Mittwoch, Oktober 9

Aber keine Entschuldigung. Teil 2 der Serie «Geschwister»

Unser Grossvater baute die Hütte für uns alle, aber bewohnen würde sie nur ich. Beziehungsweise mein Teddybär. Also, nun gut, eigentlich ich. Nein, ich litt nicht an einer multiplen Persönlichkeitsstörung, ich war nur der älteste Bruder. Und, so würde ich das formulieren, strategisch und weitsichtig. Meine Geschwister würden heute sagen: manipulativ.

Es gibt viele Geschichten von älteren oder ältesten Brüdern und Schwestern, die ihre Geschwister fürsorglich beschützt oder vielleicht gar als Elternersatz aufgezogen haben. Solcherlei Geschichtsklitterung käme mir niemals in den Sinn. Ich will ehrlich von etwas erzählen, was man sonst gerne verschweigt: dass es unter Geschwistern ein natürliches Machtgefälle gibt. Einer war schliesslich zuerst da.

Wir waren zu dritt, meine Schwester, die Jüngste, mein Bruder, der Mittlere, und ich. Den Abstand hatten unsere Eltern gut gewählt, zwei Jahre von mir zu meinem Bruder, nochmals drei zu meiner Schwester, so nahe, dass wir zusammen spielten und stritten und, so empfand ich das, uns als Einheit verstanden. Bloss: Jede Einheit braucht auch einen Anführer. Sie ahnen, worauf das hinausläuft.

Mehr Geschwister erlaubte uns auch, grösser zu denken. Oder grössenwahnsinniger: Hinter dem Maiensäss in Graubünden, wo wir mit unseren Grosseltern jeden Herbst zwei Wochen verbrachten, befand sich ein Wald, und diesen Wald erklärten wir zu unserem eigenen Land. Drei Bewohner machen aber noch keinen Staat, also erklärten wir unsere Plüschtiere zu Staatsbürgern in unserem Waldstaat: mein Braunbär, mein Waschbär, der Hase meiner Schwester und der Hund meines Bruders (womöglich waren es noch mehr, aber kein Staatsoberhaupt, ähm, ältester Bruder kann sich alle Untertanen, ich meine Bürger, merken).

Die Hütte, die unser Grossvater für uns gebaut hatte, war einfach. Eine zeltartige Konstruktion, die Wände mit Tannenästen belegt, im Inneren aus Holzscheiten eine Bank und ein Tisch beziehungsweise Pult, schliesslich, das hatte ich als Ältester schnell entschieden, sollte das Gebäude als Rathaus und Wohnsitz des Präsidenten unseres Staates dienen.

Ob meinen Geschwistern klar war, dass ich beabsichtigte, mit meiner Partei regelmässig die Wahlen zu gewinnen und so diese Hütte zu besetzen, weiss ich nicht mehr. Vermutlich überzeugte ich sie von dieser merkwürdigen Regel, indem ich darlegte, dass es ja kaum gerecht wäre, die Hütte, vom Grossvater für alle erbaut, einfach irgendeinem von uns dreien als Wohnsitz zu geben. Die Übergabe in die «neutralen» Hände eines Bürgermeisters oder Präsidenten stellte sicherlich die gerechteste aller Lösungen dar.

Haben Sie kurz beim Wort «Partei» gestutzt? Wieso denn das? Es versteht sich doch von selbst, dass ein von Kindern und Plüschtieren gegründeter Waldstaat eine politische Struktur braucht. Ich konnte mich ja schlecht direkt zum Diktator aufschwingen; so naiv waren dann meine Geschwister doch nicht. Ich war zwar der Älteste und damit etwas grösser, etwas stärker und vielleicht auch etwas gebildeter. Aber mit dem geringen Altersunterschied hatten meine Eltern «checks and balances» in die Geschwisterstruktur eingebaut. Ich beschloss also, pardon, wir entschieden gemeinsam, dass jeder von uns eine Partei gründen sollte, die in Wahlen gegeneinander antreten würden.

