Dienstag, November 26

Der ehemalige deutsche Viersternegeneral Erhard Bühler fordert Deutschland auf, der russischen Bedrohung klarer entgegenzutreten und mehr für die Ukraine zu tun. Mit der Verteidigungspolitik der Koalition geht er hart ins Gericht. Er sieht einen Vertrauensverlust in der Truppe.

Herr General, der deutsche Oppositionsführer Friedrich Merz hat den Bundeskanzler am vergangenen Mittwoch aufgefordert, den Marschflugkörper Taurus zu liefern und der Ukraine zu gestatten, damit militärische Ziele auf russischem Territorium anzugreifen. Hat er recht? Muss Deutschland mehr tun, um die Ukraine bei ihrem Abwehrkampf zu unterstützen?

Ja. Ich halte es seit langem für richtig, wie es die Franzosen handhaben. Sie gestatten der Ukraine, mit ihren Waffen weit entfernte Ziele in Russland anzugreifen, solange es sich um militärische handelt, von denen eine unmittelbare Bedrohung ausgeht. Deutschland sollte sich Frankreich zum Vorbild nehmen und weitreichende Waffen wie den Taurus liefern, wie es der Bundestag gefordert hat.

Ist das wirklich notwendig?

Die russische Armee ist an der Front nicht zu schlagen. Sie zermürbt die Ukrainer durch ihre pausenlosen Angriffe, ohne Rücksicht auf eigene Verluste, und hinterlässt einen Streifen der Zerstörung in Städten und Dörfern. Dadurch soll der ukrainische Durchhaltewillen gebrochen werden. Gleichzeitig ist der russische Ansatz, auch den Westen mürbe zu machen und zu spalten. Die operative Idee der Ukrainer, der russischen Armee in der Ukraine die Grundlagen für die Angriffe zu entziehen, ist richtig; durch Angriffe auf Logistikeinrichtungen, Führungsstellen, Versorgungslinien, Flugplätze und Raketenabschussbasen. Diese befinden sich bis zu 200 bis 300 Kilometer hinter der Grenze. Dieser Ansatz muss unterstützt werden, wenn man will, dass die Ukraine ihren Abwehrkampf am Ende erfolgreich führen kann.

Laut dem obersten deutschen Soldaten Carsten Breuer produziert Russland im Moment 1500 neue Kampfpanzer im Jahr. Zugleich hat das Institut für Weltwirtschaft in Kiel kürzlich vorgerechnet, dass Deutschland beim derzeitigen Tempo für militärische Anschaffungen einhundert Jahre brauchen würde, um die Bundeswehr angemessen auszurüsten. Machen Sie sich Sorgen um den Frieden in Europa?

Natürlich mache ich mir Sorgen um den Frieden in Europa. Allerdings macht mir die Situation noch keine Angst wie offenbar manch anderem, deren Ängste von einigen wenigen gezielt geschürt werden. Denn noch haben wir es ja in der Hand, darauf zu reagieren und die entsprechenden Massnahmen zu ergreifen. Die Bundeswehr angemessen auszustatten, ist eine Aufgabe von Verfassungsrang. Da sind sich alle einig.

Nicht alle.

Dann sage ich es anders: Darüber sollte Einigkeit bestehen. Die Nato definiert, was sie benötigt, um das Bündnisgebiet zu verteidigen. Ende des Jahres wird sie turnusgemäss zum ersten Mal nach dem Angriff 2022 auf die Ukraine neue Ziele festlegen. Danach werden die Lasten auf die Bündnispartner verteilt, aufgeschlüsselt nach Grösse des Landes, Wirtschaftskraft, Bevölkerung und geografischen Gegebenheiten. So schliesst man aus, dass überflüssige Strukturen oder Lücken im Verteidigungsdispositiv entstehen. Dieses Verfahren gibt es seit 2017, es schliesst aus, dass nationale Alleingänge in der Streitkräfteplanung geschehen. Nicht alle müssen alles haben. Nicht ohne Grund hat die Erfüllung dieser Nato-Fähigkeitsziele in den vergangenen Jahren Eingang in alle wichtigen sicherheitspolitischen Dokumente unseres Landes gefunden und ist auch im Koalitionsvertrag unserer Regierungsparteien verankert. Es geht hier nicht darum, dass ein paar Generäle mehr Gerät fordern, als sie brauchen. Sondern darum, dass wir jetzt die Vorgaben der Allianz, also aller Partner, erfüllen. Sonst gefährden wir unsere Sicherheit.

