Samstag, September 28

Das katholische Oberhaupt sieht sich in Belgien mit Missbrauchsfällen konfrontiert. Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind angespannt – einst führten sie sogar zu einer ernsthaften Demokratiekrise.

Der Papst kam – und mit ihm der Sturm. Als sein Flugzeug am Donnerstagabend auf dem Militärflughafen im belgischen Melsbroek landete, regnete es derart heftig, dass das katholische Oberhaupt über eine Viertelstunde an Bord bleiben musste. Die Reporterin der TV-Station, die seine Ankunft live übertrug, wusste irgendwann kaum mehr, was sie nun noch erzählen sollte.

Schliesslich konnte der 87-Jährige doch noch belgischen Boden betreten. Bis Sonntag erwartet ihn ein dichtes Programm, unter anderem die Feierlichkeiten zum 600-Jahr-Jubiläum der renommierten Universität Leuven. Der Höhepunkt soll die Messe in einem Fussballstadion vor etwa 40 000 Gläubigen werden.

Ein Sturm mittleren Stärkegrades ging dem Besuch freilich schon voraus, als sich der Pontifex noch längst im sonnigen Rom befand. Auslöser war ein ungewöhnlich angriffiges Schreiben der Vereinigung «Centre d’Action Laïque», das einen «schweren Verstoss gegen die Trennung von Kirche und Staat» ortete. Der Brief entfachte in Belgien eine öffentliche Diskussion.

Auch der Dalai Lama ist «Seine Heiligkeit»

Es ist weniger der Papstbesuch selbst als dessen Umstände, der die Laizisten in Rage bringt. Eingeladen hatte der belgische König Philippe, nachdem er den Papst letzten Herbst im Vatikan besucht hatte. Auf den Freitagmorgen bat er hohe Vertreter aus Politik, Justiz und Wirtschaft (die sogenannten «corps constitués») zu sich ins Schloss, wo «Seine Heiligkeit» eine «Botschaft an die Nation» richten werde.

Für die Laizisten verhöhnt der König – ein gläubiger Katholik – damit die verfassungsrechtlich garantierte religiöse Neutralität des Staates. Keinem anderen religiösen Oberhaupt werde vor versammelter Elite ein derartiges Privileg gewährt, geisselt das laizistische Zentrum.

Die Angelegenheit ist freilich nicht so eindeutig, wie die Gruppe vorgibt. Denn der Papst ist nicht nur der Vorsteher der katholischen Kirche, er ist auch der Souverän des Vatikans. In dieser Funktion darf ihn der König durchaus zu einer Rede an die Nation ankündigen – und wer dem gebürtigen Argentinier schon einmal zugehört hat, weiss, dass er sich pointiert zu politischen Themen äussert. Nicht zuletzt gehört es zur diplomatischen Gepflogenheit, ein religiöses Oberhaupt als «Seine Heiligkeit» anzukündigen. Auch der Dalai Lama wurde 2006 bei seinem Besuch so betitelt.

Zahlreiche Missbrauchsvorwürfe

Als wollte Philippe seinen Kritikern die Argumente aus der Hand nehmen, schonte er den Papst beim viel beachteten Treffen im Königsschloss keineswegs. Die katholische Kirche habe viel zu lange gebraucht, um die Missbrauchsfälle zu untersuchen, sagte er. Sie müsse dafür sorgen, dass die Verbrechen gesühnt und den Opfern geholfen werde. Noch schärfer äusserte sich der geschäftsführende Premierminister Alexander De Croo.

Der Papst lauschte aufmerksam, applaudierte gemäss Medienberichten gar kurz und bat die Opfer im Namen der Kirche um Vergebung. Sie müsse «alles in ihrer Macht Stehende tun», damit sich die Vorfälle nicht wiederholten. Allerdings reissen die mutmasslichen Missbrauchsfälle nicht ab – alleine seit 2012 sind mehr als 700 Vorwürfe erhoben worden. Erst im März hatte Franziskus den früheren Bischof von Brügge aus dem Klerikerstand entlassen.

Nicht so scharf getrennt wie in Frankreich

Dass die von den Laizisten ausgelöste Polemik auf Echo stösst, ist auch auf das in Belgien angespannte Verhältnis zwischen Religion und Staat zurückzuführen. Zwar sind die Behörden zur Neutralität verpflichtet, so scharf getrennt wie etwa im Nachbarland Frankreich sind die Beziehungen aber nicht.

Mehrere Religionen sind offiziell anerkannt und erhalten unter anderem finanzielle Unterstützung durch den Staat: die römisch-katholische, die protestantische, die anglikanische und die orthodoxe Kirche sowie der Islam und das Judentum. Auch der säkulare Humanismus ist als philosophische Weltanschauung anerkannt. Wie im föderalen Belgien auch in anderen Bereichen üblich, gibt es regionale Unterschiede.

Obwohl die sechs anerkannten Religionen formell auf einer Stufe stehen, kritisieren Parteien, Organisationen der Zivilgesellschaft und Vertreter von kleineren Glaubensgemeinschaften regelmässig, dass der Katholizismus aufgrund seiner historischen Rolle noch immer bevorzugt werde. Auch wenn sich mittlerweile weniger als die Hälfte der Bevölkerung zum katholischen Glauben bekennt, erhält ihre Kirche überproportional mehr staatliche Gelder.

Kurzzeitig amtsunfähig

Im Alltag besonders sichtbar ist dies im Bildungs- und im Gesundheitswesen. Zahlreiche Schulen und Krankenhäuser, besonders im flämischen Landesteil, werden weiterhin von katholischen Organisationen betrieben und geniessen oftmals eine höhere Reputation als die staatliche «Konkurrenz».

Dass der König seinen Glauben nicht versteckt, sehen die Humanisten ebenfalls kritisch. Im historischen Vergleich ist Philippe allerdings geradezu zurückhaltend: Der Glaube seines Vaters Baudouin war derart stark, dass er sich 1990 weigerte, ein vom Parlament verabschiedetes Abtreibungsgesetz zu unterschreiben. Es konnte nicht in Kraft treten – die Demokratiekrise war perfekt.

Doch Belgien wäre nicht Belgien, wenn man nicht auch dafür eine kreative Lösung gefunden hätte: Ein Kabinettsausschuss erklärte den König kurzerhand «ausserstande, zu regieren» – wobei jene Verfassungsbestimmung eigentlich für gesundheitliche Probleme geschaffen wurde. Nach zwei Tagen «erlangte» der Regent dann wieder den Vollbesitz seiner Kräfte.

Exit mobile version