiveltern, diesen Tag zu feiern. Adoption umfasst so viele schwierige Themen wie das Nicht-schwanger-Werden, die Traumatisierung, die Bindungsängste. Doch dieser Tag bringt etwas Leichtes und Verbindendes, für mich war er sehr wertvoll.

Niklaus Iten, 51, Lebensmittelingenieur, Kriens

Vielleicht bin ich bindungsunfähig, weil ich adoptiert bin? Das fragte ich mich mit Anfang 30, als die Beziehung zu meiner damaligen Freundin in die Brüche ging und ich grossen Liebeskummer hatte.

Ich hatte immer gewusst, dass ich adoptiert war, aber mit meinen Eltern nie darüber geredet. Meine Adoptiveltern waren die liebevollsten Eltern, die man sich wünschen kann. Mein Mami war Italienerin und ein Gefühlsmensch. Ich hingegen hatte Mühe, mit meinen Eltern über Emotionen zu reden. Das war sicher auch ein Grund, wieso ich so lange nicht über die Adoption sprechen wollte.

Ich erinnere mich noch genau, wie mein Vater damals in den oberen Stock in sein Büro ging und das Dossier der Vormundschaftsbehörde von 1973 holte. Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Eltern darüber freuten, als ob sie darauf gewartet hätten, dass ich das Thema anspreche.

In diesen Unterlagen sah ich zum ersten Mal den Namen meiner leiblichen Mutter. Das war schon ein besonderer Moment. Sie war auch Italienerin, wie meine Adoptivmutter. Sie hat mich zur Adoption freigegeben, weil ich ein uneheliches Kind war. Zu meinem leiblichen Vater stand da kein Wort. Ich weiss bis heute nicht, wer er war.

Als Naturwissenschafter interessieren mich biologische Zusammenhänge. Ich habe mich immer gefragt, wieso ich bin, wie ich bin. Sind primär die Gene verantwortlich oder die Umgebung?

Ich wartete dann aber doch ein paar Jahre, bis ich nach meiner leiblichen Mutter zu suchen begann. Nach einem Jahr teilte mir die Vormundschaftsbehörde mit, dass meine Mutter keinen Kontakt wünsche. Sie war gerade nach Süditalien zurückgekehrt und hatte Angst, dass ihre Familie etwas mitbekommen könnte. Offenbar wusste ihr Umfeld nichts von mir.

Ich war wütend auf mich selbst. Wieso hatte ich sie nicht ein paar Jahre früher kontaktiert? Dann hätte ich sie in der Schweiz treffen können. Davon bin ich überzeugt. Ich hatte meiner leiblichen Mutter gegenüber nie negative Gefühle. Es gab keinen Grund dafür. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, liebende Eltern, eine gute Verwandtschaft und viele Freunde.

Von der Vormundschaftsbehörde erfuhr ich, dass ich eine jüngere Halbschwester habe, die in der Schweiz lebe. Das hat mich umgehauen. Da war jemand mit demselben Blut! Von derselben Mutter! Ich versuchte mit meiner Schwester in Kontakt zu treten, bekam aber keine Antwort. Bis ich Jahre später plötzlich eine SMS von ihr bekam. Ich habe sie umgehend angerufen, und wir haben sehr lange geredet. Sie hat mir erzählt, dass meine Mutter wenige Jahre zuvor verstorben sei. Das hat mich sehr traurig gemacht.

Wegen der Pandemie haben wir uns dann erst ein paar Monate später in meinem Geburtsort Liestal getroffen. Es war ein eigenartiges Gefühl, die Frau war mir fremd. Wir haben auch äusserlich wenig gemein. Lustigerweise ist sie aber wie ich Elvis-Fan. Sie hat mir von der Mutter erzählt und mir Fotos gezeigt. So konnte ich einen Blick zurück in meine ferne Vergangenheit werfen.

