In Chinas Südprovinz Guangdong, dem wichtigsten Produktionszentrum des Landes, brodelt es. Die Fabriken entlassen reihenweise Arbeiter – und diese protestieren. Es ist der Beginn einer sozialen Krise.
Kangle ist ein Stadtteil der 15-Millionen-Stadt Guangzhou im Süden Chinas. Doch die Bewohner nennen ihr Quartier liebevoll Dorf. Das «Dorf», das ist ein wildes Geflecht aus schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Gassen.
Links und rechts bieten winzige Imbisse Nudelsuppen und mit Schweinefleisch gefüllte Teigtaschen an, dazwischen preisen Gemüsehändler ihre Waren an. An manchen Strassenecken stapelt sich der Müll, in der Luft hängt ein Gestank nach verdorbenen Lebensmitteln. Kangle macht einen heruntergekommenen Eindruck.
Doch das Dorf in der Stadt hat es weit über die Grenzen Guangzhous hinaus zu Berühmtheit gebracht. Der Grund dafür sind die zahllosen Nähereien, in denen Heerscharen von Arbeitern Kleider für die Welt fertigen. Hosen, T-Shirts, Jacken: Wer in Zürich, Berlin oder Bern bei Shein oder Temu bestellt, darf davon ausgehen, dass die Lieferung aus Kangle kommt.
Doch die Stimmung unter den Fabrikanten ist schlecht. Die Firma Guangzhou Jinmaitian, die Luo Jian betreibt, ist nicht viel mehr als ein Loch in der Wand. Auf einem wackligen Tisch in der Ecke steht ein Computer. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich vier Nähmaschinen. Luo und seine Kollegin fertigen hier Muster für die Massenproduktion. In einer Fabrik ein paar Strassen weiter nähen Dutzende Arbeiter dann die Kleidungsstücke – normalerweise.
«In diesem Jahr gehen die Geschäfte schlecht», klagt Luo, «so schlimm war es selbst während der Pandemie nicht.» Woran das liegt? Luo glaubt den Grund zu kennen. «Der Wirtschaft geht es schlecht.» Einst galt in Kangle unter Wanderarbeitern die Devise «Am Jahresanfang kommst du ohne Kleider nach Kangle, am Jahresende fährst du in einem schicken Auto nach Hause». Diese Zeiten sind fürs Erste vorbei.
Einst der Wirtschaftsmotor des Landes
Nicht nur in Kangle, sondern in der ganzen Provinz Guangdong. Dabei galt die Provinz einst als Fabrik der Welt und Wirtschaftsmotor des Landes. In Guangdong fertigen Arbeiterinnen und Arbeiter Hosen, Handys oder Hausgeräte in gewaltigen Stückzahlen. Beinahe alles, was Konsumenten im Westen nachfragen, hat seinen Ursprung in Guangdong.
Ausserdem bedienen die zahllosen Fabriken den chinesischen Heimatmarkt. Zu guten Zeiten arbeiten 50 Millionen der insgesamt 80 Millionen Menschen, die in der Provinz leben, in der Industrie.
Doch nun kriselt es.
Vor allem die schwache heimische Nachfrage sorgt dafür, dass in Guangdong immer mehr Fabriken schliessen müssen. Viele Chinesinnen und Chinesen haben an den Börsen Geld verloren, die Immobilienkrise hat die Werte von Wohnungen und Häusern zusammenschmelzen lassen. Die Folge: Die Menschen halten ihr Geld zusammen.
Das landesweite Wirtschaftswachstum lag gemäss offiziellen Statistiken während des dritten Quartals bei 4,6 Prozent. Doch an der Basis scheint sich die Wirtschaftskrise langsam durch die Produktionszentren des Landes zu fressen. Guangdong verzeichnete zwischen Juli und September nur noch ein Wachstum von 3,4 Prozent. Die Städte Guangzhou und Foshan mit ihren alten Industrien kamen jeweils nur noch auf Wachstumsraten von weniger als 2 Prozent. Einzig Shenzhen mit seinen Tech-Konzernen wie Huawei oder Tencent schneidet besser ab. Dort wuchs die Wirtschaft im ersten Halbjahr um 5,9 Prozent.
