Dienstag, Oktober 8

Den Staaten an der Nato-Ostflanke geht die Geduld aus. Zur Diskussion stehen Sanktionen gegen Staaten, welche die russisch-chinesischen Kriegsanstrengungen begünstigen.

In die rote Backsteinmauer der Johannes-Kathedrale in Warschau ist eine Panzerkette eingemauert. Sie steht unscheinbar in einer Seitengasse und ist dennoch eine beklemmende Erinnerung an einen der zynischsten Momente des Zweiten Weltkriegs: Die SS hatte im Herbst 1944 gerade den Warschauer Aufstand niedergeschlagen, als die deutschen Besetzer die polnische Hauptstadt fast vollständig zerstörten – mit Flammenwerfern und Goliath-Panzern.

Die Rote Armee, die zu diesem Zeitpunkt bereits ans östliche Ufer der Weichsel vorgerückt war, schaute dem Morden und Brandschatzen, ohne einzugreifen, einfach zu. Der polnische Widerstand wurde zerschlagen und gleichzeitig auch Polens Symbole der Staatlichkeit. Die Nazis erledigten für die Sowjets die Drecksarbeit. Stalin, der Diktator im Kreml, wollte seine Macht weit nach Westen ausdehnen. Polen sollte nach dem Krieg so schwach wie möglich sein.

Trotzdem bauten die Warschauer ihre Altstadt sofort wieder originalgetreu auf. Mitte der 1950er Jahre sah es innerhalb der historischen Stadtmauern fast so aus, als hätte es die Verheerung nie gegeben. Ein Willensakt, ein Aufbäumen, ein Akt von «Nie wieder». Noch ist Polen nicht verloren, die erste Zeile der polnischen Hymne, des «Marschs Dombrowski», hatte offensichtlich auch für die moskauhörigen Kommunisten ihre Gültigkeit.

Die Nato-Ostflanke als Kern der Resilienz gegenüber Russland

Genau dieser Geist des Widerstands gegen die totalitäre Machtpolitik beseelt das Warsaw Security Forum, das seit zehn Jahren jeweils im Herbst Entscheidungsträger und Fachleute der transatlantischen Sicherheitspolitik zusammenbringt. Krieg sei ein Kampf des Willens, und der Wille der Ukraine, den Krieg zu gewinnen, sei stärker als der Russlands, sagte ein pensionierter General an einem Podium.

Gegenüber dem Diskurs in der Schweiz wirkt das Forum wie eine Parallelwelt. Während die Bedrohung in der Schweiz so abstrakt wie möglich formuliert wird, ist sie in Polen tägliche Realität. Die Frage ist nicht, ob die bestehende Armee vielleicht doch vollständig ausgerüstet werden soll, sondern, wie viel Divisionen es braucht, um einen russischen Angriff abzuwehren und gleichzeitig Litauen zu unterstützen.

Der Wehrwille steht an der Nato-Ostflanke ausser Zweifel. Das diesjährige Forum versuchte deshalb auch die Verbindung mit dem alten, dem westlichen Europa zu stärken. Statt über die Berliner Leisetreterei und die grossen, aber eigentlich wirkungslosen Worte aus Paris zu spotten, fordert das Warsaw Security Forum im Jahresbericht 2024, das Weimarer Dreieck wiederzubeleben.

Dieser Gesprächskreis zwischen Polen, Deutschland und Frankreich entstand 1991, um nach dem Ende des Kalten Kriegs die aussen- und sicherheitspolitische Integration über den gerade gefallenen Eisernen Vorhang auszudehnen. Seit dem Warschauer Aufstand und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder und der Neisse waren nicht einmal fünfzig Jahre vergangen.

Iran steht am Mittelmeer

Weitere dreissig Jahre später hat sich die Lage grundlegend geändert: Polen hat sich als das sicherheitspolitische Zentrum der Kraftentfaltung in Europa und der Resilienz gegenüber Russland herausgebildet. Ein gestärktes Weimarer Dreieck soll der EU demonstrieren, dass Warschau, Berlin und Paris trotz allen Differenzen noch immer einen gemeinsamen Weg gehen können.

Nur ein einiges Europa bietet hinreichend Schutz, dass die Mitgliedstaaten nicht als Objekte der neuen Machtpolitik gegeneinander ausgespielt werden können. Der uneindeutige Krieg Russlands reicht bereits heute bis tief ins Innere des Kontinentes. Insbesondere Deutschland soll destabilisiert und von der Nato entfremdet werden. Auch China versucht, einzelne EU-Staaten auf die eigene Seite zu ziehen.

Die eurasische Autokratie – China, Russland, Iran und Nordkorea – hat den Westen längst an mehreren Schauplätzen gleichzeitig angegriffen: am offensichtlichsten in der Ukraine, aber auch der Konflikt im Nahen Osten ist als Teil einer globalen Auseinandersetzung zu verstehen. Iran fordert nicht nur Israel heraus, sondern den Westen insgesamt. Das Regime in Teheran ist ein enger Zweckverbündeter Moskaus und Waffenlieferant geworden.

Ausserdem steht Iran seit Jahren mit bewaffneten Kräften am Mittelmeer: indirekt über die schiitische Terrororganisation Hizbullah in Libanon, unmittelbar mit Verbänden der Revolutionswächter in Syrien, zum Teil Seite an Seite mit den noch verbleibenden Truppen der russischen Armee. So, wie sich die Ukraine gegen Russland verteidigt, setzt sich Israel gegen Iran zur Wehr.

Neutral – aber gegenüber wem genau?

