Im Herbst fassen die deutschen Behörden einen Kurier mit grossen Mengen von Pregabalin. Sie sind alarmiert: Die Substanz verbreitet sich als Suchtmittel vor allem in Asylzentren, Gefängnissen und an Drogen-Hotspots.
Innerhalb von nur gerade zehn Monaten wird ein libyscher Asylsuchender an fünf Orten in der Schweiz insgesamt sieben Mal verurteilt: wegen wiederholten Diebstahls, Sachbeschädigung, Hehlerei, Beschimpfung Tätlichkeiten und Betäubungsmitteldelikten. Im Mai 2024 steht der Mann in Basel schon wieder vor Gericht. Weil er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, soll er die Dreirosenanlage nicht mehr betreten dürfen – einen Kleinbasler Hotspot mit viel Drogen, Gewalt und Polizeieinsätzen.
Im Mittelpunkt steht bei der Gerichtsverhandlung ein Medikament, das Drogenfachleuten seit einiger Zeit Sorgen bereitet: Pregabalin. Mehrfach wurde der Libyer mit teilweise erheblichen Mengen davon erwischt, ohne dass er ein Rezept hatte. Pregabalin wird zur Behandlung von Epilepsie, Angstzuständen und Nervenleiden eingesetzt. In Europa wird es unter dem Namen Lyrica verkauft. Doch es ist auch eine berauschende und euphorisierende Substanz, die aggressiv machen und in die Abhängigkeit führen kann. Deswegen wird gegen den Libyer zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit eine Ausgrenzungsverfügung erlassen. Das geht aus einem Urteil des Basler Appellationsgerichtes hervor.
In Nordafrika rezeptfrei erhältlich
Behörden und Mediziner stellen seit einiger Zeit fest, dass Pregabalin als Droge missbraucht wird. Die Besonderheit: Das Medikament ist nicht zuletzt bei Migranten aus Nordafrika verbreitet. Im Asylbereich ist der Konsum von Beruhigungsmitteln generell ein grosses Thema. Viele Asylsuchende, die auf strapaziöse Weise nach Europa kommen, geraten – wenn sie nicht schon in der Heimat abhängig geworden sind – auf der Flucht in Kontakt mit Medikamenten. Pregabalin ist beliebt, weil es relativ einfach erhältlich ist. In nordafrikanischen Ländern teilweise sogar rezeptfrei. In vielen Ländern ist der Missbrauch ein Problem.
So gingen die deutschen Behörden 2024 mehrfach gegen Banden vor, die einen organisierten Handel mit diesem Medikament sowie mit Betäubungsmitteln aufzogen. Die Zollfahndung führte im August mehrere Durchsuchungen und Festnahmen in Asylunterkünften in Baden-Württemberg durch. Ursprung der Ermittlungen war ein Mann, in dessen Reisegepäck die Polizei 30 000 Pregabalin-Tabletten gefunden hatte. Einen Monat später kam es erneut zu Festnahmen. Und wieder wurden Tausende von Pregabalin-Pillen sowie Ecstasy und weitere Drogen gefunden.
Asylsuchende konsumieren das Medikament teilweise in grossen Mengen. Als Folge davon kommt es an exponierten Orten wie der Dreirosenanlage oder in Asylzentren vermehrt zu unberechenbarem oder aggressivem Verhalten. Wird das Medikament zur Behandlung von Leiden und wie vom Arzt verschrieben eingenommen, ist es zwar sicher. Doch bei zu hoher Dosierung und in Kombination mit Alkohol oder anderen Betäubungsmitteln kann es gefährlich werden. In verschiedenen Ländern ist es deshalb zu Todesfällen gekommen. In Schweden konnte sogar bei mehr als einem Viertel aller Drogentoten Pregabalin nachgewiesen werden.
Drastischer Anstieg von Verschreibungen
Jochen Mutschler, der Chefarzt Stationäre Dienste der Luzerner Psychiatrie AG, gehört zu den Fachleuten, die den Missbrauch von Pregabalin schon lange im Auge haben. Vor fünfzehn Jahren entdeckte er, dass die Substanz abhängig macht. Mit mehreren Untersuchungen konnte er aufzeigen, wie sich das Phänomen in Europa immer mehr etablierte. Betroffen ist dabei nicht nur der Asylbereich. So zeigt eine Studie Mutschlers aus dem 2024, dass das Medikament in deutschsprachigen Gefängnissen weit verbreitet ist. Nicht nur, aber überdurchschnittlich häufig bei Personen aus den Maghreb-Staaten. Auch bei Personen mit einer Abhängigkeit von anderen Suchtmitteln kommt Pregabalin-Missbrauch häufig hinzu.