Da selbstverständlich jeder von uns für seine eigene Partei stimmte und die Stofftiere ebenfalls keinerlei Anstalten machten, als Wechselwähler für die Wahlversprechen fremder Parteien empfänglich zu sein, endete jede Wahl in einer Pattsituation, die an Schweizer Verhältnisse erinnerte. Glücklicherweise wusste ich eine Lösung: Eine Koalitionsregierung musste her.

Ich bot also abwechselnd meiner Schwester oder meinem Bruder eine Koalition an, zu Beginn jeweils unter meinem Vorsitz, später dann, aufgrund der Amtszeitbeschränkung, unter Vorsitz meines Teddybären, der, ein Medwedew in plüschener Gestalt, ganz in meinem Sinne durchregierte, bis ich wieder selbst zur Wahl antreten durfte.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich nun drei Dinge fragen: Wieso haben sich meine Schwester und mein Bruder nicht gegen mich verbündet? In welchem Alter spielten wir solche Spiele? Und woher zum Teufel hatten wir als Kinder all diese Ideen?

Zuerst die Schuldfrage, die eine für meinen Arbeitgeber etwas unangenehme Antwort enthält. Mein Grossvater brachte nämlich jeden Nachmittag vom Dorf die Post und damit auch die NZZ. Zuerst verschlang ich diese wegen der Sportberichte, dann, unter Anleitung meiner mit Aktien handelnden Grossmutter, auch den Wirtschaftsteil und später die Politiktexte. Die Meinungen, wie sehr diese Zeitung einer glücklichen Kindheit zuträglich ist, gehen auseinander.

Wie alt wir genau waren, wissen wir alle nicht mehr. Aber aus der Altersdifferenz (meine Schwester musste bereits etwas lesen können) lässt sich rekonstruieren: Ich muss bei der Staatsgründung ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein.

Die Frage nach dem politischen Widerstand muss ich an meine Geschwister weitergeben. Meine Schwester sagt, sie habe sich durchaus mit meinem Bruder verbündet. «Aber dann wurde das durch deine Parteidiktatur unterdrückt.» Mein Bruder erklärt da schon viel sachlicher: Wenn es eine Koalition gegeben habe, «dann höchstens eine kurzlebige».

Tatsächlich liess ich grosszügig und im Sinne des Staatsfriedens auch immer wieder einmal einer anderen Partei den Vortritt. (Vielleicht war das eines der Argumente, mit denen ich jeweils die Koalitionsverhandlungen führte. «Nächstes Mal bist du an der Reihe», um dann beim nächsten Mal mit dem vormaligen Gegner das ähnliche Spiel abzuziehen.)

In einer Ausgabe der «Times», der Qualitätszeitung unseres Waldstaates, die ich regelmässig mit komplett erfundenen Artikeln füllte, liest man jedenfalls vom Wahlsieg der Partei meines Bruders, der Liberal-Konservativen Partei (LKP). Sicherlich hatte ich dafür gesorgt, dass sein Koalitionspartner, die Hundepartei meiner Schwester, seiner Regierung bald das Vertrauen entzog und es zu vorgezogenen Neuwahlen kam. Eine Lektion in Demokratie, für die mir meine Geschwister bestimmt bis heute dankbar sind.

Wenn ich Freunden erzähle, was wir als Kinder spielten, dann schauen sie mich etwas irritiert an. In ihren Augen erkenne ich Mitleid, aber nicht mit mir, sondern mit meinen Geschwistern.

«Nein, nein, so schlimm war das gar nicht, das war toll, wir hatten Spass!», sage ich dann, etwas zu schnell und zu euphorisch, so dass sich das Mitleid in den Augen noch verstärkt, nun auch mir gewidmet, diesem uneinsichtigen Despoten, der selbst in einem Alter, in welchem man etwas Selbstreflexion erhoffen dürfte, immer noch einer Lüge anhängt: dass er als älterer Bruder für seine Geschwister ein Gewinn gewesen sein muss.

Vieles sagt man den ältesten Geschwistern nach: dass sie besonders verantwortungsbewusst seien, pflichtbewusst, etwas ernster auch. Und unabhängig, weil sie Freiheiten erkämpfen müssen, von denen die Nachgeborenen profitieren.