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius und ranghohe Militärs warnen davor, dass Russland in einigen Jahren bereits in der Lage sein werde, weitere Länder in Europa zu überfallen, potenziell auch Nato-Bündnispartner. Ist diese Sorge nicht übertrieben? Die Nato hat immerhin Atomwaffen.

Unsere Regierung ist der Ansicht, dass Russland auf absehbare Zeit die grösste Bedrohung für Frieden und Freiheit im euroatlantischen Raum ist. So steht es in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Darüber hinaus haben Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und auch der Generalinspekteur der Bundeswehr festgestellt, dass wir in drei bis fünf Jahren eine Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland aufgebaut haben müssen. Denn in den Folgejahren könnte Russland in der Lage und willens sein, Europa anzugreifen. Das sind keine Zahlen, die jemand leichtfertig in die Welt setzt. Sie beruhen auf ernsthaften und ressortübergreifenden Analysen. Noch nie haben deutsche Geheimdienste und die Spitze unserer Streitkräfte so vor der von Russland ausgehenden Gefahr gewarnt. Wir sollten diese Warnungen ernst nehmen.

Angenommen, Russland sähe in einigen Jahren die Möglichkeit für weitere militärische Eroberungen. Welches Szenario hielten Sie für realistisch?

Russland hat auch heute schon viele Fähigkeiten, die in der Ukraine gar nicht eingesetzt werden und deshalb jetzt schon zur Verfügung stehen. Hinzu kommt, dass Russland seine Landstreitkräfte mit Nachdruck verstärkt und wieder aufbaut. Einen grossen Landkrieg muss man deshalb nicht unmittelbar befürchten. Wohl aber könnte Russland irgendwann in der Lage und auch gewillt sein, Territorium der Nato anzugreifen, und sei es nur, um die Nato auszutesten und ein Faustpfand für Verhandlungen zu haben. Das politische Ziel ist vollkommen klar: Russland will die Amerikaner aus Europa vertreiben und die Nato und die Europäische Union so weit schwächen, dass sie irrelevant werden.

Viele linke Politiker sind überzeugt, dass Russland kein Interesse hat, die Nato anzugreifen.

Vor der russischen Invasion in der Ukraine haben auch viele gedacht, dass Russland diesen Schritt nicht gehen würde, ich eingeschlossen, weil ich die politischen und militärischen Risiken für Russland gesehen habe. Damals haben sich viele verschätzt, insbesondere auch die Russen selbst. Heute sollte aber niemand mehr so leichtgläubig sein.

Die Ukraine ist aber kein Mitgliedsstaat der Nato, das ist der Unterschied.

Trotzdem ist Putins Ambition nicht von der Hand zu weisen, das Sowjetreich wiederherzustellen. Da gibt es sehr konkrete Aussagen von ihm und auch seit Jahren Warnungen hiesiger Russlandexperten, die wir zu wenig berücksichtigt haben. Wer meint, Russland werde sich mit der Nato schon nicht anlegen, dem empfehle ich eine Reise ins Baltikum. Diese Länder waren einst Teil der Sowjetunion. Die Sorge wegen eines russischen Angriffs ist dort mit Händen zu greifen.

Geht es Russland nicht einfach nur darum, einen Keil zwischen die Mitglieder der Nato zu treiben?

Wir könnten stundenlang darüber spekulieren, was Russland genau erreichen will und was es als Nächstes tut. Entscheidend ist aus meiner Sicht etwas anderes: Russland hat dem Westen eindeutig gezeigt, dass es bereit ist, zum Äussersten zu gehen, um seine Ziele zu erreichen. Deshalb bleibt der Nato nichts anderes übrig, als auf eine starke Abschreckungsfähigkeit zu setzen. Wir müssen ausschliessen, dass Russland überhaupt auf die Idee kommt, im Baltikum, in Polen oder im Schwarzmeerraum in irgendeiner Weise gegen die Nato vorzugehen.

Laut Umfragen will aber mehr als die Hälfte der Deutschen, dass sich das Land bei internationalen Krisen stärker zurückhält. BSW und AfD, die im Moment von Wahlsieg zu Wahlsieg eilen, lehnen die militärische Unterstützung der Ukraine ab und sind der Ansicht, dass Deutschland Russland bedroht.