Gegenwärtig handle es sich zwar nicht um ein flächendeckendes Phänomen, weil sich der Missbrauch bis jetzt auf ganz bestimmte Bereiche konzentriere, sagt Mutschler – zum Beispiel auf Gefängnisse, Asylunterkünfte oder Drogen-Hotspots. Dort sei das Problem allerdings erheblich. Gleichzeitig sei in vielen Ländern ein teilweise drastischer Anstieg von Verschreibungen von Pregabalin zu beobachten. Es lasse sich deshalb nicht ausschliessen, dass sich der missbräuchliche Konsum in den kommenden Jahren auf weitere Gruppen ausdehnen werde. «Es ist zwingend notwendig, dass wir dieses Problem im Auge behalten», erklärt Mutschler.
Erfahrungen im Basler Gesundheitsdepartement bestätigen die Aussagen. Dort ist Pregabalin wegen der Nähe zur Grenze und zum Bundesasylzentrum stärker verbreitet als in anderen Kantonen. Obwohl das Medikament erkennbar auf dem Vormarsch ist, würden Cannabis, Kokain oder Opioide jedoch «von ungleich mehr Menschen konsumiert», erklärt Anne Tschudin, Sprecherin des Departementes. Tatsächlich erinnert der Pregabalin-Missbrauch auf den ersten Blick an die Opioid-Krise: Vor allem in den USA führten die verbreitete Verschreibung und der Missbrauch von opioidhaltigen Schmerzmitteln innerhalb von wenigen Jahren zu einer Gesundheitskrise mit Zehntausenden von Toten.
So schlimm wie die Opioid-Krise?
Auch Mutschler sieht diese Parallelen. Mit einer derart gefährlichen Dynamik sei zwar nicht zu rechnen. Das Gefahrenpotenzial sei vor allem aus einem Grund kleiner, erklärt er: Während die Einnahme von Opioiden fast alle Konsumenten rasch abhängig mache, sei dies bei Pregabalin nur bei einem kleinen Teil der Fall. Problematisch sei aber, dass das Medikament immer häufiger verschrieben werde – und dies auch in Fällen, für die es gar nicht vorgesehen sei. Mediziner sprechen dabei von sogenannten Off-Label-Anwendungen. Das erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer unkontrollierten Ausbreitung des Missbrauchs komme.
Für Institutionen, in denen der Pregabalin-Konsum schon heute ein Problem ist, stellt sich deshalb die Frage nach der besten Gegenstrategie. In den Bundesasylzentren (BAZ) wird laut Staatssekretariat für Migration (SEM) grundsätzlich kein Pregabalin mehr abgegeben. Dies, weil in den meisten Fällen keine Indikation vorliegt, wie die SEM-Sprecherin Magdalena Rast erklärt. Nur in Ausnahmefällen wird es unter ärztlicher Verordnung verabreicht. Das SEM will damit laut Rast nicht zuletzt verhindern, dass Personen einzig ein Asylgesuch stellen, um in einem BAZ untergebracht zu werden und die Substanz dort zu erhalten.
Ein derart restriktives Vorgehen führe allerdings dazu, dass das Problem verlagert werde, kommentiert Mutschler: Pregabalin werde einfach über andere Kanäle bezogen. Weil ein sofortiges Absetzen des Medikamentes zu äusserst heftigen Entzugserscheinungen bis hin zu Eigen- und Fremdgefährdung führen könne, steige der Druck auf Ärztinnen und Ärzte, das Medikament im Zweifelsfall doch abzugeben. Wenn manche Behörden Pregabalin verweigerten, sei das aus deren Optik zwar verständlich, sagt Mutschler: «Doch dadurch werden einfach andere Stellen belastet.»
Kontrollierte Abgabe wird geprüft
Er hält stattdessen die kontrollierte Abgabe wie bei anderen Suchtmitteln für sinnvoll. So sei es möglich, abhängige Patienten vom Schwarzmarkt fernzuhalten und schrittweise abzudosieren. Genau diesen Weg hat das Rückkehrzentrum in Urdorf in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Suchtmedizin beschritten. Das Medikament wird dort täglich dosiert und gezielt an bestimmte Personen abgegeben. Auf diese Weise sei Ruhe ins Zentrum gebracht worden, ohne dass ein Schwarzmarkt entstanden sei, erklärte der für das Projekt zuständige Arzt Tibor Rasovszky kürzlich dem Basler Web-Magazin «Bajour».
In Basel beobachtet man solche Versuche mit Interesse: Inzwischen habe eine «Auslegeordnung mit verschiedenen Sichtweisen» stattgefunden, erklärt Tschudin vom Gesundheitsdepartement gegenüber der NZZ. Weil sich die Szene in Basel weit weniger gut eingrenzen lasse, als dies in einer geschlossenen Institution wie einer Haftanstalt oder einem Rückkehrzentrum der Fall sei, sei die Ausgangslage allerdings viel komplexer. Ein konkretes Projekt gebe es deshalb vorerst nicht. Eine Praxisänderung sei auch im Moment beim SEM nicht vorgesehen, heisst es dort. Es sei tatsächlich nicht einfach, den richtigen Weg zu finden, sagt Mutschler: Wichtig sei aber, die Sache systematisch anzupacken: «Wenn jede Institution nur für sich denkt, bekommen wir das Problem nicht in den Griff.»