Freitag, September 20

Stan Wawrinka ist der älteste Spieler auf der ATP-Tour. Doch das Tennisracket loslassen kann der dreifache Grand-Slam-Sieger noch nicht. Sein Vater Wolfram weiss, weshalb. Ein Besuch in der Romandie.

Wie lange noch?

Es ist diese einfache, lapidare Frage, die Stan Wawrinka und seinen Anhang momentan mehr umtreibt als alles andere. Der 39-jährige Romand hat seinen letzten Match vor rund drei Wochen am US Open gespielt. Seither ist es wieder ruhig geworden um ihn. Letzte Woche sagte er seine Teilnahme am Challenger-Turnier von St-Tropez wegen einer Verletzung ab. Bei der Davis-Cup-Begegnung des Schweizer Teams am Wochenende in Biel gegen Peru fehlte er. Gegenüber der französischen Zeitung «Var-Matin» sagte er: «Ich weiss nicht, wann ich wieder spielen kann.» Kehrt er überhaupt zurück?

Vorgesehen ist, dass Wawrinka Ende Oktober an den Swiss Indoors in Basel antreten wird. Doch sicher ist in seiner Karriere gar nichts mehr. Seit einem Jahr und dem US Open 2023 hat er nie mehr zwei Partien in Folge gewonnen. In der Bilanz der laufenden Saison stehen fünf Siege zwölf Niederlagen gegenüber. Im ATP-Ranking liegt er noch auf Position 234.

Weshalb tut sich das ein dreifacher Grand-Slam-Sieger, der einmal die Nummer 3 der Welt war, noch an? Wer eine Antwort auf diese Frage erhalten will, der muss sich auf die Suche nach Wawrinkas Spuren begeben. Sie führt in die kleine Waadtländer Gemeinde St-Barthélemy.

St-Barthélemy liegt unweit der Autobahn 1, die Lausanne und das Léman-Becken mit dem Espace Mittelland verbindet. Gemäss der jüngsten Erhebung aus dem Dezember 2023 zählt die Gemeinde 829 Einwohner, die zur Arbeit grösstenteils ins nahe Lausanne pendeln oder ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdienen, welche die Region prägt. Es gibt nichts, was einen zufälligen Passanten später an das unscheinbare Dorf erinnern könnte. Das prägnanteste Gebäude ist das Schloss, Goumoens-le-Châtel, ein alter Adelssitz aus dem Mittelalter, der unweit des Dorfkerns auf einem Hügel thront.

Am Fusse der alten Schlossmauern liegt ein grosser Bauernhof, ihm angegliedert ist das pädagogische Zentrum Fondation St-Barthélemy. Die Einrichtung bietet rund achtzig körperlich oder psychisch handicapierten Menschen ein Zuhause. Die Heimstätte ist das Lebenswerk von Wolfram und Isabelle Wawrinka, den Eltern von Stan Wawrinka.

Die Eltern fliehen ins Paradies

«Stan» ist rund um die Farm aufgewachsen. Auf ihr baute er wie andere Jugendliche seines Alters Hütten, spielte und fuhr manchmal mit einem Traktor. 2020 zogen seine Eltern nach einer Meinungsverschiedenheit mit der Trägerschaft in ein unscheinbares Häuschen um, das in der einen Steinwurf entfernten Gemeinde Bettens liegt. Sie leben dort an einer Strasse, die den malerischen Namen «En Paradis» trägt und direkt hinter dem kleinen Friedhof liegt.

Dort sitzt Wolfram Wawrinka an einem sonnigen, windigen Spätsommertag auf seiner Terrasse und erzählt mit Stolz aus der Jugend seines Jungen, der heute weltweit bekannt ist. Stanislas Wawrinka hat als professioneller Tennisspieler drei Grand-Slam-Titel und insgesamt sechzehn Turniere gewonnen sowie 37 Millionen Dollar Preisgeld verdient. Vor zehn Jahren stieg er bis zur dritten Weltranglistenposition auf. Seine Erfolge machten ihn landesweit populär, 2014 wählte ihn das Fernsehpublikum zum Schweizer des Jahres. Die staatliche Eisenbahngesellschaft Frankreichs SNCF verpflichtete ihn als Markenbotschafter und benannte eine TGV-Komposition nach ihm.

«In einer weltumspannenden Sportart zu den besten drei der Welt zu gehören, das ist keine geringe Leistung», sagt der Vater Wawrinka. Schon früh hatten die Eltern gesehen, dass ihr Sohn zwei aussergewöhnliche Begabungen besass: Er hatte offensichtliches Talent für das Tennisspielen und war daneben auch ausgesprochen beharrlich und ehrgeizig. «Wenn der Trainer ihn aufforderte, eine Stunde lang rennen zu gehen, dann rannte Stan eineinhalb Stunden», erzählt der Vater Wawrinka.

