Die Forderung eines CEO nach einer 90-Stunden-Woche hat in Indien breite Empörung ausgelöst. Doch es gibt auch Stimmen, die Ferien als «koloniales Überbleibsel» kritisieren und mehr Einsatz fordern, um im Wettbewerb mit China zu bestehen.
Müssen die Inder mehr arbeiten, um sich im globalen Wettbewerb behaupten zu können? Und ist es vergeudete Zeit, wenn sie den Sonntag mit ihrer Familie verbringen? Über diese Fragen wird in Indien heftig diskutiert, seitdem sich der Konzernchef S. N. Subrahmanyan in einer Neujahrsansprache für eine 90-Stunden-Woche ausgesprochen hat. Die Mitarbeiter sollten am Sonntag lieber ins Büro zu kommen, statt die Zeit mit ihren Ehefrauen zu verbringen, sagte Subrahmanyan. Denn dies, so implizierte er, sei reine Zeitverschwendung.
«Was habt ihr denn zu Hause zu tun? Wie lange könnt ihr eure Frau anstarren? Los, kommt zurück ins Büro, und fangt an zu arbeiten!», sagte der Chef des Industriekonglomerats Larsen & Toubro in einem Video, das in Indien vergangene Woche weite Verbreitung fand und eine hitzige Debatte über Arbeitsmoral, Produktivität und das Verhältnis der Geschlechter ausgelöst hat. Die Inder sollten dem Beispiel der Chinesen folgen und 90 Stunden die Woche arbeiten, forderte Subrahmanyan.
Der Konzernchef knüpft mit seinen Äusserungen an eine schon länger laufende Debatte in Indien an, wie viel Arbeit angemessen sei. Erst im November hatte der Infosys-Mitbegründer Narayana Murthy die indische Jugend aufgerufen, 70 Stunden die Woche zu arbeiten, um das Land voranzubringen. Und der Milliardär Gautam Adani meinte im Dezember, wenn Männer mehr als acht Stunden zu Hause verbrächten, würden ihnen ohnehin nur die Frauen davonlaufen.
Viele Inder reagieren mit Humor auf Subrahmanyan
Ausgelöst hatte die ganze Debatte der Suizid einer jungen Frau, die sich im Juli aus Verzweiflung über die hohe Arbeitsbelastung bei dem Rechnungsprüfer EY das Leben genommen hatte. Viele junge Leute hatten daraufhin über den enormen Druck auf dem hochkompetitiven Arbeitsmarkt geklagt und ein besseres Verhältnis von Arbeit und Freizeit verlangt. Ältere kritisierten dagegen, die Angehörigen der Generation Z wollten nicht mehr richtig arbeiten und hätten überzogene Ansprüche und keinen Respekt für die Leistung Älterer.
Mit seiner von sexistischen Untertönen unterlegten Forderung nach mehr Sonntagsarbeit stiess Subrahmanyan nun in der Öffentlichkeit auf breiten Widerspruch. Viele Inderinnen und Inder bezeichneten eine 90-Stunden-Woche empört als Form von Sklaverei und Ausbeutung, andere reagierten dagegen mit Humor. In den sozialen Netzwerken wurde der Sonntag zum «Stareday» erklärt, und Männer posteten Fotos von sich, wie sie liebevoll ihre Ehefrauen anschauten.
Unterstützung erhielten sie vom Chef des Autokonzerns Mahindra. «Meine Frau ist wunderbar, ich liebe es, sie anzustarren», sagte Anand Mahindra. Der Fokus bei der Arbeit sollte weniger auf Quantität als auf Qualität liegen. Auch wer nur zehn Stunden die Woche arbeite, könne die Welt verändern. Wer seine ganze Zeit im Büro verbringe, verliere das Gefühl für die Bedürfnisse der Menschen und könne keine guten Produkte für sie entwickeln, sagte der Mahindra-Chef.
Die Aufteilung der Arbeit im Haushalt ist höchst ungleich
In der Zeitung «Indian Express» schrieb die Ökonomin Ashwini Despande am Freitag, der Schlüssel zur Produktivität liege nicht in langen Arbeitszeiten, sondern in fairer Bezahlung und gleichen Chancen. Sie wies darauf hin, dass indische Frauen zehnmal so viel Zeit für Hausarbeit aufbrächten als Männer. Dafür kämen auf zehn erwerbstätige Männer lediglich vier erwerbstätige Frauen. Frauen wie Männer sollten beruflich Erfolg haben können, ohne Gesundheit und Familie dafür zu opfern.
Der Politiker Tarun Vijay schrieb dagegen in der gleichen Zeitung, die Ferienmanie der Inder sei ein «koloniales Überbleibsel». Es sei falsch, blind den Westen zu imitieren und immer mehr Ferientage zu gewähren. Die Tradition des Landes sei es, sich seinen Aufgaben zu widmen, bis sie erledigt seien. Nur durch harte Arbeit könne die Armut überwunden werden. Premierminister Narendra Modi mache niemals Pause, schrieb Vijay. Er sollte der Nation als Vorbild gelten.
Es gibt heute eine wachsende Mittelschicht in Indien, die Wert auf Freizeit legt und es sich leisten kann, in die Ferien zu fahren. Der Tourismus in Indien boomt seit Jahren, auch Auslandsreisen sind für immer grössere Bevölkerungsschichten finanzierbar. Im globalen Vergleich arbeiten die Inder aber noch immer sehr viel. Gerade die vielen Millionen Strassenverkäufer, Taxifahrer und Lieferanten haben keine Wahl, als von morgens früh bis abends spät zu arbeiten. Für sie ist eine 70- oder 90-Stunden-Woche allzu oft noch immer Realität.