Donnerstag, November 28

Vier Tage nach Furrers Unfall ist noch immer vieles unklar. Was wir wissen – und was es noch aufzuklären gilt.

Mit dem Strassenrennen der Männer sind am Sonntag die Rad-Weltmeisterschaften in Zürich zu Ende gegangen. Der Sieger Tadej Pogacar schrieb mit seiner Attacke 100 Kilometer vor dem Ziel und der folgenden Solofahrt Radsportgeschichte; Zürich zeigte sich zum Abschluss der WM von seiner besten Seite, Zehntausende von Zuschauern feuerten die Radfahrer an, die Stadt erstrahlte in goldenem Herbstlicht.

Und doch bleibt ein Schatten über diesen Rad-WM. Mit Muriel Furrer verunfallte am Donnerstag ein vielversprechendes Schweizer Rad-Talent tödlich. 15 Monate zuvor war an der Tour de Suisse bereits der Profi Gino Mäder nach einem Sturz gestorben.

Der Unfall von Furrer ereignete sich am Donnerstag im Strassenrennen der U-19-Juniorinnen, am Freitag erlag die 18-Jährige aus der Zürcher Oberländer Gemeinde Egg im Spital ihren schweren Kopfverletzungen. Weiterhin sind viele Fragen zum Sturz offen. Wir beantworten die wichtigsten davon.

Wie kann es sein, dass der Sturz einer Radfahrerin in einem WM-Rennen so lange unbemerkt bleibt?

Das WM-Strassenrennen der U-19-Juniorinnen fand am Donnerstag statt, einem gewöhnlichen Werktag. Radrennen von Junioren locken meist nur wenige Zuschauerinnen und Zuschauer an. Am Donnerstag regnete es stark, womit noch weniger Leute das Rennen der Juniorinnen direkt am Streckenrand verfolgt haben dürften.

Der Unfall ereignete sich zudem in einem Waldstück zwischen Zumikon und Küsnacht, an einer für Zuschauer unattraktiven Stelle. TV-Bilder belegen, dass am Donnerstagmorgen nur wenige Streckenposten in diesem Abschnitt platziert waren. Zudem ist plausibel, dass Furrers Sturz auch von keiner ihrer Konkurrentinnen bemerkt worden ist. Das zeigt eine Rekonstruktion des Renngeschehens.

Die Fahrerinnen starteten um 10 Uhr in Uster, sie mussten 73,6 Kilometer absolvieren. Dabei fuhren sie zunächst einmal über den Greifensee Loop und danach zwei Mal über den City Circuit rund um Zürich. Das Feld war in diesem Rennen schnell weit auseinandergerissen, bei der ersten Überquerung der Ziellinie beim Sechseläutenplatz betrugen die Abstände zwischen den Fahrerinnen teilweise mehrere Minuten. Es ist also gut möglich, dass niemand direkt vor oder hinter Furrer gefahren ist, als sie stürzte.

Die Unfallstelle befindet sich auf der Schmalzgruebstrasse, die in vielen Kurven abwärts durch dichten Wald führt. Da reicht die Sicht teilweise nur wenige Meter bis zur nächsten Kurve. Zudem mussten sich die Radrennfahrerinnen bei starkem Regen noch stärker auf sich selbst und die Strasse konzentrieren. Erst als um 12 Uhr 54 die Para-Rennfahrer das Waldstück zwischen Zumikon und Küsnacht passierten, waren auf den TV-Bildern Polizeiautos und die Ambulanz zu sehen. Zwei Minuten zuvor war der Helikopter der Rega eingetroffen, der Furrer nach der Erstversorgung ins Spital flog.

Wie wurde die Athletin gefunden?

Am Montag haben die Staatsanwaltschaft und die Kantonspolizei Zürich in einer ersten Medienmitteilung geschrieben: «Die bisherigen Ermittlungen zeigen, dass die gestürzte Athletin durch einen Angehörigen der Streckensicherheit bewusstlos abseits der Strecke im Wald entdeckt worden ist.» Die sofort aufgebotenen Rettungskräfte seien kurz danach am Unfallort eingetroffen und hätten die Erstversorgung übernommen. Der genaue Zeitpunkt des Unfalls sei allerdings noch nicht restlos geklärt.

Die jetzigen Erkenntnisse stützen die Annahme, dass Furrer nach ihrem Sturz längere Zeit im Unterholz liegenblieb, ehe sie bemerkt und geborgen wurde. Nach ersten Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft hat die Rennleitung Alarm geschlagen, als sie bemerkte, dass Furrer vermisst wird. Danach haben sich Streckenposten auf die Suche nach der Vermissten gemacht und sie auch gefunden. Offen bleibt die Frage, wie und wann die Rennleitung bemerkt hat, dass Furrer vermisst wird.

Wie wird ermittelt?

Die Kantonspolizei hat mit der Staatsanwaltschaft die Untersuchung zur Klärung der Todesursache und Todesart aufgenommen. Spezialisten der Polizei und des Forensischen Instituts machten unmittelbar nach der Bergung die notwendigen Spurensicherungen. Das Rennrad wurde durch die Strafverfolgungsbehörden zur technischen Überprüfung sichergestellt. Das Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich wurde mit den erforderlichen Untersuchungen beauftragt.

Hinweise auf Dritteinwirkung liegen nach Polizeiangaben keine vor. Zum Sturz gibt es bisher weder Fernsehbilder noch andere Aufnahmen. Zeugen sind keine bekannt.

