Mittwoch, Oktober 9

Bereits vor über fünfzig Jahren solidarisierten sich Studentinnen und Kunstschaffende mit der palästinensischen Sache. Einige von ihnen radikalisierten sich und machten bei Flugzeugentführungen und Sprengstoffanschlägen mit.

Auf Mohammed Boudia aufmerksam wurde die Genfer Polizei am 3. Dezember 1972 wegen einer Lappalie. An diesem Sonntagvormittag stand sein Auto mit französischem Kennzeichen, ein roter Renault 16, in der Genfer Innenstadt im Parkverbot – Boudia erhielt eine Busse.

Der Algerier, damals 40 Jahre alt, war kein unbeschriebenes Blatt. Bereits als Teenager hatte er sich am Unabhängigkeitskampf seines Landes gegen die Kolonialmacht Frankreich beteiligt. Nach einem Regimewechsel in Algerien emigrierte der Schauspieler und Regisseur nach Paris, wo er im Universitätsviertel das avantgardistische Théâtre de l’Ouest leitete.

Laut einem Bericht des französischen Geheimdiensts hatte sich dort ab 1970 eine propalästinensische Bewegung formiert, die sich vorwiegend aus Nordafrikanern im französischen Exil zusammensetzte. Ihnen schlossen sich einheimische Linksextremisten aller Couleur an – genannt werden Marxisten, Maoisten oder Anarchisten.

Einiges in diesem Bericht erinnert an die heutige Protestbewegung gegen den Krieg in Gaza, die seit einigen Wochen an Universitäten in den USA und in Europa aufflammt. Zwar war die postkoloniale Theorie, die derzeit die Debatte beherrscht, in den 1970er Jahren noch kein Begriff. Aber schon damals bezeichnete man Israel als «Agenten des Imperialismus im Nahen Osten», an den Happenings am Théâtre de l’Ouest solidarisierte man sich mit den «unterdrückten Palästinensern».

Was aus dem Bericht des französischen Geheimdiensts ebenfalls hervorgeht: Aus diesem propalästinensischen Umfeld wurden gezielt Personen für terroristische Anschläge rekrutiert. «Die von den arabischen Kadern angeworbenen Mitarbeiter des Netzes, auch die weiblichen, zeigten sich in jeder Hinsicht als gute Helfer», heisst es in dem Bericht, den der französische Inlandgeheimdienst DST 1971 an die schweizerische Bundespolizei übermittelte.

Vor allem junge Frauen

Im entsprechenden Dossier im Bundesarchiv zeigt sich eindrücklich, wie vor allem junge Frauen sich für handfeste Helferdienste einspannen liessen, etwa für den Transport von Waffen oder Sprengstoff. Einzelne waren sogar bereit, selbständig Operationen durchzuführen und für die «palästinensische Sache» unschuldige Personen zu töten. Eine von ihnen war Evelyne B.

Sie war damals 25 Jahre alt, war in Deutschland zur Welt gekommen, aber in Frankreich aufgewachsen. Nach ihrer Ausbildung zur Englischlehrerin unterrichtete sie an einem Gymnasium in Paris. Wenn sie schulfrei hatte, mutierte Evelyne B. zur Teilzeit-Terroristin.

Verantwortlich für die Rekrutierung von solchen Gehilfinnen für die palästinensische Sache war Mohammed Boudia. In Paris war der Algerier nicht nur Theaterdirektor, er war auch Kadermitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Die linksextreme PFLP war innerhalb der palästinensischen Befreiungsfront (PLO) eine besonders gewaltbereite Kommandogruppe. Ausser in Paris rekrutierte Boudia seine Mitstreiterinnen auch in Genf. Hier liefen die Fäden des «Schwarzen September» zusammen, einer mysteriösen Terrororganisation, die sich abseits der PLO positionierte. Ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit brannte sich der «Schwarze September» 1972 mit dem Olympia-Attentat von München, bei dem palästinensische Geiselnehmer elf Sportler und Funktionäre der israelischen Delegation töteten.

In jener Zeit reiste Boudia häufig nach Genf. Dabei tauschte er sich nicht nur mit Führungsleuten des «Schwarzen September» aus, die in der Schweiz offenbar ein sicheres Refugium gefunden hatten. Der Algerier hatte auch mit mindestens zwei Frauen engen Kontakt, die einem palästinensischen Unterstützungskomitee angehörten. Eine von ihnen war Anne-Marie B. Die damals 25-jährige Schweizerin studierte an der Universität Genf Pharmazie. Die Parkbusse an jenem Sonntagvormittag in Genf fing Boudia ein, als er bei ihr zu Besuch war.