Es ist ein schönes Gefühl, zu wissen, dass ich eine Halbschwester habe. Bei dem Treffen habe ich aber auch gemerkt: Gemeinsamkeiten zu haben, bedeutet nicht zuletzt, Zeit gemeinsam verbracht zu haben. Wenn man vierzig Jahre lang nichts miteinander zu tun hat, ist man sich fremd.

Ich arbeite in einem Lebensmittelbetrieb und bin in der Grünliberalen Partei aktiv. Das Interesse an der Politik habe ich von meinem Vater. Auch mein Wertesystem wurde von meinen Adoptiveltern geprägt. Ich bin ihnen für das, was sie mir mitgegeben haben, unendlich dankbar.

Serina Baltensperger, 31, Primarschullehrerin, Zürich

Meine Eltern haben mich und zwei weitere Geschwister in Hongkong adoptiert, wo ich auch die ersten Lebensjahre gewohnt habe. Nach unserer Rückkehr in die Schweiz wurde meine Mutter mit Zwillingen schwanger. Unsere Familie hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass drei von uns adoptiert waren. Ich meine, das sah man ja auch sofort, denn meine Eltern sind Schweizer. In Hongkong arbeiteten sie als Missionare für eine christliche Freikirche.

Ich war früh darüber informiert worden, dass meine biologische Mutter mich weggeben musste, weil sie während Schwangerschaft und Geburt im Gefängnis sass wegen Drogenhandels. Es war darum völlig unklar, welche Zukunft sie mir hätte bieten können. In den ersten Jahren in Hongkong bestand noch Kontakt zwischen unserer Familie und meiner Mutter. Es existieren auch Fotos von ihr und mir.

Ich bin mit meiner Familie in der Nähe von Zürich aufgewachsen. Mein Zimmer habe ich oft mit einem meiner Geschwister geteilt, meine Eltern schliefen im Wohnzimmer. Als Älteste von fünf Kindern war ich früh selbständig: Ich habe gelernt, mich selbst zu unterhalten und selbst zu organisieren. Mein Vater arbeitete den ganzen Tag, und meine Mutter war etwas am Anschlag.

Zeitweise hatte ich das Gefühl, ich müsse mich für meine Existenz entschuldigen. Meine Eltern haben mir zwar immer wieder gesagt, dass sie stolz seien auf mich. Aber irgendwie kam das nie so richtig bei mir an. Denn ihre Worte und ihre Handlungen stimmten für mich nicht überein. Bei der Erziehung waren meine Eltern sehr streng. Aber sie haben die leiblichen und die adoptierten Kinder stets gleich behandelt.

Eine besondere Bedeutung in meinem Leben hatte meine erste Freundin, ihr bin ich für vieles dankbar. Sie ist der Mensch, der mich wohl am meisten positiv beeinflusst hat. Durch sie habe ich eine Wertschätzung erfahren, die ich vorher nicht gekannt hatte.

Nach 2013 bin ich während ein paar Jahren jeden Sommer nach Hongkong zu meiner zweiten Familie gereist. Ich verstand mich gut mit meiner Halbschwester, die als Einzige ein wenig Englisch konnte. Die Kommunikation mit meiner Mutter war immer schwierig, weil ich kein Kantonesisch und sie kein Englisch sprach. Aber ich habe, so gut es geht, versucht, mehr über meine Herkunft herauszufinden. Über meinen Vater habe ich nie gross etwas erfahren. Meine Mutter behauptet, sie könne sich nicht an ihn erinnern.

Mich anderen Menschen zu öffnen, fällt mir schwer. Ich brauche lange, bis ich Vertrauen fasse. Generell lässt sich über mich sagen, dass ich mir lange nicht erlaubt habe, kritisch über meine Adoptionsgeschichte nachzudenken. Denn ich bin ja auch dankbar dafür, in der Schweiz aufgewachsen zu sein. Gleichzeitig bin ich stolz auf meine asiatischen Wurzeln. Auch deswegen bin ich überzeugt, dass ich irgendwann mit positiven Gefühlen auf meine Herkunftsgeschichte schauen werde.