Rolf Jäger von der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich weist darauf hin, dass alleine der Umstand, dass eine Fahrerin nicht umgehend ins Ziel gelange und ihr Aufenthaltsort vorübergehend unbekannt sei, noch nichts Ungewöhnliches sei bei einem Radrennen. Es komme beispielsweise vor, dass eine Athletin aufgebe und von einem Streckenposten mitgenommen werde.

Was man erwarten dürfe: Dass eine Rennorganisation reagiere, sobald es Anzeichen für einen Unfall gebe. Nach ersten Erkenntnissen habe die Rennleitung einen solchen Alarm beim aktuellen Fall ausgelöst. «Wie genau die Timeline aussah, ob die Rettung womöglich länger gedauert hat, als sie sollte – all diese Fragen werden wir uns sehr genau anschauen», sagt Jäger. Zu möglichen Straftatbeständen sagt die Staatsanwaltschaft nichts.

Wie lange werden die Ermittlungen dauern?

Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht absehbar. Die Ermittlungen dürften aber Wochen oder gar Monate in Anspruch nehmen. Als Gino Mäder im Juni 2023 am Albulapass tödlich verunglückte, dauerte es bis Anfang November, ehe die Staatsanwaltschaft Graubünden ihre Ermittlungen einstellte.

Dabei unterliefen den Ermittlern gravierende Fehler. So versäumten sie zunächst etwa, einen Fahrer zu befragen, der unmittelbar vor Gino Mäder gefahren war und dessen Sturz gehört hatte. Die Ursache von Mäders Sturz haben die Ermittler nicht herausgefunden. Im Fall von Muriel Furrer geht man davon aus, dass keine Person den Sturz gesehen oder bemerkt hat. Das dürfte die Ermittlungen erschweren.

Warum informierten der Radsport-Weltverband (UCI), das lokale Organisationskomitee und Swiss Cycling bisher so zurückhaltend?

Die UCI, das lokale Organisationskomitee und der Schweizer Verband Swiss Cycling halten sich mit Informationen zum Unfall zurück und verweisen auf die laufenden Ermittlungen. Olivier Senn, der sportliche Leiter der WM, sagte am Wochenende, das Organisationskomitee arbeite eng mit den Behörden zusammen. Die Aufgabe des Veranstalters bestehe nun darin, die relevanten Fakten zu sammeln und diese der Staatsanwaltschaft zuzuführen. Auf Gerüchte, wonach Furrer nach ihrem Sturz lange unbemerkt im Unterholz liegen geblieben sei, bevor sie geborgen wurde, ging er nicht ein.

War die Fahrerin über Funk mit ihrem Team Swiss Cycling verbunden?

Nein. Auf der obersten Ebene des professionellen Radsports wird seit 1997 zwar mit Funk gefahren. Und eine Zeitlang war Funk auch in den unteren Kategorien erlaubt, doch der Weltverband UCI verbot später dessen Gebrauch. Das Ziel des Verbots war, in den Junioren- und U23-Rennen der Männer oder Frauen die Eigenverantwortung zu fördern. An Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen sind Funkverbindungen in den Rennen generell untersagt. Das ist einerseits eine Reverenz an die Tradition des Sports, andererseits sollen damit weniger berechenbare und damit spannendere Rennen möglich werden.

War Muriel Furrers Rennrad mit einem Transponder/GPS-Tracker ausgestattet?

Senn bestätigte dies am Samstag in einem Interview mit der Nachrichtenagentur SDA. Auch dieser Tracker steht den Behörden für die Ermittlung zur Verfügung. Im Rennen dienen Informationen des Trackers aber primär der TV-Berichterstattung.

War die Strecke zu gefährlich?

Nein. Die Strasse ist zwar steil, aber in einem guten Zustand, die Kurven nicht ungewöhnlich eng. Die Entwicklung der Strecke begann im Rahmen der Bewerbungsphase 2019. Nach vertieften Abklärungen, auch in Bezug auf die Verkehrssicherheit, entstanden dann die WM-Strecken. Diese wurden von der UCI genehmigt. Olivier Senn sagte im Interview mit der Nachrichtenagentur SDA, er habe nie eine negative Rückmeldung zu dieser Passage erhalten – weder von der UCI noch von den Teams. Auch die Streckensicherung wurde von der UCI abgenommen. Dazu kommt, dass Muriel Furrer in der Nähe des Unfallortes aufgewachsen ist und die Strassen gut kannte.

Wie wichtig ist eine schnelle Versorgung nach einem Schädel-Hirn-Trauma, wie es Furrer erlitten hat?

Die Überlebenschance sinkt bei einem schweren Schädel-Hirn-Trauma mit jeder Minute, vergleichbar mit einem Lawinenunglück. Man spricht von primären und sekundären Verletzungen. Die primären Verletzungen entstehen durch den Aufprall und betreffen das Hirngefässsystem sowie Nervenzellen. Die sekundären Verletzungen entstehen als Folge, und diese können sich durch schnelles Eingreifen lindern lassen.

Hirnblutungen führen zu Schwellungen, die das umliegende Hirngewebe schädigen können. Dem wirkt man mit Medikamenten entgegen. Notfalls wird die Schädeldecke geöffnet, um das Gehirn vom Druck der Schwellung zu entlasten. Zentral ist auch die rasche Versorgung mit Sauerstoff, da infolge des Traumas die Unterversorgung des Gehirns droht.

Statistisch gesehen liegt die Überlebenschance bei einem schweren Schädel-Hirn-Trauma bei rund 50 Prozent, wobei viele Überlebende Beeinträchtigungen davon tragen. Die Behandlung in der Frühphase ist für den Heilungsverlauf oft entscheidend.

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