Es waren die Jahre, in denen die PLO und ihre Kommandogruppen mit spektakulären Bombenanschlägen und Flugzeugentführungen die Weltöffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam machten: die Gründung eines eigenen Staatsgebildes. Wo und in welcher Form das umgesetzt werden soll, ist bis heute umstritten.

Auch die Schweiz geriet in jenen «Terrorjahren» verschiedentlich ins Visier palästinensischer Attentäter. Dazu gehörte der Bombenanschlag auf ein Flugzeug der Swissair, das im Februar 1970 im aargauischen Würenlingen zum Absturz kam. Oder die Entführung des Swissair-Flugs 100 nach New York: Am 6. September 1970 wurde die DC-8 mit über 150 Insassen von palästinensischen Terroristen auf einen ausrangierten Militärflugplatz in der Wüste von Jordanien umgeleitet. Wenige Tage später, kurz nachdem die Geiseln das Flugzeug hatten verlassen können, wurde es medienwirksam in die Luft gesprengt.

Die Rolle von Evelyne B.

Bis anhin nicht bekannt war, dass die Pariser Gymnasiallehrerin Evelyne B. bei dem Masterplan der PFLP, an einem einzigen Tag gleich drei Flugzeuge zu entführen, eine wesentliche Rolle spielte.

Zunächst war sie sogar als Kidnapperin eines der drei Flugzeuge vorgesehen, so wie die Palästinenserin Leila Khaled, die fragwürdige Ikone des palästinensischen Terrorismus jener Zeit. Doch dann änderte Mohammed Boudia seine Pläne. Ende August 1970 schickte er Evelyne B. nach Beirut. Dort beschaffte die Gymnasiallehrerin drei Handgranaten, zwei Revolver und zwei Zünder. Das alles ist fein säuberlich in einem Rapport der schweizerischen Bundespolizei festgehalten, der sich wiederum auf die Angaben des französischen Geheimdiensts stützt.

Mit den Waffen im Gepäck – was damals noch möglich war – flog Evelyne B. zurück nach Paris. In der Wohnung ihres Bruders übergab sie das Material zwei Kidnappern, die wenige Tage später in Amsterdam eines der Flugzeuge entführten.

Ihre nächsten Einsätze als Teilzeit-Terroristin hatte Evelyne B. rund ein halbes Jahr später, im Frühling 1971. Im März jenes Jahres war sie in Rotterdam am Sprengstoffanschlag auf ein Öllager des amerikanischen Erdölkonzerns Gulf beteiligt. Zuerst hatte sie den Tatort ausgekundschaftet und später die palästinensischen Attentäter dorthin chauffiert.

Der riesige Feuerball, der nach der Sprengung in den Rotterdamer Nachthimmel aufstieg, war in einem Umkreis von zwanzig Kilometern zu sehen. Im April 1971 sollte schliesslich das terroristische Gesellenstück von Evelyne B. folgen: Sie leitete das sogenannte Oster-Kommando in Israel.

Sprengstoff in den Absätzen und im BH

Zusammen mit zwei Komplizinnen – Schwestern aus dem Umfeld des Théâtre de l’Ouest – reiste Evelyne B. am Ostermontag nach Tel Aviv. Der Plan sah vor, dass die drei jungen Frauen an den folgenden Tagen eine Serie von Anschlägen verüben. Als Zielobjekte hatte man neun Hotels und andere touristische Anlagen ausgewählt. Den dafür notwendigen Sprengstoff hatten die drei Frauen, die im Auftrag der PFLP unterwegs waren, in flüssiger Form in ihrem Gepäck versteckt.

Die Lösung aus Natriumchlorat und Staubzucker hatten sie in Schuhabsätzen und in Zahnpastatuben versteckt. Auch einige Kleidungsstücke, darunter Büstenhalter und Unterwäsche, waren mit der Flüssigkeit getränkt. Richtig eingesetzt, sei das Gemisch «eine Höllenmaschine mit ausserordentlich mörderischer Wirkung», so wird im Bericht der Bundespolizei ein Experte zitiert.

Die für die Sprengung nötigen Zünder hatten Evelyne B. und ihre Komplizinnen in Beutel für Tampons verpackt. Die drei jungen Frauen waren offensichtlich bereit, neben Israeli auch eine Vielzahl von ausländischen Touristen zu töten.