Ich bin heute, mit 31 Jahren, immer noch mitten auf der Suche nach meiner wahren Identität. Es gibt drei Erzählungen über meine Herkunft: die meiner sozialen Eltern, die meiner leiblichen Mutter und jene, die auf den Dokumenten steht. Für mich ist das manchmal sehr belastend, an anderen Tagen nehme ich es leichter. Es ist eine Art von Zerrissenheit, die mich schon ein paar Jahre begleitet. Trotzdem befürworte ich Adoptionen – wenn sie denn sorgfältig geplant sind. Und die Eltern müssen sich bewusst sein, dass hinter jedem Adoptivkind bereits eine Geschichte steckt.

Nicola Roten (42), Geschäftsführerin, Zürich

Ich bin in den 1980ern im Kanton Thurgau aufgewachsen. Kinder, die mir wegen meiner Hautfarbe mit Vorurteilen begegneten, taten mir immer etwas leid. Ihre Meinung zu meinem Aussehen fand ich unqualifiziert, sie hatten ganz offensichtlich noch nie davon gehört, dass es jenseits des Hinterthurgaus Länder gibt, in denen Menschen eine dunkle Hautfarbe haben und man ganz anders lebt als in der Schweiz. Ich fühlte mich nie benachteiligt, dachte nie, dass mir die anderen Kinder etwas voraushaben, weil sie bei ihrer Ursprungsfamilie aufwachsen.

Für mich war immer klar, dass ich aus einem anderen Land stamme – weit weg, wo es warm ist und wo alle Kinder aussehen wie ich. Dass meine beiden Schwestern und ich als Babys aus Sri Lanka adoptiert worden waren, war einfach ein Fakt, der in meiner Familie als solcher behandelt wurde. Das Fremdsein war so gesehen kein Wert, weder positiv noch negativ.

Adoptiert wird man ja nicht von einer Familie. Adoptiert wird man von einem ganzen Netzwerk. Dazu gehören auch Nachbarn, Lehrer, Mitschüler – halt alles, was das soziale Grundrauschen eines Kinderlebens so ausmacht. Erst im Kontakt mit diesem Netzwerk wurde mir bewusst, dass man mich anders wahrnimmt – als fremd. Da klafften Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander.

In der Schule unseres Dorfes war ich lange das einzige braune Kind auf dem Pausenplatz. Natürlich gab es da Versuche von Kindern, mich als «fremd» zu behandeln und mir deshalb Vorschriften zu machen. Zum Beispiel auf dem Nachhauseweg. «Nein, du darfst hier nicht entlanglaufen», kriegte ich zu hören. Ich habe das nie hingenommen und mich gewehrt: «Ah ja, warum darf ich nicht? Aber du schon? Was ist an dir anders?» Damit hatte das Aushandeln begonnen. Und ich kann mich an keine Szene erinnern, in der ich verloren hätte.

Meine Eltern haben mir gesagt: Wenn du deine biologischen Erzeuger kennenlernen willst, geben wir dir alle Informationen, die wir haben. Aber du musst es auf eigene Faust tun. Damit meinten sie auch, dass ich selbst dafür aufkommen muss. Ich war also schon etwas älter, als ich mich auf die Suche machte. In Sri Lanka stellte sich heraus, dass meine Adoptionsunterlagen gefälscht waren und die Frau, die dort als meine Mutter angegeben war, nichts mit mir zu tun hatte.

Was ich damals nicht wusste: Ich war einer von Tausenden Adoptierten aus Sri Lanka, die mit gefälschten Unterlagen nach Europa vermittelt worden waren. Oft wurden die Personalien der Frauen, die als Mütter in den Dokumenten aufgeführt wurden, gestohlen. Findige Geschäftsleute in Sri Lanka hatten einen regelrechten Kinderhandel aufzogen. Oft wurden dabei nicht nur die sri-lankischen Herkunftsfamilien getäuscht, sondern auch die Adoptiveltern. Die Praxis wurde erst in den 1990er Jahren gestoppt.

