So sahen die Fronten im Ukraine-Krieg im Januar 2023 aus. Und so im Januar 2024 – also genau ein Jahr später. So wirklich viel scheint sich nicht geändert zu haben in den letzten Monaten. Und nach bald zwei Jahren Krieg frage ich mich: Wie lange eigentlich noch?
Eine magische Kristallkugel, die uns das sagen kann, habe ich leider nicht, aber dafür Statistiken und Studien, die uns helfen können, eine Antwort zu finden.
Zwei Jahre und fünf Monate. So lange dauert ein Krieg im Durchschnitt. Und klar: Man kann nicht alle Kriege in einen Topf werfen, dafür sind sie viel zu unterschiedlich. Aber man kann sich zum Beispiel anschauen, wie Kriege in der Vergangenheit aufgehört haben. Es gibt ja genug Beispiele.
Genau das machen Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die auf dem Gebiet der «War Termination» forschen. Zum Beispiel Tim Sweijs:
Tim Sweijs: Zusammen mit einem Kollegen habe ich mir das Ende von Kriegen in der Vergangenheit angeschaut.
Tim Sweijs ist Kriegsforscher in einem niederländischen Think-Tank.
Tim Sweijs: Wir fanden fünf Faktoren, die grundsätzlich beeinflussen, wie ein Krieg endet.
Okay, dann schauen wir uns diese fünf Faktoren mal genauer an.
Der erste Faktor, der beeinflusst, ob ein Krieg endet oder nicht, ist die Gewinnaussicht – also ob die jeweilige Kriegspartei glaubt, ihre Ziele noch erreichen zu können.
Tim Sweijs: Solange die politische Führung glaubt, dass es intakte Gewinnchancen gibt, wird sie den Krieg womöglich weiterführen.
Oder umgekehrt: Je geringer die Chancen, die sich eine Partei auf einen Sieg ausmalt, desto eher kommt es zu einem Kriegsende.
Ein Beispiel hierfür wäre der Kosovo-Krieg. Als die Nato 1999 interveniert, schrumpfen die Gewinnaussichten für Jugoslawien. Und bald darauf zieht das Land seine Streitkräfte aus Kosovo zurück.
Im derzeitigen Krieg in der Ukraine sind die Machtverhältnisse weniger eindeutig. Zu Beginn der Invasion im Februar 2022 wollte Wladimir Putin die ukrainische Regierung absetzen und wahrscheinlich die gesamte Ukraine besetzen. Aber inzwischen geht es ihm vermutlich vor allem darum, die Ukraine zu schwächen und die eroberten Gebiete im Osten und Süden zu sichern – zumindest kurz- und mittelfristig.
Tim Sweijs: Er glaubt immer noch, dass er den Kampfeswillen der Ukraine brechen und die westliche Unterstützung schwächen kann.
Es sieht also aus, als würde sich Russland zumindest noch «mittelhohe» Gewinnchancen ausrechnen.
Auf der ukrainischen Seite sieht das durchzogener aus. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat bereits 2022 einen sogenannten 10-Punkte-Plan vorgestellt. Dieser sieht unter anderem vor, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abzieht und die territoriale Integrität der Ukraine vollständig wiederherstellt. Aber im Moment scheint es nicht so, als würde Russland diese Forderungen demnächst erfüllen.
Tim Sweijs: Aber wenn wir uns die Mitteilungen von Präsident Selenski anschauen, sehen wir: Er ist immer noch entschlossen weiterzukämpfen, entschlossen zu gewinnen.
Das bedeutet, dass sich auch die Ukraine zumindest «mittelhohe» Chancen auf einen Sieg ausrechnet.