Langjährige Gefängnisstrafen

Doch das terroristische Trio wurde bereits bei der Ankunft auf dem Flughafen in Tel Aviv abgefangen. Bei der polizeilichen Einvernahme waren sie allesamt geständig. Evelyne B. gestand ihre Beteiligung am Sprengstoffanschlag in Rotterdam ebenso wie die Waffenlieferung im Zusammenhang mit den Flugzeugentführungen. Als jeweiligen Auftraggeber nannte sie Mohammed Boudia.

Ein Militärgericht in Israel verurteilte Evelyne B. zu einer Gefängnisstrafe von vierzehn Jahren, ihre zwei Komplizinnen zu zwölf beziehungsweise zehn Jahren. Mohammed Boudia hingegen blieb unbehelligt. Er habe mit dem Oster-Kommando nichts zu tun, sagte er bei einer Einvernahme durch die schweizerische Bundespolizei in Lausanne. Daraufhin wurde das zuvor gegen ihn verhängte Einreiseverbot wieder aufgehoben.

Die Gehilfin in Genf

Das ermöglichte es dem Algerier, weiterhin in die Schweiz zu reisen. Denn während seine willigste Gehilfin in Israel hinter Schloss und Riegel sass, konnte er in Genf weiterhin auf die Dienste von Anne-Marie B. zählen.

Rund ein halbes Jahr nach dem Olympia-Attentat von München, im Frühling 1973, plante der algerische Theaterdirektor von der Schweiz aus einen weiteren verheerenden Terroranschlag: In der Nähe von Wien sollte ein Lager mit jüdischen Flüchtlingen aus der Sowjetunion, die sich auf dem Weg nach Israel befanden, angegriffen werden. Dafür waren zwei palästinensische Kommandogruppen von je drei Mann vorgesehen, die von Genf aus getrennt nach Wien reisen sollten.

Das erforderte eine komplexe Vorbereitung, die Boudia hauptsächlich von Genf aus tätigte, unterstützt von Anne-Marie B. Sie bot ihm Unterkunft, besorgte Tickets, chauffierte ihn mit ihrem hellgrünen VW Käfer zum Flughafen und holte ihn dort wieder ab. Vereitelt wurde der Anschlag erst, als eines der zwei Kommandos auf dem Weg von Genf nach Wien an der italienisch-österreichischen Grenze abgefangen wurde.

Von Boudias terroristischen Aktivitäten habe sie nichts mitbekommen, sagte Anne-Marie B. später in einer Einvernahme der Genfer Polizei. Insbesondere habe sie nicht gewusst, dass er in Wien einen Überfall auf jüdische Flüchtlinge vorbereitet habe.

Daran hält Anne-Marie B. bis heute fest. Am Telefon sagt sie, von den Anschlagsplänen habe sie damals nichts mitbekommen. Mohammed Boudia sei bloss ein guter Bekannter gewesen. Auf eine schriftliche Nachfrage hin ergänzt sie, sie wolle nicht mehr über die damaligen Ereignisse diskutieren oder dazu befragt werden. «Deshalb bitte ich Sie, jeglichen Kontakt zu unterbinden.»

Anleitung für Sprengstoff

Nach den aufgeflogenen Anschlagsplänen in Wien hatte man bei der Hausdurchsuchung von Anne-Marie B.s Wohnung einen handgeschriebenen Brief beschlagnahmt. Darin sind eine Reihe von Chemikalien aufgelistet inklusive einer Anleitung, wie man diese zur Herstellung von Sprengstoff mischt. Der Briefumschlag, ebenfalls mit der Handschrift von Anne-Marie B., war an einen Komplizen Boudias in Wien adressiert.

Von der Polizei darauf angesprochen, sagte die angehende Apothekerin, sie habe bloss aufgeschrieben, was ihr Boudia diktiert habe. Gleichentags wurde Anne-Marie B. freigelassen, nach einer einzigen Nacht in Polizeigewahrsam.

Die Frage drängt sich auf, wie zwei junge Frauen im Kampf für die palästinensische Sache eine derart hohe kriminelle Energie entwickeln können, dass sie sogar die Tötung von unschuldigen Menschen in Kauf nehmen.

Machte sie die Liebe blind?