Wie genau es bei mir gelaufen ist, habe ich nie erfahren. Und ich habe auch meine biologischen Eltern nie gefunden. Mein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber meiner Schweizer Familie ist durch diese Erfahrung allerdings nicht erschüttert worden.

Heute arbeite ich für eine Stiftung, die Bauernfamilien beim Anbau von Biobaumwolle unterstützt. Aus diesem Grund bin ich beruflich oft in Indien. Obwohl meine Wurzeln in Sri Lanka liegen, spürte ich von Anfang an eine Vertrautheit mit der Kultur und den Menschen, die ich so noch nie erlebt hatte. Zwar bin ich auch in Indien eine Fremde. Ich sehe zwar aus wie die Menschen dort, aber mein Verhalten verrät mich als Europäerin. Die Situation ist aber anders als auf dem Schulhof damals. Selbst- und Fremdwahrnehmung klaffen nicht mehr ganz so stark auseinander. Jetzt bin ich einfach Nicola aus der Schweiz.

Brenda Harenberg-Buob, 58, kaufmännische Angestellte und ehemalige Balletttänzerin, Estavayer-le-Lac

Als Kind stellte ich mir oft vor, dass ich in Wahrheit die Tochter einer Königin sei. Ich und mein Bruder waren adoptiert. Lange Zeit war dies alles, was ich über meine Herkunft wusste. Meine Eltern liessen viele Fragen unbeantwortet – schliesslich waren wir eine glückliche Familie. Dieses Bild musste nach aussen gewahrt werden. Also füllte ich das Unwissen mit meiner Phantasie.

Ich war 12 Jahre alt, als ich einen Ordner bei meinen Eltern fand: den Ordner mit meinen Schriften. Als ich darin blätterte, stockte mir fast der Atem. Ich fand meinen Geburtsschein, den Namen meiner leiblichen Mutter – und meinen eigenen Geburtsnamen. Ich kam als Elisabeth Katharina zur Welt.

Mit meinen Eltern konnte ich nicht über die Entdeckung sprechen. Meine Mutter gab mir oft das Gefühl, undankbar zu sein, wenn ich Fragen nach meiner Herkunft stellte. Zu Hause fehlte es mir schliesslich an nichts: Ich lebte in einem schönen Haus, hatte ein liebevolles Umfeld. Ich durfte meinem Traum vom Balletttanzen nachgehen und wurde in Bern, Paris und New York ausgebildet.

So kam es, dass ich immer wieder in ein neues Umfeld gelangte, mich mit neuen Bezugspersonen zurechtfinden musste. Dieses Muster, das sich in meinem Leben zu wiederholen schien, liess mich nicht los. Heute weiss ich: Adoptierte Menschen sind oft sehr anpassungsfähig – manchmal zu sehr. Wir lernen es in frühester Kindheit.

Obwohl ich als Kind viel Liebe und Geborgenheit erfuhr, verspürte ich sehr früh den Wunsch, eine eigene Familie aufzubauen, meine «echte» Familie. Ich sehnte mich danach, mich in jemandem spiegeln zu können. Ich heiratete jung und wurde mit 25 Jahren Mutter. In meinen beiden Kindern hatte ich erstmals biologische Verwandte.

Ich war 31 Jahre alt, als ich die Suche nach meiner Mutter tatsächlich begann. Schliesslich erfuhr ich, dass ich eine jüngere Schwester hatte. Ich freute mich. Dann folgte die Ernüchterung: Meine Mutter war bereits tot. Ich würde sie nicht mehr kennenlernen.