Ein weiterer wichtiger Punkt, wenn es darum geht, ob ein Krieg aufhört oder nicht: die Kosten. Je höher die Kosten, desto eher steht ein Kriegsende bevor. Dabei geht es einerseits natürlich um die finanziellen Kosten – also die Ausgaben für das Militär und die Folgen für die einheimische Wirtschaft. Aber es geht auch um die humanitären Kosten – die Toten, die Verletzten, die Vertriebenen.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Koreakrieg. Innerhalb von nur gerade drei Jahren werden fast alle grossen Städte zerstört – es sterben mehr als 3 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten. Diese enormen Verluste sind ein Grund dafür, warum der Krieg nach drei Jahren vorbei ist.
Auch im Ukraine-Krieg sind die Kosten hoch. So gehen etwa US-Geheimdienste davon aus, dass Russland bereits über 300 000 tote oder verwundete Soldaten zu beklagen hat.
Tim Sweijs: 300 000 ist viel. Aber Russland hat eine grosse Bevölkerung. Was Personal angeht, hat Russland also weiterhin genügend, wie es scheint.
Auch militärisch investiert Russland viel Geld – zum Beispiel in die einheimische Rüstungsindustrie. Das heisst: Insgesamt sind die Kosten auf der russischen Seite zwar durchaus beträchtlich, aber nicht so hoch, dass sie das Land wirklich in die Knie zwingen.
Auf der ukrainischen Seite sind die Kosten enorm. Schätzungen gehen von etwa 200 000 Toten und Verwundeten aus. Ganz zu schweigen von den finanziellen und militärischen Kosten – die die Ukraine alleine kaum stemmen könnte.
Tim Sweijs: In den letzten knapp zwei Jahren hat sie umfangreiche Materiallieferungen des Westens erhalten. Und solange der Westen sie weiterhin unterstützt, sollte sie durchhalten können.
Auf der ukrainischen Seite sind die Kosten also hoch – auch wenn die Ukraine diese Kosten nicht alleine tragen muss.
Der dritte Punkt, der eine Rolle spielt: externer Druck. Drittländer können Druck auf die Kriegsparteien ausüben, indem sie zum Beispiel vermitteln, Sanktionen aussprechen oder direkt in den Konflikt eingreifen. Je grösser der externe Druck, desto eher findet der Konflikt ein baldiges Ende.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Golfkrieg. Die USA, Grossbritannien, Frankreich und weitere Verbündete ergreifen Partei für Kuwait und greifen militärisch direkt in den Konflikt ein. Daraufhin kommt es ziemlich bald zu einem Waffenstillstand.
Anders ist die Situation momentan für Russland:
Tim Sweijs: Der internationale Druck hält sich also in Grenzen. Ja klar, der Westen hat enormen Druck auf Russland ausgeübt, aber andere Länder handeln weiterhin mit Russland, kümmern sich um die politischen Beziehungen, ohne dabei den Krieg zu verurteilen.
Der internationale Druck auf Russland ist momentan also eher gering. Die Ukraine hat vor allem zu Beginn des Kriegs viel finanzielle und militärische Unterstützung erhalten.
Tim Sweijs: Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass in den letzten Monaten die Menge an finanzieller und materieller Hilfe an die Ukraine heruntergegangen ist. Und dann ist auch unklar, was nach den Wahlen in den USA im November dieses Jahres passieren wird. Was es für die Unterstützung für die Ukraine bedeuten würde, wenn Trump gewinnen sollte . . .
Das bedeutet: Momentan ist der internationale Druck auf die Ukraine, ihr Land oder ihre Autonomie abzutreten, noch tief. Doch das könnte sich bald ändern.
Der vierte Punkt ist der interne Druck: also die Meinung der breiten Öffentlichkeit im eigenen Land, die Pläne der militärischen Elite sowie das politische Standing der Regierung.
Ist zwar schon lange her, aber ein gutes Beispiel dafür findet man im Ersten Weltkrieg. Da ist die Unzufriedenheit in der deutschen Bevölkerung und teilweise auch im Militär so gross, dass der Kaiser schliesslich abdanken muss und ein Waffenstillstand ausgehandelt wird.