Noch deutlicher ausgedrückt: Die Ukraine und Israel kämpfen im gleichen Krieg gegen den gleichen Gegner, einfach in unterschiedlichen Kontexten. Die oftmals berechtigte Kritik am israelischen Vorgehen ist in Europa in offenen Antisemitismus umgeschlagen. Die fortschreitende Spaltung der westlichen Gesellschaften ist Absicht und schwächt auch den ukrainischen Verteidigungskampf.

Diese Idee eines globalen Kriegs der eurasischen Mächte gegen den Westen entspricht einem breiten Konsens des Warsaw Security Forum. Besonders deutlich äussert sich die Verknüpfung der Konflikte in den Lieferketten. Die russische Armee verschiesst in der Ukraine nordkoreanische Granaten und iranische Drohnen. Zudem ist Russland auch technologisch zum Juniorpartner Chinas geworden.

Das Regime in Peking hat sich bisher aber weder im Nahen Osten noch in Europa direkt eingemischt, sorgt aber dafür, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine zumindest nicht verliert. Die chinesische Strategie ist auf die Dominanz im Pazifik und auf Taiwan ausgerichtet. Unruhe auf der anderen Seite der grossen eurasischen Kontinentalplatte hilft, die USA um den ganzen Globus herum zu beschäftigen.

Lin Fei-fan, der stellvertretende Generalsekretär des Rats für nationale Sicherheit von Taiwan, äusserte sich in Warschau unmissverständlich: «China ist kein Friedensstifter, sondern der Treiber von Konflikten.» Die Warnung richtet sich auch an die Schweiz, die sich am Rande der Uno-Generalversammlung Ende September für eine chinesisch-brasilianische Friedensinitiative ausgesprochen hat.

Mit solchen Versuchen, ihre neutralitätspolitische Rolle zu stärken, dürfte die Schweiz ihre strategische Position eher schwächen. Kiew hat in Bern bereits protestiert, weil die territoriale Integrität der Ukraine im Vorschlag Chinas und Brasiliens ausgeklammert ist. Diese Neutralität nützt nur dem Angreifer in einem weltweiten Angriffskrieg. Es stellt sich die Frage, weshalb die Schweiz überhaupt neutral sein will – und vor allem, gegenüber wem.

«Doch kann das nicht das Ende der Geschichte sein»

Besonders heikel könnte die Situation werden, wenn der Krieg im Nahen Osten weiter eskaliert. Ein israelischer Luftangriff, der Iran empfindlich trifft, führte zu einer Zerreissprobe: Handelt es sich um einen legitimen Akt der Selbstverteidigung oder einen Präventivschlag im Graubereich des Völkerrechts? Der Uno-Sicherheitsrat tagt gegenwärtig unter schweizerischem Vorsitz und wird sich so oder so mit der Lage befassen.

Die Schweiz wird nicht darum herumkommen, Position zu beziehen. Für Anpassung oder Widerstand. Für die eigenen demokratischen, rechtsstaatlichen Prinzipien oder die Gleichgültigkeit gegenüber dem Unrecht. Für ein Minimum an universellen Gesetzen oder das anarchische Streben nach schierem Profit. Noch kann die Schweiz selbst entscheiden, auf welcher Seite sie stehen will.

Der Druck von aussen dürfte steigen. In Warschau wurden auf verschiedenen Panels Sanktionen gegen Länder diskutiert, welche die russisch-chinesischen Kriegsanstrengungen unterstützen oder auch nur ermöglichen. Das könnte die Schweiz vor ein Dilemma stellen: nicht wegen Russland, sondern wegen der engen Handelsbeziehungen mit China. Denn Aussenpolitik ist in Bern auch immer Aussenwirtschaftspolitik.

Die Schweiz und China haben vor zehn Jahren ein Freihandelsabkommen abgeschlossen, das bisher Wirtschaftsbeziehungen auf Augenhöhe ermöglicht hat – und ein gewisses Selbstbewusstsein im Verhältnis zur EU. Doch das Machtgebaren Pekings und die Verhärtung im chinesisch-westlichen Verhältnis könnten den Handel einschränken oder gar ganz unterbrechen.

Während die grösseren Unternehmen längst auf De-Risking setzen, bleiben viele Schweizer KMU weiterhin in China aktiv: nicht nur, um die eigenen Investitionen zu schützen, sondern auch, weil über die Jahre persönliche Geschäfts- und Vertrauensverhältnisse gewachsen sind. Deshalb ist es falsch, dass der Bundesrat einfach zuwartet und so tut, als wären die besonderen Beziehungen mit China völlig unproblematisch. Die Entscheidung für die Freiheit wird schmerzhaft und braucht Zeit.

Es wäre hilfreich, wenn sich die Schweizer Politik mit der Sicht an der Nato-Ostflanke auseinandersetzen würde. Von Polen lernen heisst die Freiheit verteidigen. Denn die Existenz des polnischen Staates ist eines der stärksten Symbole gegen die brachiale Gewalt der Machtpolitik. «Nie wieder» heisst hier «nie wieder Unterdrückung», «nie wieder Unfreiheit», auch wenn der Preis dafür hoch ist. Die Schweiz ist nicht mehr gewohnt, so konsequent zu handeln.

Einer der letzten Funksprüche des Warschauer Widerstands wurde in London abgefangen: «Ein Volk, in dem solche Tapferkeit lebt, ist unsterblich», überliefert der britische Kriegspremierminister Winston Churchill die Botschaft des freien Polen in seinen Memoiren. «Das Martyrium Warschaus» nennt Churchill den gescheiterten Aufstand: «Doch kann das nicht das Ende der Geschichte sein.» Dieser Imperativ gilt auch heute.

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