Ein unveröffentlichter Bericht von Munitionsspezialisten stellt die bisherigen Risikoanalysen des Milliardenprojektes infrage. Die Spezialisten haben Tausende Bomben und Minen aus dem ehemaligen Lager geholt, ohne spezielle Schutzmassnahmen.
«Früher haben die Vögel in den Tannen dort gesungen», sagt Monika Küenzi, 58, und zeigt von ihrem Balkon aus auf den Berg, in dem noch Tausende Tonnen Munition liegen sollen. Die Tannen wurden für die Räumung des ehemaligen Munitionslagers in Mitholz alle abgeholzt. Sie erzählt: «Immerhin sind die Vögel nicht ganz weg. Sie singen nun weiter oben.» Das Dorf im Kandertal ist die Heimat von Küenzi. Sie ist hier aufgewachsen und nach «einigen Jahren im Unterland» zurückgekehrt, um in der ruhigen Gegend ihren Lebensabend zu verbringen. «Der Nebel unten hat mich gequält. Hier scheint die Sonne, und ich hatte bisher meinen Frieden.» Bisher.
Dass dieser Frieden plötzlich gestört und alles infrage gestellt wurde, hat Küenzi und das ganze Dorf bis ins Mark erschüttert. «Fast wie ein Todesurteil» sei die Nachricht gewesen, dass die Bewohner voraussichtlich ab 2033 für mindestens zehn Jahre wegziehen müssten, weil das ehemalige Munitionslager geräumt werden solle. Es sei zu gefährlich. Zu diesem Ergebnis sind diverse Risikoanalysen in den vergangenen Jahren gekommen. Bei einer erneuten Explosion im Berg könnten Tote nicht ausgeschlossen werden.
Ein bislang unveröffentlichter Bericht vom März 2024 von Munitionsspezialisten der Schweizer Armee kommt zu einem anderen Schluss: Was noch im Berg liege, könnte ein Umweltproblem darstellen – aber kein Explosionsrisiko.
Die Risikoanalysen des VBS gingen bisher davon aus, dass bis zu 10 Tonnen Sprengstoff auf einmal explodieren könnten. Die Munitionsspezialisten hingegen sprechen von «maximal 5 Kilogramm», einer einzelnen Granate. Tausende Bomben, Granaten, Geschosse und Minen holten sie aus dem ehemaligen Lager. Geräumt wurden die «Hotspots», also jene Stellen, wo das grösste Explosionsrisiko vermutet wurde. Die Spezialisten empfehlen, dass das Verteidigungsdepartement (VBS) prüfen solle, ob die bisherige Risikobeurteilung angepasst werden könne.
Was bedeutet das? Wie kam die Entscheidung der Behörden, einen Teil des Dorfes zu räumen, zustande? Und warum gab es nach diesem Bericht keine neue Risikobeurteilung?
Die Geschichte von Mitholz und seiner Fluh, in der vor fast achtzig Jahren ein geheimes unterirdisches Munitionslager der Armee gebaut wurde, ist lange und komplex. Man muss sie kennen, um annähernd zu verstehen, wie es zum Entscheid kommen konnte, das Lager zu räumen.
Mit ihren Kindern grillierte Monika Küenzi jeweils beim Stolleneingang. Heute ist der Bereich gesperrt.
Die Katastrophe von 1947
Der Vater von Monika Küenzi, Paul Zwahlen, war neun Jahre alt, als das Unglück passierte. Damals, am letzten Adventswochenende im Jahr 1947, kamen nach elf Uhr abends Geräusche aus dem Berg. Die Dorfbewohner berichteten später von «Stichflammen aus allen Toren» bei der ersten grossen Explosion. Die Familie Zwahlen versteckte sich zuerst im Keller. Die zweite Explosion zerstörte das Portal des Armeedepots und die Bahnstation Blausee-Mitholz sowie mehrere Häuser. Die Familie floh Richtung Kandergrund, Hauptsache, weg vom Berg.
Nach Mitternacht folgte die dritte und grösste Explosion. Die Wucht war so heftig, dass ein Teil des Felses einstürzte. Unkontrolliert schleuderten Geschosse, Steine und brennende Gegenstände aus der Fluh. Neun Menschen kamen ums Leben, viele wurden verletzt und über 200 obdachlos. Im Berginnern brodelte es weiter, eine Woche lang.