Anhand der Polizeiakten lässt sich die Frage nur schwer beantworten. Bei ihrer Einvernahme sagte Anne-Marie B. einmal, Mohammed Boudia sei ihr «amoureux» gewesen, ihr Geliebter. Vieles weist darauf hin, dass Evelyne B. in Paris ebenfalls eine romantische Beziehung zu einem Komplizen des Algeriers hatte. Steckte hinter den Straftaten vielleicht Liebe, die blind machte?

Auch Erica Deuber fällt es schwer, die Gewaltbereitschaft von Evelyne B. und Anne-Marie B. zu erklären. Erica Deuber ist Insiderin, sie gehört der propalästinensischen Bewegung seit der ersten Stunde an – seit 1967 also, als in Genf unmittelbar nach dem Ende des Sechstagekrieges ein erstes Unterstützungskomitee gegründet wurde.

Seither engagiere sie sich für das palästinensische Volk, und in dieser langen Zeit habe sie auch manchen Führer im Umfeld der PLO oder der PFLP kennengelernt. Ihr Glück sei wohl gewesen, dass sie sich stets in die richtigen Männer verliebt habe, sagt Erica Deuber mit einem Augenzwinkern. Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie mit Jean Ziegler verheiratet, für beide ist es die zweite Ehe.

Dass sie stets auf der legalen Seite geblieben sei, schreibt Erica Deuber Ziegler auch ihrer politischen Tätigkeit zu. Viele Jahre sass sie im Kantonsparlament von Genf, mehrheitlich für das linke Wahlbündnis Alliance de Gauche. Die palästinensische Sache war stets ein Kernanliegen ihres politischen Engagements. So konnte sie ihrer Empörung über die Situation im Nahen Osten ohne Gewaltanwendung Gehör verschaffen – im Gegensatz zu ihren zwei Gesinnungsgenossinnen, die den Weg in die Militanz gingen.

PS: Am späten Vormittag des 28. Juni 1973 wurde das Universitätsviertel in Paris von einer heftigen Explosion erschüttert. Nachdem Mohammed Boudia in seinen Renault 16 gestiegen war und den Zündschlüssel gedreht hatte, explodierte eine Landmine, die unter seinem Sitz angebracht worden war. Die Liquidierung Boudias gehörte zu einer langen Reihe von extralegalen Tötungen, mit denen sich der Mossad am Olympia-Attentat von München rächte. Wie aus dem Dossier im Bundesarchiv hervorgeht, stand unter anderem Boudias Parkbusse in Genf am Anfang der israelischen Ermittlungen.

PPS: Nach der Verhaftung von Evelyne B. in Israel mussten sich in Frankreich acht Personen aus dem Umfeld des Théâtre de l’Ouest wegen Mittäterschaft vor Gericht verantworten. Die meisten von ihnen waren junge Frauen, einer der wenigen Männer war der jüngere Bruder von Evelyne B.

Lässt sich die Geschichte auf heute übertragen?

Besteht auch in der heutigen Pro-Palästina-Bewegung die Gefahr, dass einige Aktivisten in die Militanz abdriften? Für Johannes Saal, Religionssoziologe und Experte für Radikalisierung an der Universität Luzern, ist es schwer abzuschätzen, ob sich die Geschichte des Abdriftens in die Militanz auf heute übertragen lässt. Dass sich innerhalb einer Protestbewegung ein Teil radikalisiere, das könne man sich aufgrund verschiedener historischer Beispiele zumindest gut vorstellen. Die Frage sei, ob sich das einzig im Kopf abspiele oder sich auch in eine konkrete Handlung übertrage. «Im Prinzip hat die geistige Radikalisierung bei einigen ja bereits stattgefunden», sagt Johannes Saal. Er denke etwa an die Verharmlosung des brutalen Überfalls der Hamas vom 7. Oktober oder an die offen gezeigte Sympathie für die Hamas. Interessant sei auch die Konstante über einen zeitlichen Bogen von mehr als fünfzig Jahren: «Wie damals werden die derzeitigen Protestaktionen an den Unis zu einem guten Teil von linken, insbesondere marxistisch-leninistischen Gruppierungen dominiert.» Vereinzelt seien sogar Flaggen der PFLP oder Sticker mit dem Konterfei von Leila Khaled gesichtet worden.

Dossier Bundesarchiv Bern: BAR E4320C#1994/75/61*.

Die noch lebenden Attentäter zeigen fünfzig Jahre nach dem Olympia-Anschlag in München keinerlei Reue

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