Die Wissenschaft hat diese Rollenzuschreibungen zu beweisen versucht. Keine noch zu groteske Forschungsfrage in der Geschwisterforschung ist unbearbeitet geblieben (mein Favorit: Gehen jüngere Geschwister beim Baseball mehr Risiko ein als ältere Geschwister? Antwort: Ja!). Leider verhält sich der Aufwand, mit dem Geschwisterforschung betrieben wird, umgekehrt proportional zu den gesicherten Erkenntnissen.

Unangenehme Fragen sparen aber auch Geschwisterforscher gerne aus. Klartext ist nötig. Als Ältester erfährt man, wenn auch in meinem Fall nur unbewusst, als einziges der Geschwister das Leben als Einzelkind. Jeder geschwisterliche Familienzuwachs ist folglich in den Augen des Erstgeborenen ein potenzieller Privilegienverlust. Wie soll man so früh im Leben mit Verlustängsten konfrontiert zu einem normalen, integren Menschen heranwachsen?

Aber mein Elend bleibt unerhört. Nicht, dass die Sorgen ältester Geschwister zu wenig mediale Aufmerksamkeit fänden. Unter dem Schlagwort «Eldest-Daughter-Syndrome» erzählten in den vergangenen Monaten die ältesten Töchter asiatischer Familien in den sozialen Netzwerken davon, wie sie an der Rolle der Ältesten und den damit verbundenen Erwartungen der Eltern zerbrochen seien. Ich bin zwar keine Tochter und entstamme auch nicht einer asiatischen Familie, aber ich glaube zu wissen, wovon sie reden. Aber ich denke, ich kann den ältesten Töchtern, als ältester Bruder um keinen Ratschlag verlegen, mit einem Perspektivenwechsel helfen.

Der oder die Erste hat einen Vorsprung. Ich war ja etwas grösser, etwas stärker und etwas lebenserfahrener. Ich war zuerst da, kannte meine Eltern schlichtweg zwei Jahre länger. Nur logisch, dass die Eltern da im Gegenzug mehr erwarten. Aber was gibt es denn da zu klagen? Haben denn die ältesten Töchter nicht verstanden: Aus grosser Verantwortung folgt grosse Macht! (Oder war das umgekehrt?)

Natürlich spürte ich, dass die Eltern mir als Ältestem unbewusst eine Art Sorge anvertraut haben. Wenn wir zu dritt spielten, alleine im Wald, war irgendwie dann doch ich derjenige, von dem man erwarten durfte, dass er im Hinterkopf behält, wie am Schluss wieder alle heil aus dem Wald finden würden.

Mein Machtstreben war also Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein! Als wohlmeinender Herrscher sorgte ich mich um meine Geschwister. Dass diese meine hehren Absichten nicht verstanden und mir puren Eigennutz vorwarfen, ist kein Widerspruch. Im Gegenteil, ich bin , wie so viele visionäre Staatsgründer, ein Opfer des Zeitgeistes.

Damit hier für die Nachwelt kein Missverständnis auftritt, hier noch einmal für alle Zeiten festgehalten: Ich hegte nur die besten Absichten, ich liebte meine Geschwister, nicht nur als Spielfiguren, die die Spielmöglichkeiten erweiterten.

Ob mir das als Kind bewusst war? Man spielt ja sowieso zusammen, hat gar keine Wahl. Ich erinnere mich, dass ich Einzelkinder bedauerte. Einer meiner besten Freunde hatte zwar auch zwei Schwestern, aber diese waren deutlich älter. Er tat mir etwas leid. War das nicht ein schrecklich einsames Leben?

Einmal begleitete er uns für eine Ferienwoche ins Maiensäss. Ich erinnere mich, dass wir ihn in unseren Waldstaat zu integrieren versuchten. Aber es schien uns schnell klar, dass er irgendwie nicht in diese Welt gehörte. Nicht nur, weil ich ihn, den Gleichaltrigen, nicht führen (oder manipulieren) konnte. Sondern auch, weil es eine Phantasiewelt war, die uns gehörte und uns so sehr verband, dass sie alle anderen ausschloss.

In unserer Serie «Geschwister» beleuchten wir die Beziehungen zwischen Schwestern und Brüdern und wie sie uns prägen. Hier geht es zu Teil 1.

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