Ihr Vater spreche heute nicht mehr über die Geschehnisse von damals, sagt Monika Küenzi. Sie wohnt mit ihren Eltern in einem Zweifamilienhaus mit Blick auf den Berg: «Es bringt ja nichts. Die Erinnerungen machen einen nur kaputt.»
Das ehemalige Munitionslager ist ein Erbe der Schweizer Armee aus dem Zweiten Weltkrieg. Bausoldaten schlugen sechs Kammern in den Berg und füllten das Lager mit 7000 Tonnen Minen, Granaten, Fliegerbomben, Sprengkisten. Im Dorf wusste niemand, was in der Fluh gelagert wurde, auch nach dem Krieg nicht. Die Soldaten behaupteten, sie würden Teigwaren lagern.
Warum es zwei Jahre nach Kriegsende zur Katastrophe kam, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Nach den verheerenden Explosionen räumte die Armee während neun Monaten alle sechs Kammern des Lagers. Ein Teil der Munition wurde vor Ort gesprengt, 1400 Tonnen wurden abtransportiert und im Thunersee versenkt, wo sie noch heute liegen. Ein Expertenbericht kam 1949 zum Schluss: Kleine Explosionen seien zwar noch möglich, doch sie hätten geringe Auswirkungen.
In den folgenden Jahrzehnten wurde nicht nur das Dorf Mitholz wieder aufgebaut, die Armee baute auch die Anlage im Berg aus, doppelstöckig, installierte eine Apotheke, die auch Medikamente produzierte, sowie eine moderne Truppenunterkunft. In den 1980er Jahren deutete nichts mehr auf die Tragödie hin, die sich fast vierzig Jahre zuvor ereignet hatte. Bis der Leiter der Armeeapotheke auf den verschütteten Seitenbereich stiess, wo immer noch Munition lag. Die Folge: eine zweite Beurteilung durch Explosions- und Pyrotechnik-Experten im Jahr 1986. Diese bestätigten die Befunde von 1949: Eine Gefährdung durch die Munitionsüberreste bestehe nicht. Im Berg blieb es stets ruhig.
Als Kind spielte Monika Küenzi auf dem Plateau vor dem Stolleneingang, mit ihren eigenen Kindern feierte sie Geburtstage auf dem Platz: «Wir legten eine Decke hin und nahmen unsere Cervelats hervor.» Sorgen hätten ihr die Schlangen gemacht, nicht die Munition im Berg. Auch wenn sie ab und zu Patronenhülsen bei Gartenarbeiten gefunden habe: «Das war normal. Der Stollen gehört zum Dorf.» Heute darf niemand mehr das Plateau betreten, der Bereich ist gesperrt.
Die Pläne für ein neues VBS-Rechenzentrum ändern alles
Im Jahr 2017 wollte das VBS ein Rechenzentrum in den Stollen einbauen lassen. Dafür brauchte es wieder eine Risikobeurteilung. Was nach all den Jahrzehnten eine reine Formsache zu sein schien, ist der Ausgangspunkt der erneuten Leidensgeschichte für die Dorfbewohner von Mitholz.
Die Expertengruppe schrieb in wenigen Monaten einen Zwischenbericht mit beunruhigendem Fazit: Vom verschütteten Munitionsdepot gehe ein deutlich höheres Risiko aus als bisher angenommen.
Bundesrat Guy Parmelin, der damalige VBS-Vorsteher, überbrachte die Nachricht den Dorfbewohnern im Juni 2018 persönlich. In der Turnhalle von Mitholz schauten ihn Dutzende verunsicherte Gesichter an. Der Verteidigungsminister beschwichtigte: «Für die Bevölkerung sehen die Experten keine Notwendigkeit, Sofortmassnahmen zu ergreifen.» Die Armeeapotheke und die Truppenunterkunft wurden hingegen sofort geschlossen und eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Es gebe «offene Fragen», erklärte Parmelin, «auf die wir heute keine Antwort haben».
Auch Monika Küenzi war am Informationsanlass in der Turnhalle: «Mir hat es den Boden unter den Füssen weggezogen.» Jahrzehntelang habe das Militär die Anlage betrieben, auch Sprengungen durchgeführt, und plötzlich sollte das ehemalige Munitionslager gefährlich sein? «Aber wenn der Bundesrat so etwas sagt, wenn die Information von so weit oben kommt, dann muss man es fast glauben», sagt Küenzi.