In Russland scheint das derzeit ganz anders zu sein:
Tim Sweijs: Es ist natürlich schwierig, einen Einblick in den Kreml zu bekommen. Wir wissen nicht, was hinter den Mauern des Kremls passiert. Aber es scheint, als wäre Putins Position sicher.
Der interne Druck auf Wladimir Putin ist also – soweit wir das von aussen beurteilen können – eher gering. Ähnlich sieht das auf der ukrainische Seite für Selenski aus – aber:
Tim Sweijs: Es gibt erste Anzeichen von Rissen in der Selenski-Regierung. Und es gibt auch Unstimmigkeiten zwischen dem Militär und der Zivilbevölkerung, was den Krieg angeht.
Im Grossen und Ganzen ist der interne Druck aber auch hier eher gering.
Der letzte Punkt, den wir uns angeschaut haben, sind positive Anreize.
Tim Sweijs: Damit eine politische Führung einen Krieg beendet, braucht sie positive Anreize. Und dieser Nutzen muss auch in der Zukunft noch garantiert und vorteilhaft sein.
Das heisst zum Beispiel auch, dass die Kriegsparteien darauf vertrauen können müssen, dass der Konflikt nach dem Ende der Kampfhandlungen nicht gleich wieder eskaliert.
Ein mögliches Beispiel dafür wäre das Ende des Zweiten Weltkriegs. Als Deutschland und Japan 1945 kapitulieren, können sie davon ausgehen, dass der Krieg nicht bald wieder von vorne beginnt.
Und klar, die gegenwärtige Situation in der Ukraine ist nur schwer vergleichbar mit dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch hier wird zum Beispiel Putin etwas vorweisen wollen, wenn der Krieg vorüber ist:
Tim Sweijs: Er wird nicht nach Jahren des Krieges ohne sichtbare Gewinne aufgeben.
Eine Möglichkeit wäre dabei noch, dass die russischen Staatsmedien etwas als Sieg verkaufen, was eigentlich gar keiner ist.
Tim Sweijs: Wenn das passieren würde, müssen wir davon ausgehen, dass die Kreml-Spinner anfangen, dieses Narrativ zu verbreiten. Bis jetzt haben wir aber keine Anzeichen dafür gesehen.
Positive Anreize, den Krieg zu beenden – bisher also eher Fehlanzeige.
Auch auf der ukrainischen Seite:
Tim Sweijs: Für die Ukraine ist die Gewissheit also am wichtigsten, dass Russland nicht zurückkommen kann oder es eine Art bestätigte Sicherheitsgarantie des Westens gibt, also dass der Westen der Ukraine hilft, sich zu verteidigen, sollte Russland wieder einen Angriff starten.
Und solange die Ukraine keine solchen Sicherheiten hat – und das hat sie bisher eben nicht – würde ich die positiven Anreize auch eher als gering einstufen.
Okay, und was bedeutet das nun?
Die Analyse zeigt, dass es zum jetzigen Zeitpunkt kaum Faktoren gibt, die auf ein baldiges Kriegsende hinweisen. Vieles deutet darauf hin, dass Russland seine Mittel und Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft hat. Und dass Putin bereit ist, noch monate- oder sogar jahrelang weiterzukämpfen.
Die Ukraine hingegen muss sich auf die Möglichkeit einstellen, dass die Unterstützung nachlassen wird – auch wenn das nicht von einem Tag auf den anderen passieren dürfte.
Tim Sweijs: Ich erwarte, dass es ein langwieriger Konflikt sein wird, dessen Ende noch lange nicht in Sicht ist.
Natürlich haben wir jetzt in dieser kurzen Analyse vieles vereinfacht und weggelassen. Wir können auch nicht voraussagen, was als Nächstes passieren wird und wie und wann der Krieg endet. Zumal schon so mancher Konflikt eine unerwartete Wendung genommen hat.
Wir können aber sagen: Jene Faktoren, die aus Erfahrung kriegsentscheidend sein können, deuten darauf hin, dass der Ukraine-Krieg noch lange nicht vorbei ist.