Stan ist das zweitälteste von vier Kindern von Wolfram und Isabelle Wawrinka. Sein Bruder Jonathan ist drei Jahre älter und sammelte ebenfalls ein paar ATP-Punkte. Seine beste Klassierung erreichte er im Jahr 2003, als er einmal die Nummer 948 der Welt war. In seiner Statistik figuriert ein einziger Match, eine Zwei-Satz-Niederlage gegen den Belgier Yannick Mertens, die damalige Nummer 629 der Welt. Heute betreibt er eine Tennis-Academy in Lausanne, die den Namen Wawrinka trägt und fraglos von den Erfolgen seines jüngeren Bruders profitiert.

Der Vater Wawrinka sagt, Jonathan hätten die Leidenschaft und der Wille seines Bruders gefehlt. «Und ich weiss, dass er es heute leise bedauert, dass er nicht auch etwas entschlossener an seiner Karriere gearbeitet hatte.» Die zwei jüngeren Schwestern Djanaée and Naella hatten ebenfalls Talent für den Tennissport gezeigt. Sie sind heute in anderen Bereichen tätig.

Die Schweiz wurde 2003 erstmals auf den jungen Stanislas Wawrinka aufmerksam, als er im Alter von 17 Jahren das Juniorenturnier von Roland-Garros gewann. Er trainierte damals mit seinem langjährigen Förderer Dimitri Zavialoff in Lausanne. Später zog er mit dem russischstämmigen Franzosen und seinem Bruder Jonathan nach Barcelona, wo die drei bessere und vor allem auch bezahlbare Trainingsbedingungen vorfanden.

Der Vater Wawrinka sagt: «Als Stan das Juniorenturnier von Paris gewonnen hat, da dachten wir das erste Mal, aus ihm könnte wirklich einmal etwas werden. Aber selbst da haben wir noch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass sich seine Karriere derart entwickeln würde.»

Stan Wawrinka war in vielerlei Hinsicht ein Spätzünder. Lange stand er mehr oder weniger unregelmässig auf dem Tennisplatz. Während zwei seiner grossen Rivalen, der Baselbieter Roger Federer und der Mallorquiner Rafael Nadal, den Schläger bereits mit zwei beziehungsweise drei Jahren regelmässig in den Händen hielten, begann er erst mit zwölf Jahren ernsthaft zu trainieren und an seinen Fertigkeiten zu feilen. Als er im Januar 2014 als krasser Aussenseiter in Melbourne das Australian Open gewann, war er bereits knapp 28 Jahre alt, Federer schon siebzehnfacher Grand-Slam-Sieger, seit beinahe zehn Jahren an der Weltranglistenspitze und ein Weltstar.

Für Wawrinka, der im sozialen Umfeld der Fondation St-Barthélemy aufgewachsen und sozialisiert worden war, war der Schatten des weltgewandten Baselbieters lange übermächtig. Während Jahren war er auf der Tennis-Tour einfach «der zweite Schweizer», schüchtern und zurückhaltend, weil er nur leidlich Englisch und trotz den deutschen Wurzeln seiner Eltern gar kein Deutsch sprach. Wawrinka verlor 13 der ersten 14 Begegnungen gegen seinen Landsmann. Den einzigen Sieg errang er im April 2009 in Monte Carlo, als Federer unmittelbar vor seiner Hochzeit mit Mirka Vavrinec stand und den Kopf nicht ganz bei der Sache hatte.

Federer war kein Hindernis, sondern der Motor, der Stan antrieb

Die Bilanz hat sich auch nach Wawrinkas Durchbruch zum Grand-Slam-Sieger 2014 in Melbourne nicht mehr grundsätzlich verändert. Sie lautet 3:23. Den dritten und wohl auch bedeutendsten Sieg über Federer holte Wawrinka 2015, als er den Baselbieter auf dem Weg zum zweiten Major-Titel in Roland-Garros im Viertelfinal in drei Sätzen bezwang.

The ONLY Time Wawrinka Defeated Federer in a Grand Slam

Doch Wawrinka hat es nie als Handicap gesehen, dass er den Grossteil seiner Karriere im Schatten von jener Federers verbracht hat. Gemeinsam haben die beiden zwei Titel geholt, die einer allein kaum geschafft hätte. 2008 wurden sie in Peking Olympiasieger im Doppel, sechs Jahre später, im Herbst 2014, holten sie in Lille gegen Frankreich den Davis-Cup-Sieg. Beide Male war Wawrinka im Prinzip der treibende Spieler auf dem Platz. Und doch stand Federer zumindest international im Fokus.