Teil der ersten Expertengruppe und der neugegründeten Arbeitsgruppe war Franz Bär vom Kommando Kamir, der Fachstelle für Kampfmittelräumung der Schweizer Armee. Bär ist seit 2023 pensioniert. Er kann auf 26 Jahre Berufserfahrung zurückblicken. Die Armee hat ihn als Räumungsexperten nach Afrika, Asien oder in den Balkan geschickt. 2008 reiste er im Auftrag des VBS nach Albanien, wo ein Munitionslager explodierte und ein Dorf komplett zerstörte. 26 Menschen starben, 300 wurden verletzt. Die Räumung sei komplex gewesen, erzählt Bär. «Wir wussten nicht, was dort genau explodiert war, womit wir es zu tun haben.»
Anders im Fall Mitholz. Dort gibt es alte Inventarlisten, in denen genaustens dokumentiert war, welche Munition im Berg gelagert wurde. Mit diesen Listen musste die Arbeitsgruppe innerhalb von drei Monaten die Situation einzuschätzen. «Für mich war jedoch klar, dass unter diesem Zeitdruck keine fundierten Resultate möglich sind», sagt Bär rückblickend. Die groben Schätzungen hätten in einem ersten Schritt aufzeigen sollen, dass es ein Problem geben könnte und Vorsicht angebracht sei, bis Fakten auf dem Tisch lägen.
Für den ehemaligen stellvertretenden Kamir-Kommandanten Franz Bär hat das Projekt Mitholz eine «seltsame Dynamik» angenommen, die er bis heute nicht nachvollziehen kann.
Mitholz sei aus seiner Sicht ein Spezialfall, sagt Bär. Ein ehemaliges Lager unter dem Berg, neben einem Dorf, einer Hauptstrasse und einer Bahnstrecke: Das sei eine schwierige Ausgangslage. Wichtig sei in so einem Fall das systematische Vorgehen, welches Munitionsspezialisten weltweit seit Jahrzehnten anwendeten, um die Risiken einschätzen zu können. So würden erst historische Dokumente, wie eben Inventarlisten, studiert – falls vorhanden. Danach würden die Spezialisten unter Sicherheitsauflagen anfangen, zu graben und zu bohren, um erste Munitionsteile zu untersuchen und dann eine Risikoanalyse zu erstellen.
Beim Projekt Mitholz waren die Munitionsspezialisten jedoch nicht im Kernteam. Hier wurde ein anderes Vorgehen gewählt. Die Arbeitsgruppe schrieb innerhalb von fünf Monaten einen Bericht ohne vertiefte Untersuchungen. Darin steht, dass im ehemaligen Depot noch bis zu 3500 Tonnen Munition liegen könnten. Es sei plausibel, dass vor den Kammern 4 bis 6 «noch bis zu wenige 1000 Stück 50-kg-Bomben liegen». Diese seien «zum Teil in engem Kontakt» mit «massenreagierenden und bezünderten Artilleriegranaten». Kettenreaktionen könnten deshalb nicht ausgeschlossen werden.
Die Arbeitsgruppe ging von einem kleineren und einem grösseren Ereignis aus: Beim kleineren könnte eine Tonne Sprengstoff explodieren, beim grossen zehn Tonnen. Weiter berechneten die Risikoanalysten in der Gruppe, dass bei der grossen Explosion zehn Unbeteiligte sterben könnten. So ein Szenario sei zwar nur alle 3000 Jahre wahrscheinlich, damit aber nicht komplett unmöglich.
Das grosse Szenario machte Mitholz von einem Tag auf den anderen zum sogenannten «Störfall». In diesem Fall muss der Eigentümer einer Anlage die Bevölkerung und die Umwelt vor schweren Schäden schützen. In Mitholz ist dies der Staat. Der Bund setzte ein unabhängiges Institut aus Deutschland ein, um die Berechnungen des VBS zu überprüfen. Das Institut erklärte in einem eigenen Bericht, dass derzeit nichts ausgeschlossen werden könne. Es seien Massnahmen zu treffen, um das Risiko zu vermindern.