Wir bedrohen Russland nicht. Das haben wir zu keinem Zeitpunkt getan. Ganz im Gegenteil. Die Devise der Nato und der Bundeswehr war Kooperation. Ich habe in den Neunzigern mit einem russischen Offizier zusammen die amerikanische Generalstabsausbildung absolviert. Wir haben sogar nach der Besetzung der Krim 2014 russische Offiziere nach Deutschland eingeladen, um sie mit der Bundeswehr vertraut zu machen, es gab sogar Ideen, russische Verbindungsoffiziere in hohen Dienststellen der Bundeswehr zu etablieren oder den Russen ein modernes Gefechtsübungszentrum nach dem deutschen Vorbild zu bauen. Das lief unter dem Schirm der Nato-Russland-Partnerschaft. Das Vertrauen, das wir damit in Russland gesetzt haben, wurde durch Putins brutalen Angriffskrieg 2022 zerstört. Erst dadurch wurde aus Kooperation Konfrontation.

Sind die Ängste der Menschen nicht nachvollziehbar?

Natürlich sind die Ängste der Menschen vor einem Krieg nachvollziehbar, aber Frau Wagenknecht und die AfD schüren sie mit ihren Thesen, ohne jede Idee, wie man ihn eigentlich vermeidet. Was sie fordern, liefe für die Ukraine auf die einseitige Abtretung der russisch besetzten Gebiete hinaus. Damit ist der Krieg aber nicht vorbei. Nach einer Pause, in der Russland sich militärisch neu aufstellt, wird das Land die Hände ausstrecken nach der gesamten Ukraine. Und wenn das gelingen sollte, wird es sich ermutigt fühlen, auch andere Länder anzugreifen, Moldau, Georgien, das Baltikum.

Der reguläre Wehretat der Bundeswehr steigt in diesem Jahr nur um 1,2 Milliarden Euro, obwohl Pistorius 7 Milliarden gefordert hatte. Das Sondervermögen ist bereits verplant und wird bald aufgebraucht sein. Ist die Zeitenwende gescheitert?

Es ist sogar noch schlimmer. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat Anfang des Jahres Teile der Finanzbedarfsanalyse der Bundeswehr veröffentlicht. Da sieht man, dass die Bundeswehr 2025 eigentlich 10 Milliarden mehr gebraucht hätte. Minister Pistorius hat also schon weniger gefordert, als eigentlich nötig gewesen wäre. Und wenn das Sondervermögen Ende 2027 ausläuft, ist die Lücke noch grösser. Sie wird mindestens 30 Milliarden betragen, vielleicht sogar 40 Milliarden. Dazu kommt, dass es ab Sommer 2025 im Wahlkampf bis zu einer absehbar schwierigen Regierungsbildung keine Entscheidungen zur Ausrüstung der Bundeswehr geben wird. All das ist heute schon vorhersehbar. Wie man dieses Problem dann kurzfristig lösen will, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Die frühere deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat es einmal so ausgedrückt: Wir fahren auf Sicht. Aber ich meine, wenn Sie strategische Entscheidungen treffen müssen, dann müssen Sie schon einmal das Fernlicht einschalten.

Dann ist die Zeitenwende also gescheitert?

Bundeskanzler Olaf Scholz hat der Bundeswehrführung auf der Tagung der Führungskräfte im September 2022 versprochen, dass die Bundeswehr zur bestausgestatteten Streitkraft in Europa wird, zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung auf dem Kontinent. Und Minister Pistorius hat ein halbes Jahr später gesagt, dass sich Deutschland momentan nicht gegen einen brutal geführten Angriffskrieg verteidigen könnte. Diese beiden Aussagen muss man nebeneinanderlegen, um das Problem zu verstehen. Ich will niemandem unterstellen, dass er die Zeitenwende aufgegeben hat. Aber Entscheidungen, die eigentlich heute getroffen werden müssten, werden in die Zukunft vertagt. Die Koalition ist gelähmt. Sie hat kein Erkenntnisproblem, siehe Nationale Sicherheitsstrategie, sondern ein Umsetzungsproblem.

So ist nun einmal Politik, könnte man sagen. Koalitionen zerstreiten sich, dann werden sie abgewählt, und die nächste Regierung macht es dann besser.