In Guangzhou, der Provinzhauptstadt, arbeitet inzwischen jeder fünfte Arbeitnehmer in einem prekären Arbeitsverhältnis, etwa als Kurierfahrer, wie die Hong Kong University of Science and Technology ermittelt hat. In Foshan, einem Zentrum der Automobilproduktion der Provinz, entlassen japanische und deutsche Hersteller wie Volkswagen in grossem Stil Mitarbeiter. Allein 2024 hat beispielsweise der Konzern aus Wolfsburg rund 1000 Mitarbeiter auf die Strasse gesetzt. In der Industriestadt Dongguan, etwa eine Autostunde südöstlich von Guangzhou, schliessen reihenweise Fabriken.
Kaum Chancen auf Jobs
Auch die Mitarbeiter der Firma Wangxin Precision in Dongguan, wo das Wirtschaftswachstum jüngst weniger als 2 Prozent betrug, bekamen die Krise zu spüren. Wangxin fertigte bis vor kurzem Komponenten für Unternehmen wie Samsung, Huawei und Xiaomi, den chinesischen Elektronikhersteller. Mitte Oktober befahl der Chef von Wangxin den fast 4000 Mitarbeitern, für vier Monate in die Zwangsferien zu gehen.
Die Belegschaft verstand die Aufforderung als das, was es tatsächlich war: eine versteckte Kündigung. Die Arbeiterinnen und Arbeiter versammelten sich daraufhin vor dem Werktor zu einem Protest. Doch der Ausstand war zwecklos, Mitte November war bei Wangxin Precision endgültig Schluss.
An einem brütend heissen Nachmittag sitzt eine Handvoll Arbeiter vor der Fabrik. Neben ihnen liegen ihre Säcke mit der wenigen Habe: ein wenig Kleidung und ein Schlafsack. «Wir sind die letzten verbliebenen Arbeiter», sagt einer der Männer, der aus Angst vor Repressalien der Behörden seinen Namen nicht nennen möchte, «sie haben uns gerade aus der Fabrik gejagt.» Die Firma sei geschlossen, erzählt der Mann, es habe schlicht an Aufträgen gefehlt.
Wie es weitergehen soll, weiss er noch nicht. Es gebe kaum Chancen auf Jobs, sagt der Arbeiter, vielen Unternehmen in Dongguan gehe es schlecht. Zu guten Zeiten verdiente er zwischen 4000 und 5000 Yuan im Monat, umgerechnet zwischen 480 und 600 Franken. Jetzt steht er vor dem Nichts. Ein Schutz der Arbeitnehmerrechte existiert in China nur in Ansätzen.
Immer mehr Arbeiterproteste
Bis vor einigen Jahren gab es in Guangdong noch Nichtregierungsorganisationen. Diese vermittelten oft bei Konflikten zwischen Belegschaften und Arbeitgebern. Doch die meisten der NGO hat die Regierung inzwischen verboten. «Jetzt haben die Arbeiter keinen Hebel mehr für Verhandlungen», sagt der Sozialwissenschafter Xu Hui aus Guangzhou, «Mediation funktioniert nicht mehr.»
Xu Hui sagt, dass die Löhne der Arbeiter derzeit ins Bodenlose fielen. Schuld daran seien nicht nur die schwierige Wirtschaftslage, sondern auch Billigwarenplattformen wie Shein oder Temu.
Immer öfter tragen Arbeiter ihre Wut auf die Strasse. Zwischen Juli und September hat die Zahl der teilweise gewaltsamen Ausstände in ganz China im Jahresvergleich um 27 Prozent zugenommen, wie der amerikanische Think-Tank Freedom House errechnet hat. In fast allen Fällen ging es bei den Auseinandersetzungen um Entlassungen oder nicht gezahlte beziehungsweise gekürzte Saläre.
Doch nirgendwo gingen unzufriedene Arbeiter so oft auf die Strasse wie in Guangdong. Zwischen Juni und November kam es in der Provinz gemäss der Hongkonger Organisation China Labor Bulletin zu 210 Protesten.