Bei einem Treffen mit meiner Schwester und ihrem Vater hörte ich erstmals die Geschichte meiner Mutter: Sie war eine junge Frau und berufstätig, als sie ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann einging. Die kleine Elisabeth wurde ihr weggenommen und zur Adoption freigegeben. Sie musste einen Vertrag unterzeichnen, in dem sie versicherte, niemals den Kontakt mit mir zu suchen oder sich über meinen Verbleib zu erkundigen. Ich war eine Zwangsadoption. Meine Mutter hat den Verlust nie verkraftet. Nach jahrelangen Depressionen hat sie sich das Leben genommen. Ich muss damals 12 Jahre alt gewesen sein – also in jener Zeit, in der ich die Dokumente meiner Adoption gefunden hatte.

Meine Schwester war die erste Person, die ich aus meiner Ursprungsfamilie kennenlernte. Sie ist zwar kleiner und filigraner als ich, aber wir haben äussere Ähnlichkeit. Als sie mir von ihrem Leben erzählte, beschlich mich ein schlechtes Gewissen. Ihre Kindheit war geprägt von Armut und vom frühen Tod ihrer Mutter. Ihren Träumen nachzugehen, wie ich es getan habe, war ihr fern.

Trotz allen Treffen und Gesprächen fehlte mir, mit jemandem darüber sprechen zu können, der Ähnliches erlebt hat. Also gründete ich vor neun Jahren die Selbsthilfegruppe für Adoptierte in Bern. Nun treffe ich mich alle zwei Monate mit Schicksalsgenossen. Es tut gut, endlich mit Menschen reden zu können, die mein Erlebtes nachvollziehen können.

Meine Adoptiveltern stehen mir noch heute sehr nahe. Doch seitdem ich meine leibliche Familie gesucht habe, fühle ich mich ein wenig als schwarzes Schaf. Ich weiss, wie sehr meine Adoptiveltern enttäuscht sind, dass ich nun den Kontakt zu meiner anderen Familie pflege. Es ist, als hätte ich jene heile Welt zerstört, die wir so lange aufrechterhalten haben.

Adoptionen in der Schweiz sind auf Tiefstand

Die Zahl der Adoptionen ist über die Jahrzehnte eingebrochen. Im Jahr 2022 wurden 226 Kinder und Jugendliche* adoptiert. Noch 1979, in dem frühesten Jahr, zu dem schweizweit Zahlen vorliegen, wurden mehr als 2000 Kinder und Jugendliche adoptiert, über die Hälfte der Adoptierten stammten aus dem Inland.

Zehntausende von Kindern wurden in der Schweiz seit der Einführung des neuen Zivilgesetzbuches 1912 adoptiert: Ab dann durfte der Staat Müttern ihr Kind ohne ihr Einverständnis wegnehmen. Tausende Kinder von unverheirateten oder armutsbetroffenen Müttern wurden bis in die 1980er Jahre fremdplatziert.

In den 1960er Jahren stieg die Zahl der Auslandsadoptionen. In den Jahren danach zeigte sich, dass häufig kriminelle Machenschaften im Spiel waren. Untersuchungen der letzten Jahre deckten Betrugsfälle im grossen Ausmass auf, beispielsweise in Sri Lanka.

Der starke Rückgang von Adoptionen hat mehrere Gründe: Unerwünschte Schwangerschaften sind stark zurückgegangen, weshalb weniger Kinder zur Adoption freigegeben werden. Zweitens sind Kinder heute rechtlich besser geschützt: Sie haben ein Recht, ihre Herkunft zu kennen, und dürfen nur noch in Ausnahmefällen fremdplatziert werden. Und schliesslich hat die sinkende Nachfrage bei Adoptionen mit dem medizinischen Fortschritt zu tun: Viele ungewollt kinderlose Paare nutzen heute die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung.

* Jugendliche bis 19 Jahre, Stiefkindadoptionen sowie Adoptionen gleichgeschlechtlicher Paare nicht eingerechnet

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