Aber die Zeit, die wir jetzt verlieren, setzt das ganze Projekt der Zeitenwende aufs Spiel. Sie müssen militärische Ausrüstung lange im Voraus bestellen, sie müssen dafür Geld vorhalten, die Rüstungsfirmen müssen ihre Produktion hochfahren. Ausserdem hat die Zerstrittenheit der Koalition viel Vertrauen zerstört. Wie oft habe ich schon gehört, dass die Bundeswehr das Beste vom Besten bekommen muss und erhält, was sie für ihren Auftrag benötigt. Das wird schon seit Jahren erzählt. Aber es ist zu wenig passiert. Am Ende glaubt in der Truppe keiner mehr, dass sich noch etwas an der verfahrenen Situation ändern wird. Jetzt ist es ernst. Es war im Kalten Krieg nie so ernst wie heute. Die weltpolitische Lage ist viel unberechenbarer und gefährlicher als damals. Deshalb muss jetzt sofort und nicht irgendwann gehandelt werden.

Muss Deutschland wirklich amerikanische Mittelstreckenraketen im Land stationieren?

Seit etwa 2015/16 hat Russland in Kaliningrad und Sankt Petersburg Raketen vom Typ Iskander sowie Marschflugkörper mit grosser Reichweite stationiert, die nuklear bewaffnet werden können. Das stellt eine Bedrohung für ganz Westeuropa dar. Die Nato hat darüber lange Zeit Gespräche mit Russland geführt, vor allem im Nato-Russland-Rat. Nach dem Überfall Russlands war es aber höchste Zeit, auf diese einseitige russische Eskalation zu reagieren. Diese Reaktion ist aus meiner Sicht massvoll.

Hätte es für diesen Schritt nicht einer breiteren Debatte bedurft?

Dass eine solche Entscheidung zur Intensivierung der sicherheitspolitischen Debatte beiträgt, hätte man in der Tat vorher wissen können. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen: Die Ankündigung war ein starkes Signal an das Bündnis, und man wollte vermeiden, dass sie vorher vollständig zerredet wird. Und das wäre passiert.

Zur Person

Erhard Bühler – General a. D.

Bühler wurde im bayrischen Aichbach geboren. Ab Oktober 2014 leitete er die Abteilung Planung im deutschen Verteidigungsministerium. Zuletzt war er Viersternegeneral der Bundeswehr und Kommandeur der Allied Joint Forces Command der Nato in Brunssum.

Die AfD und das BSW haben in puncto Sicherheitspolitik klare Botschaften: Wir wollen keinen Krieg und sollten Russland nicht reizen. Es ist deutlich komplizierter, zu erklären, warum Deutschland die Ukraine militärisch unterstützen sollte. Welche einfachen Botschaften setzen sie diesen Parteien entgegen?

Ich will auch keinen Krieg, und ich kenne niemanden in der Bundeswehr, der es tut. Ich mache seit zweieinhalb Jahren einen Podcast und gehe auch an öffentliche Veranstaltungen, in Halle, in Magdeburg und an anderen Orten, und versuche dort, die Dinge zu erklären. Seit kurzem bin ich Präsident der Clausewitz-Gesellschaft und möchte das nutzen, um noch mehr mit den Menschen zu diskutieren. Aber man braucht dann schon ein paar Sätze mehr. Es gibt keine einfachen Botschaften.

Wir können es ja einmal ausprobieren. Sie haben zwei Sätze, um den Deutschen zu erklären, dass die Ertüchtigung ihres Militärs essenziell ist. Welche sind das?

Der erste Satz ist: Die Lage ist ernst, und wir haben einen verfassungsrechtlichen Auftrag, Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen, dem wir in den vergangenen Jahren nicht ausreichend nachgekommen sind. Der zweite lautet: Es gibt in der Welt immer das Böse, und wenn es irgendwo die Oberhand gewinnt, braucht man eine Streitkraft, die einen davor schützen kann. Und wenn ich das jetzt noch ausführen darf (lacht): Die Schweiz ist da für mich immer das beste Beispiel. Sie ist ein neutrales Land und hat seit vielen Jahrzehnten keine feindlichen Nachbarn. Trotzdem hat es letztlich auf seine Verteidigungsbereitschaft immer besonderen Wert gelegt. Das ist ein guter Ansatz. Man muss Verteidigungsfähigkeit auch ohne unmittelbare Bedrohungen denken können. Die kommen oft schneller, als man denkt. Unter Umständen sogar so schnell, dass die Streitkräfte nicht mehr ausreichend ertüchtigt werden können. Diese Lehre haben in Deutschland in den vergangenen Jahren viele vergessen.

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