Munitionsspezialisten und Risikoanalysten sind uneins
Im Februar 2020 organisierte das VBS eine internationale Konferenz zu Mitholz. Dazu wurden Risikoexperten eingeladen und auf Wunsch des Kommandos Kamir auch Kampfmittelräumer aus Frankreich und Deutschland.
Robert Mollitor, ein erfahrener Kampfmittelräumer aus Mecklenburg-Vorpommern, erinnert sich heute, ihn hätten in Mitholz nicht die Munitionsreste beunruhigt, sondern die Risse im Berg: «Ein zerklüfteter Berg ist das. Wir hatten Angst, der Himmel falle uns auf den Kopf!» Das Fazit der Munitionsspezialisten: Die Geologie sei heikel, nicht aber die Munition. Diese sei «daily business» und weniger gefährlich als die tägliche Arbeit mit Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg.
Anders sahen dies Risikoexperten aus den USA, Norwegen oder den Niederlanden, die ebenfalls nach Mitholz gekommen waren. Sie schätzten eine Räumung als gefährlich ein.
Dass Risikoanalysten und Munitionsspezialisten ein Räumungsprojekt gemeinsam einschätzen, hat Robert Mollitor noch nie erlebt: «In Mitholz sind wirklich zwei Welten aufeinandergetroffen: die Praktiker mit jahrzehntelanger Erfahrung und jene, die Statistiken machen und Wahrscheinlichkeiten berechnen.» In Deutschland würden in jedem Fall die Munitionsspezialisten das Gefahrenpotenzial einschätzen, da sie sich bei der Räumung selbst unmittelbar in Gefahr begäben.
Der Bericht zu diesem internationalen Treffen war noch nicht geschrieben, da reiste erneut hoher Besuch ins Kandertal: Viola Amherd, die Nachfolgerin von Guy Parmelin im VBS. Sie schaffte plötzlich neue Fakten. Das VBS wolle die Munition komplett aus dem Berg räumen. Dafür müsse Mitholz für mindestens zehn Jahre zum Geisterdorf werden. Alle Einwohner müssten wegziehen, zu gross seien die Risiken während der Räumung.
«Wir standen alle unter Schock», erinnert sich Monika Küenzi. Fassungslos seien die rund 170 Bewohner in der Turnhalle in Kandergrund gesessen. Niemand habe noch gross etwas gesagt. «Wohin sollen wir gehen?», hätten ihre Eltern nach dem Anlass gefragt. Seit über zwei Jahrzehnten wohnten sie zusammen in einem Zwei-Generationen-Haus mit grossem Garten und Hühnern: «Das findet man so nirgendwo mehr zu einem bezahlbaren Preis.»
Dass der Staat sie schützen will, lässt sie nicht gelten: «Wie schützt er mich denn? Indem er mich vertreibt?» Die Existenzängste, mit denen die Dorfbewohner konfrontiert worden seien, hätten viele krank gemacht, sagt Küenzi: «Einige plagen seither Magen- oder Herzprobleme, andere können kaum mehr schlafen.» Ältere Leute würden sich teilweise wünschen, dass sie vor der Räumung stürben, um Mitholz nicht verlassen zu müssen.
Acht Monate nach dem Besuch von Amherd publizierte die VBS-Projektgruppe eine weitere Risikoanalyse. Darin steht, es habe «umfangreiche Abklärungen, Versuche, numerische Berechnungen, Vermessungen der Anlage und Feldbegehungen» gegeben. Dennoch gebe es «zurzeit keine relevanten neuen Erkenntnisse» zur Frage, wie die Munition verteilt sei und wo sich eine Explosion ereignen könnte. Deshalb werde weiterhin mit dem 10-Tonnen-Ereignis gerechnet, dem Worst-Case-Szenario. Sicher ist sicher. Der Staat ist in der Verantwortung.
Franz Bär sagt, in dieser Zeit hätten er und seine Spezialisten «keinen Stein umdrehen dürfen» für vertiefte Analysen. Das Projekt habe sich verselbständigt und eine «seltsame Dynamik» angenommen, die er bis heute nicht nachvollziehen könne: «Es wurde gerechnet und gerechnet. Wir Praktiker hatten nichts zu sagen.»
