Shigeru Ishiba hat zu Neuwahlen des Parlaments aufgerufen, um eine Bestätigung seiner Politik durch das Volk zu erhalten. Gelingt das, könnte es für China ungemütlich werden.
Japan sieht sich bis jetzt als Friedensnation. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Industrienation an keinem Kriegseinsatz teilgenommen – anders als die andere Verlierernation des Zweiten Weltkriegs, Deutschland. Vor diesem Hintergrund wirkt schon die politische Laufbahn von Japans neuem Ministerpräsidenten Shigeru Ishiba wie eine Zeitenwende.
Seit der Aufwertung der Selbstverteidigungsbehörde zu einem vollwertigen Ministerium im Jahr 2007 ist er der erste Verteidigungsminister, der Regierungschef wurde. In seiner Antrittsrede vor dem Parlament in diesem Monat machte er deutlich, warum er sich selbst als Verteidigungs-Otaku, als Verteidigungs-Freak, bezeichnet: «Als Premierminister Japans werde ich mich mit Leib und Seele dafür einsetzen, Japan und Japans Zukunft bis zum Ende zu verteidigen.»
Wie weit er dabei vorausdenkt, hatte er bereits zuvor gezeigt. Weltweit sorgte er mit Ideen für Aufsehen, mit denen er die asiatische Sicherheitsarchitektur zu Chinas Ungunsten verändern will.
Am 27. Oktober will er sich nun in vorgezogenen Neuwahlen das Mandat der Wähler für seine Regierung holen. Umfragen geben ihm gute Chancen, sein Minimalziel zu erreichen: eine absolute Mehrheit für die derzeitige Regierungskoalition aus seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) und der Neuen Gerechtigkeitspartei (Komeito).
Das wirft die Frage auf, wie genau Ishiba Asien verändern will – und ob er es überhaupt kann.
Japan hat die Chance auf eine Zeitenwende
Für Daisuke Kawai, den stellvertretenden Direktor des Programms für wirtschaftliche Sicherheit an der Universität Tokio, markiert Ishibas Aufstieg «einen entscheidenden Moment» für Japan: Unter Ishiba habe das Land die Chance, «seine internationale Rolle neu zu definieren, traditionelle Werte wieder aufzugreifen und sich gleichzeitig strategisch an neue Realitäten anzupassen», urteilt Kawai in einer Analyse für die britische Denkfabrik Royal United Services Institute.
Die Folgen wären geopolitisch spürbar. Denn schon jetzt ist Japan mit seiner hochmodernen Marine, dem Bündnis mit den USA und seiner wirtschaftlichen Grösse einer der wichtigsten Akteure in der Region, die reich an explosiven Krisenherden ist.
China droht mit einer Invasion des amerikanischen Protegés Taiwan und streitet mit den meisten seiner Nachbarn um Territorien, vor allem im Südchinesischen Meer. Nordkorea setzt seine rasante nukleare Aufrüstung fort und wird dabei immer offener von Russland unterstützt. Alle drei Nationen zielen mit konventionellen und atomaren Raketen auf Japan.
Bereits unter Ishibas Vorgänger Fumio Kishida hatte Japan auf die wachsenden Spannungen in Asien mit einer kräftigen Erhöhung des Verteidigungshaushalts und einer engeren Zusammenarbeit mit den USA, Südkorea, Australien, den Philippinen und der Nato reagiert. Ishiba kann nun neue Akzente setzen.
Shigeru Ishiba will Japans Rolle klar definieren
Was der japanische Politiker langfristig anstrebt, ist dabei kein Geheimnis. Ungewöhnlich offen fasste er seine sicherheitspolitischen Leitgedanken kürzlich in einem Beitrag für das amerikanische Hudson Institute zusammen.
Als Erstes schlug er die Gründung einer «asiatischen Nato» vor. «Die Ukraine von heute wird morgen Asien sein», argumentierte Ishiba in dem Essay. Seine Lehre aus der russischen Aggression gegen den Nachbarn: «Unter diesen Umständen ist die Schaffung einer asiatischen Version der Nato unerlässlich, um China abzuschrecken.»
Diese Idee stösst jedoch in den USA, Japan und Asien auf breite Ablehnung. Sie gilt derzeit als unrealistisch, zu unterschiedlich sind die Sicherheitsinteressen der Länder in der Region, zu offen ist sie gegen China gerichtet. Zudem würde diese Idee Japan zwingen, seine pazifistische Verfassung zu ändern und sich offen zum Recht auf kollektive Verteidigung zu bekennen. Erst dann wäre Japan voll bündnisfähig.
Genau das macht Ishiba in der japanischen Politik so radikal: Er denkt seine Ideen zu Ende. So will er mit einem «Grundgesetz zur Nationalen Sicherheit» und einer Verfassungsänderung Japans bisher verfassungsrechtlich – um es freundlich zu formulieren – schwer vermittelbare Sicherheitsstrategie klar und transparent darlegen.
Ein Beispiel: Artikel 9 der Verfassung verbietet Japan eigentlich den Besitz von Streitkräften. Japan unterhält aber nicht nur ein schlagkräftiges Militär, das als «Selbstverteidigungskräfte» bezeichnet wird, die Regierung hat dem Land durch umstrittene Verfassungsinterpretationen auch ein begrenztes Recht auf kollektive Selbstverteidigung zugestanden, um grössere militärische Aufgaben an der Seite der USA übernehmen zu können.