Wolfram Wawrinka sagt: «Roger war für Stan kein Hindernis. Er hat ihn vielmehr als Motor gesehen, der ihn selbst immer wieder zu Bestleistungen antrieb. Stan war auch immer beeindruckt, wie Federer mit seinen Erfolgen umging und wie er die Schattenseiten von diesen meisterte.»

Wawrinka senior erinnert sich an den ersten Major-Sieg seines Sohnes im Januar 2014 in Melbourne. «Wir sassen damals in seinem Hotelzimmer und warteten auf ihn. Die Siegerehrung und die anschliessenden Medientermine fesselten ihn noch für Stunden auf der Anlage. Als er am Morgen um drei Uhr in der Früh endlich im Hotel ankam, setzte er sich zu uns ins Zimmer und sagte: ‹Papa, mein Leben wird sich nun verändern. Es wird nichts mehr sein, wie es bisher war.›»

Ein Erfolg wie dieser tangiert nicht nur den Sportler, sondern seine ganze Familie. Internationale Medien interessierten sich auf einmal für Wawrinka und den ungewöhnlichen Ort, aus dem er kam. Auch der Vater Wolfram, die Mutter Isabelle und seine drei Geschwister waren plötzlich Personen des öffentlichen Interesses.

Nicht zuletzt deshalb sitzt Wolfram Wawrinka an diesem Septembernachmittag im beschaulichen Garten der Familie in Bettens und erzählt aus der Jugend seines Jungen, der zu einem Weltstar geworden ist. Doch zur Belastung sei das nie geworden, sagt Wawrinka senior. «Wir haben auch davon profitiert. Wir reisen heute mehr, als wir das früher getan haben. Wir waren bei allen drei Grand-Slam-Siegen unseres Sohnes dabei. 2014 in Melbourne, 2015 in Paris, 2016 in New York.»

Jüngst hat der Vater Wawrinka bei einem Spaziergang im Dorf den zweiten bekannten Spross des Bauerndorfs St-Barthélemy getroffen. Lucien Favre, den ehemaligen Mittelfeldstrategen von Servette und der Fussball-Nationalmannschaft, der später in der deutschen Bundesliga und der französischen Serie 1 zum Top-Trainer wurde. Wie Stan Wawrinka hat auch Lucien Favre nicht nur die Sonnen-, sondern auch die Schattenseiten des Erfolges kennengelernt.

Der Vater Wawrinka und Favre sind gemeinsam zur Schule gegangen. Bei einem Kaffee tauschten sie jüngst Erinnerungen darüber aus, wie Stan die Tennisbälle gegen dieselbe Wand gehämmert hatte, an der Lucien Favre ein paar Jahrzehnte zuvor seine Freistösse geübt und an der Schusstechnik gefeilt hatte.

Die Eltern würden gerne noch einmal ans Australian Open

Es ist ungewöhnlich, dass ein Bauerndorf wie St-Barthélemy gleich zwei Sportler von internationalem Renommee hervorbringt. Umso mehr schmerzt es den Vater, nun mitverfolgen zu müssen, wie seinem Sohn immer wieder der Rücktritt nahegelegt wird. Stan Wawrinka ist 39 Jahre alt, am 28. März des kommenden Jahres wird er 40. Schon jetzt ist er der älteste Spieler, der auf der ATP-Tour aktiv ist.

Noch profitiert Wawrinka von einem sogenannten Protected Ranking, das ihm die Türe zu den grossen Turnieren aufstösst. Doch sollte er das nicht bald nutzen und wieder zu gewinnen beginnen, wird der freie Fall im Ranking weitergehen. Wolfram Wawrinka hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er würde mit seiner Frau gerne noch einmal ans Australian Open fliegen, um seinen Sohn in Melbourne spielen zu sehen. Dort, wo vor bald elf Jahren die grosse Zeit von Stan Wawrinka begonnen hat.

Der Vater Wawrinka sagt: «Von aussen ist es einfach, zu sagen, er sollte besser aufhören. Stans Hunger ist weiterhin da. Die Leidenschaft hat er von seiner Mutter, von mir hat er die Kraft. Stan hat eine riesige Passion, und die macht ihn auch so populär. Warum sollte er nicht weiterspielen, solange er noch Lust dazu hat?»

Das ist eine gute und berechtigte Frage. Vor einem Jahr sagte Stan Wawrinka im letzten grösseren Gespräch mit der NZZ, er habe weiterhin tausend Pläne im Kopf. Stan bleibt Stan. Der Ehrgeiz und die Fähigkeit, nicht auf andere zu hören und seinem eigenen Gefühl zu folgen, haben ihn vom scheuen Jungen aus St-Barthélemy zum dreifachen Grand-Slam-Sieger gemacht. Er hat jedes Recht, die letzte Phase seiner Karriere so lange wie möglich zu geniessen. Selbst dann, wenn er nur noch verlieren sollte.

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