Im Frühling 2022 definierte das VBS einen Sicherheitsperimeter für die Zeit der Räumung «unter Berücksichtigung möglicher Splitterwirkungen». Plötzlich mussten nicht mehr alle Bewohner wegziehen, sondern nur noch 51 in der Kerngefahrenzone. Die Grenze zu dieser Zone verläuft genau vor dem Haus von Monika Küenzi. Sie muss nun doch nicht fortziehen. «Ich bin natürlich überglücklich», sagt sie. Doch das Dorf leere sich. Viele hätten ihr Haus vorsorglich dem VBS verkauft und seien umgesiedelt. Das VBS habe allen Bewohnern erklärt, sobald die Räumung beginne, sei es sowieso nicht mehr lebenswert in Mitholz. Es werde zu viel Lärm, Staub und Erschütterungen kommen. «Sie wollen uns einfach alle weghaben», so Küenzi überzeugt.
Räumungskonzept trotz vielen Unsicherheiten
Die Kampfmittelspezialisten der Armee, die das ehemalige Lager Mitholz schliesslich räumen müssen, haben gemäss Franz Bär auf viele offene Fragen hingewiesen. Dennoch hätten sie im Auftrag des VBS ein Räumungskonzept erstellen müssen. Darin berechnen sie die Kosten für die Räumung auf rund 107 Millionen Franken. Und sie hinterfragen das bisherige Vorgehen sowie die «nicht validierten Annahmen aus den Risikoanalysen».
An diesem Konzept hatte das VBS offenbar keine Freude. Es habe verlangt, dass die heiklen Stellen gelöscht würden, erklärt Bär. Die Spezialisten passten daraufhin das Konzept drei Mal an, weigerten sich jedoch, die kritischen Stellen zu entfernen. Franz Bär, der beim Projekt Chef Räumung war, verstand die Welt nicht mehr. Das Kommando Kamir sei eine Fachstelle und als solche auch anerkannt vom VBS. Dass das Departement als Auftraggeber verlange, Änderungen in einem Fachbericht vorzunehmen, «ist gelinde gesagt anmassend».
Das VBS-Projektteam schreibt dazu auf Anfrage, dass der Freigabe von Dokumenten «immer Vernehmlassungen und eine Qualitätssicherung» vorangehen würden. Aufgrund dieses Prozesses sei «das Räumkonzept in mehreren Schritten angepasst» worden. Das Konzept habe es vor den technischen Untersuchungen gebraucht, «damit Ende 2022 der Verpflichtungskredit für die Räumung beim Parlament beantragt werden konnte». Es sei dabei klar gewesen, dass das Konzept «weiter konkretisiert werden muss» mit Sondiergrabungen.
Auch das Institut aus Deutschland, das die Risikoanalysen als unabhängige Stelle kontrollierte, schrieb in seinem bislang letzten Bericht im Jahr 2022: technische Untersuchungen würden «nach wie vor als einzig mögliche Quelle angesehen», um die Unsicherheiten der berechneten Risiken «deutlich zu reduzieren».
Im Herbst 2022 konnten die Kampfmittelräumer der Armee die vor Jahren geforderten Grabungen und Bohrungen starten. Insgesamt 18 Stellen wollten sie untersuchen. «Das waren jene Punkte, von denen wir uns den grössten Erkenntnisgewinn erhofften», erklärt Bär.
Gleichzeitig musste sich die Politik mit dem Dorf Mitholz und seiner Fluh beschäftigen. Der Bundesrat beantragte einen Kredit über 2,59 Milliarden Franken für das Projekt. Mit diesem Geld sollten die Räumung und massive Schutzmassnahmen für die Bevölkerung, die Strasse und die Bahn bezahlt werden.
Dem Milliardenkredit wollte die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates nicht leichtfertig zustimmen. Sie stand im Austausch mit Anwohnern, die das VBS-Vorgehen kritisierten, und lud die Kampfmittelspezialisten der Armee zu einer Sitzung ein. Bär erinnert sich: «Endlich wollte jemand wissen, was wir zu sagen haben.» Dreissig Minuten Zeit hätten sie in der Kommission gehabt. Sie präsentierten die ersten Ergebnisse ihrer Sondierungsgrabungen und beantworteten Fragen. Die Sicherheitspolitiker entschieden daraufhin, das Projekt müsse ein Jahr lang pausiert werden. Die Grabungen sollten weiterlaufen und Alternativen zur Räumung geprüft werden.
