Gaza-Krieg und Israel-Boykott, MeToo, ein Streik . . . An der Croisette kommt viel zusammen. Ein selbstironischer Eröffnungsfilm mit Léa Seydoux hat aber schon einmal beruhigende Wirkung.

Kann man an der Côte d’Azur noch ungestört Filme und Garderoben schauen? Oder wird auch Cannes verpolitisiert? Das ist die Frage in den nächsten anderthalb Wochen.

Der Dresscode an der Croisette war immer ein Politikum. Aber es hat sich etwas verschoben. Früher war bei den Männern die Fliege Pflicht, Frauen mit flachen Schuhen mussten draussen bleiben. Inzwischen ist man froh, wenn sich die Leute nicht ins Arafat-Tuch hüllen.

Denn das Zeigen von Kultur ist ja gegenwärtig ein tückisches Unterfangen. Man weiss nie, wo es hinführt. Kaum ein Kulturanlass in jüngerer Zeit, der nicht in antiisraelische Hetze entgleist ist. Angefangen mit der Documenta, dann die Palästina-Parade im Berlinale-Palast. Es gab Aufruhr in Venedig, zuletzt der Eurovision Song- und Antisemitismus-Contest.

«Moi aussi»

Der Krieg in Gaza geht sicher auch an Cannes nicht spurlos vorbei. Am Eröffnungsabend verlief aber alles noch reibungsfrei. Die Schwerpunkte der Debatten müssen erst sortiert und gewichtet werden, hat man den Eindruck. Da ist ausserdem die MeToo-Bewegung, die sich in Frankreich nach ewig langem Zögern plötzlich mit aller Vehemenz artikuliert. In letzter Minute hat das Festival einen Kurzfilm von Judith Godrèche angekündigt, die dem Regisseur Benoît Jacquot Vergewaltigung vorwirft. Ihr filmischer Beitrag heisst «Moi aussi».

Russland ist ebenfalls Thema dank einem neuen Werk vom tonangebenden Kremlkritiker Kirill Serebrennikow («Limonov – The Ballad»). Aus Iran ist zudem gerade der Regisseur Mohammad Rasoulof vor einer drakonischen Gefängnisstrafe geflohen, durchaus möglich, dass er nächste Woche in Cannes auftaucht. Ausserdem drohen Festivalarbeiter, die sich ausgenutzt vorkommen, mit Streik. Etwas ist immer.

Dabei hätte Cannes gerne mehr Ruhe. «Wir haben dieses Jahr beschlossen, ein Festival ohne Polemiken abzuhalten», so drückte sich knorrig der Festivalleiter Thierry Frémaux bei der Eröffnungskonferenz aus.

Protestverbot an der Croisette

Frémaux versteht sich auf das Geschäft mit der Aufmerksamkeitsökonomie. Letztes Jahr programmierte er einen Johnny-Depp-Film zur Eröffnung, im vorletzten liess man kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Kampfflugzeuge zur «Top Gun»-Party steigen. Frémaux mag eigentlich Lärm. Aber auch nicht jedes Geschrei.

Propalästinensische Pins sind auf dem roten Teppich ungern gesehen, soviel lässt er laut «Variety» durchblicken. Und auf Störenfriede, die die Küstenstrasse blockieren, hat Frémaux erst recht keine Lust. Proteste im Bereich des Festivalzentrums sind untersagt. Gefühlt auf jede Palme an der Croisette kommen eine Handvoll bis an die Zähne bewaffnete Polizisten.

«In Cannes soll die Politik auf der Leinwand stattfinden», sagt Frémaux. Das tut sie allerdings nur zum Teil. Denn offenbar will er nicht nur keine Proteste, sondern sicherheitshalber auch keine israelischen Filme. So kommt es jedenfalls der israelischen Delegierten in Cannes vor.

Alle Länder haben kleine Pavillons, in denen sie aktuelle Projekte vorstellen. Im israelischen Haus erzählt einem die Verantwortliche von diesem oder jenem Film, der keine Chance habe, in absehbarer Zeit auf einem Festival gezeigt zu werden. Es sei ein stillschweigender Boykott im Gange. «Leute aus Auswahlkomitees verraten uns, dass es in Sitzungen heisse: ‹Aus Israel nehmen wir nichts›.» In Cannes habe man wie jedes Jahr zahlreiche hervorragende Filme eingereicht. Alles wurde abgelehnt.

Die israelische Delegierte hat die Berlinale noch in schlechtester Erinnerung. Branchenvertreter seien frühzeitig abgereist, weil sie Anschläge befürchteten. In Cannes will sie sich trotzdem nicht verstecken. Der Pavillon stehe allen Besuchern offen, betont sie. Man wolle mit den Leuten ins Gespräch kommen.

Zeitgemässer Eröffnungsfilm

Realitätsflucht ist keine Option. Das sagt sich auch Vincent Lindon im Eröffnungsfilm «Le deuxième acte»: Der französische Star spielt einen Schauspieler, dem mitten in einer Szene die Hutschnur reisst. Er könne das alles nicht mehr, sagt er. «Die Welt ist ein Chaos, und wir machen hier dumme Filme.»

«Le deuxième acte» ist ein lustiger Dialogfilm von Quentin Dupieux («Rubber»). Er handelt von vier Schauspielern und ihrer Verzweiflung bei einem Dreh. Alles sehr meta. Der Clou ist, dass Fiktion und Realität sich vermischen. Nie ist ganz klar, wann die Schauspieler in ihren Rollen sprechen und wann nicht. Es gibt kein eigentliches Set, Kameras sind nicht zu sehen, der Regisseur ist eine künstliche Intelligenz.

Es ist ein vergnügliches Verwirrspiel, das die gegenwärtige Aufgeregtheit in der Welt nonchalant spiegelt. Léa Seydoux verkörpert eine der Schauspielerinnen; vom Kulturpessimismus ihres Kollegen, der hinschmeissen möchte, hält sie nichts. Was die Kunst tun könne angesichts der Weltlage, will der wissen. Auf der «Titanic» hätten die Musiker auch noch beim Untergang weitergespielt, sagt sie.

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