Sobald diese Widersprüche gelöst sind, will Ishiba Japan vom Juniorpartner zu einem vollwertigen Verbündeten «auf Augenhöhe mit dem Bündnis zwischen den USA und Grossbritannien» aufwerten.
Zwischen Kontinuität …
Ishiba räumte nach seiner Wahl zum Ministerpräsident ein, dass es sich dabei nur um langfristige Vorstellungen handele. An einer Verfassungsänderung hat sich sein Vorgänger Abe politisch die Zähne ausgebissen, zu gross war bisher der Widerstand in der Bevölkerung. Diese Vorstellungen werden aber auch in Zukunft seine politischen Entscheidungen beeinflussen, auch wenn er zunächst die Kontinuität betont.
Kern der japanischen Sicherheitspolitik bleibe der Ausbau des Sicherheitsbündnisses mit den USA, sagte Ishiba. Die USA haben unter anderem eine Flugzeugträgerflotte und fast 50 000 Soldaten in Japan stationiert. «Realismus» ist ein weiteres Schlagwort des Regierungschefs.
Er will die Mini-Allianzen mit gleichgesinnten Staaten weiter ausbauen und die «Vision eines freien und offenen Indopazifiks» verfolgen, die seit zehn Jahren eine wichtige Leitlinie der japanischen Sicherheitsstrategie ist.
Mit diesem Konzept verfolgt Japan offiziell das Ziel, eine auf der Herrschaft des Rechts basierende internationale Ordnung im indo-pazifischen Raum zu etablieren. Die Volksrepublik China und ihre Verbündeten Russland und Nordkorea sind jedoch die eigentlichen Adressaten dieser Strategie.
… und Wandel
Doch schon zu Beginn seiner Amtszeit ist zu erkennen, dass er die japanische Sicherheitsstrategie grundlegender verändern will. Er selbst will ein Komitee leiten, das ein Problem der japanischen Verteidigungsstrategie «dringend untersuchen» und beheben soll: die schlechte Bezahlung der Selbstverteidigungsbeamten.
Ausserdem will er ein Katastrophenschutzministerium einrichten, das unter anderem den Bau von Bunkern finanzieren soll. Gegen konventionelle, biologische, chemische oder nukleare Angriffe gibt es derzeit so gut wie keinen Schutz.
Zudem erwarten Experten, dass er in Schlüsselfragen, insbesondere gegenüber China, härter auftreten wird.
Die erste Bewährungsprobe steht mit den Präsidentschaftswahlen in den USA bevor. Ishiba hat bereits angekündigt, so bald wie möglich Harris oder Trump, je nach Wahlausgang, treffen zu wollen.
Diese Absicht zeigt die grosse Bedeutung der US-Allianz für Japan – und sie hat Tradition. Nach dem überraschenden Wahlsieg Trumps 2016 eilte der damalige japanische Premierminister Shinzo Abe in die USA, um als erster Regierungschef Trump die Hand zu schütteln und sich als bester Verbündeter anzubieten.
Bei einem Wahlsieg Trumps befürchten Teile der LDP allerdings, dass Ishiba und Trump wie Feuer und Wasser reagieren könnten. Denn im Gegensatz zum moralisch biegsamen Abe steht Ishiba für eine moralisch aufrechte Politik. So kritisierte er Abe und seine eigene Partei scharf für Skandale und Lügen, beides Markenzeichen Trumps.
Neue Härte gegenüber China
Ishibas Denken wird seit langem von Chinas Aufrüstung bestimmt. Erst im August besuchte er Taiwans Präsidenten Lai Ching-te. China beansprucht Taiwan für sich.
Im Umgang mit dem als Bedrohung empfundenen Nachbarn plädiert Ishiba für eine Dreifachstrategie: so viele Gespräche wie möglich, den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen und eine harte Haltung in Streitfragen. In seiner Regierungserklärung kündigte Ishiba an: «In dieser Beziehung werden wir China die Dinge sagen, die gesagt werden müssen, und China nachdrücklich auffordern, verantwortungsvoll zu handeln.»
Wie nachhaltig Ishibas Einfluss sein wird, hängt von den Wahlen am Sonntag ab. Doch selbst im Falle eines Wahlsieges, wetten einige Beobachter, dass er sich nur kurz im Amt halten wird. Denn in der LDP-Fraktion hat er keine breite Basis, und mit dem grossen rechten Flügel der Partei ist er im Clinch. Dessen Vertreter hat er bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigt.
Umso wichtiger sind für Ishiba die Parlamentswahlen. Wenn die Regierungskoalition ihre Mehrheit verliert, könnte er bereits Geschichte sein. Sollte die LDP ihre absolute Mehrheit verteidigen können, wäre Ishiba gestärkt. Er ist angetreten, um die Partei zu erneuern. Bleibt die LDP nur wegen ihres langjährigen Koalitionspartners Komeito an der Macht, hängt alles von Ishibas Popularität ab. Kann er seine Popularität halten, wird er länger überleben, als es seinen innerparteilichen Gegnern lieb ist – und womöglich auch den japanischen Gegnern im asiatischen Machtpoker.