Der Entscheid führte zu Widerstand. Das VBS-Projektteam sprach sich öffentlich gegen die Sistierung aus. Auch einzelne Dorfbewohner, die sich mit der Räumung abgefunden hatten, protestierten. Schliesslich gaben die Sicherheitspolitiker den Kredit frei.
Bis im März 2024 gruben die Munitionsspezialisten weiter. Sie holten fast 10 000 Bomben, Granaten, Geschosse und Minen aus dem ehemaligen Depot. «Es war eine eigentliche Teilräumung von ‹Hotspots›, wo das 10-Tonnen-Ereignis vermutet wurde», sagt Bär. Im Abschlussbericht zu den Sondierungsgrabungen steht, das Stein- und Sprengstoffgemisch könne ein Umweltproblem darstellen, aber kein Explosionsrisiko. Lediglich eine einzelne Granate «mit maximal 5 Kilogramm» Sprengstoff könnte explodieren bei der Räumung.
Die Risikobeurteilung von 1949 und jene von 1986 würden sich damit «bestätigen». Der meiste Sprengstoff sei im Jahr 1947 verbrannt, als es über eine Woche lang im Berg zu Explosionen gekommen sei. «Eine Massenexplosion ist aufgrund der Vermischung von Munitionsresten mit Sand, Kies und Gestein heute nicht mehr möglich», sagt Bär. Die Spezialisten schliessen den Bericht mit der Empfehlung ab, dass aufgrund dieser Ergebnisse geprüft werden solle, ob die bisherige Risikobeurteilung «angepasst werden kann».
VBS-Projektteam: «keine Teilräumung»
Das VBS-Projektteam widerspricht auf Anfrage mehreren Punkten. Die Sondiergrabungen seien «keine Teilräumung» gewesen, da es sich um manuelle «technische Untersuchungen» gehandelt habe. Deshalb habe auf «umfassende Schutzmassnahmen» verzichtet werden können. «Nur rund ein Viertel des verstürzten Bahnstollens» habe erkundet werden können, weswegen «keine allgemeingültigen Rückschlüsse» auf die gesamte Munitionsmenge gezogen werden könnten.
Der Abschlussbericht des Kommandos Kamir sei ausgerichtet auf Einzelereignisse, schreibt das VBS. «Gemäss den rechtlichen Vorgaben, insbesondere der Störfallverordnung, müssen mit der Risikobeurteilung die Munitionsrückstände als Ganzes und damit auch Massenereignisse berücksichtigt werden.» Die Risikobeurteilung werde «durch ein Expertengremium, in dem verschiedene Fachdisziplinen vertreten sind», erstellt. «Alle neuen Erkenntnisse» würden laufend in die Risikobeurteilungen einfliessen und diese «immer weiter konkretisieren».
Simulationen und Sprengversuche hätten ausserdem gezeigt, dass Massenübertragungen bei Munitionsrückständen im Berg nicht ausgeschlossen werden könnten: «Basierend auf allen abgeschlossenen Untersuchungen gilt das 1-Tonnen-Ereignis als wahrscheinlichste Ereignisgrösse.» Ein 10-Tonnen-Ereignis könne «aber nach wie vor nicht ausgeschlossen werden». Die bisherige Risikoanalyse bleibe bestehen, das sei auch die Einschätzung des Bundesamtes für Umwelt und des eingesetzten Instituts aus Deutschland.
Viele in Mitholz sind müde vom jahrelangen Kampf für ihre Heimat. Zeitweise auch Monika Küenzi: «Jedes Mal, wenn ich darüber spreche, rüttelt es mich wieder auf.» Halt gebe ihr der Glaube. Das Dorf habe seit der ersten Informationsveranstaltung des VBS eine Gebetsgruppe, die sich regelmässig treffe. Schliesslich hofft sie, dass die Jahre der Räumung nicht so schlimm werden wie prognostiziert. Dass sich Lärm und Staub in Grenzen halten. Denn sie und ihre Eltern wollen auf keinen Fall wegziehen: «Wer soll hier sonst wohnen? Die Jungen, die weggezogen sind, kommen nicht zurück.» Dass es erneut zu Explosionen kommt, glaubt sie noch immer nicht: «Die VBS-Verantwortlichen selbst sprechen öfter vom verseuchten Grundwasser als von der Munition.» Deswegen hätte aber niemand aus dem Dorf wegziehen müssen. «Nicht zu weit denken», sagt sie, «sonst dreht man durch.»