Zwar sind die Proteste meist klein und fallen nach wenigen Tagen in sich zusammen. Chinas Machthaber sind dennoch in grösster Sorge, könnten sich die Ausstände doch zu einer grösseren Bewegung ausweiten, falls sich die wirtschaftliche Lage weiter verschärfen sollte.
Im November, nach einer Welle von tödlichen Attacken auf unschuldige Chinesinnen und Chinesen, jagte in Peking eine Sitzung die andere. Die Parteioberen berieten dort, wie mit einer bröckelnden sozialen Instabilität umzugehen sei.
Die Regierung findet keine Antworten
Doch Antworten auf die Probleme findet die Regierung bis jetzt keine. Vielmehr reagieren Chinas Machthaber wie fast immer, wenn sie sich bedroht fühlen: mit mehr Unterdrückung und Bespitzelung.
«Die Regierung hat nicht eingeräumt, dass die Unruhen ihren Ursprung in der Frustration der einfachen Leute haben», schreibt der China-Experte Willy Lam von der Washingtoner Denkfabrik Jamestown Foundation. Der verbreitete Frust gehe zurück auf die sich verschlechternden Chancen am Arbeitsmarkt und das in weiten Teilen mangelhaft ausgebaute Sozialversicherungssystem. In Kangle, dem «Dorf in der Stadt», führen die meisten Firmen keine Sozialversicherungsbeiträge für ihre Mitarbeiter ab.
Immerhin scheint sich die Regierung der wirtschaftlichen Schieflage im Land nun annehmen zu wollen. Am 9. Dezember beschloss das Politbüro einen umfassenden Massnahmenkatalog, mit dem die Wirtschaft in Schwung gebracht werden soll. In der Diskussion ist wohl auch eine Ausweitung der Sozialleistungen.
«Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben»
Ein Opfer der löchrigen sozialen Absicherung ist Li, die aus der Provinz Hubei stammt. An einem Spätvormittag im November steht die Sechzigjährige in einer der Gassen im «Dorf» Kangle, sie ist auf Arbeitssuche.
Sie bekomme 1000 Yuan Pension im Jahr, sagt Li, dabei habe sie ein Leben lang in die Rentenversicherung eingezahlt. 1000 Yuan, das sind umgerechnet 120 Franken. «Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben», sagt sie. Ihr Sohn sei verheiratet und habe zwei Kinder, für die müsse er finanziell sorgen. «Ich bin auf mich allein gestellt.»
Jetzt steht sie wie Hunderte anderer Männer und Frauen auf einem der Märkte für Tagelöhner in Kangle und sucht Arbeit. Es geht bereits auf den Mittag zu, doch bisher hat ihr noch keiner der Vermittler ein Angebot gemacht.
Manchmal finde sie noch Arbeit für einen ganzen Tag, oft aber auch nur für zwei Stunden, sagt sie. Die Firmen zahlten deutlich weniger als noch vor ein paar Jahren. «Es ist so hart wie seit Jahren nicht mehr.»
Überall fehlen Aufträge
Das spüren auch die Nähereien in Kangle, von denen es nach konservativen Schätzungen etwa 10 000 gibt. Sie arbeiten für die Fast-Fashion-Firmen dieser Welt, doch meist sind es stickige Verschläge, die es nach den Vorstellungen des Staats- und Parteichefs Xi Jinping von der modernen Hochtechnologie-Nation China eigentlich nicht mehr geben sollte. Viele der Nähereien arbeiten im rechtsfreien Raum. Interessenvertretungen für die Arbeiter gibt es nicht.
Untergebracht sind die winzigen Fabriken meist im Erdgeschoss, in den oberen Etagen wohnen die Wanderarbeiter. An den Wänden stehen die Etagenbetten, manchmal wohnen dreissig Arbeiter in einem engen Zimmer. Wie Li kommen in Kangle die meisten Wanderarbeiter aus der Provinz Hubei in Zentralchina.
Die Nähereien in Kangle kämpfen um jeden Auftrag. In den Gassen sitzen überall Männer. Es sind Vertreter der örtlichen Fabriken. Vor sich haben sie Schilder aufgebaut, auf denen sie die Dienste ihrer Betriebe anbieten.
«Wir suchen Kunden», steht auf einem Plakat. Auf einem anderen: «Wir nähen Jacken im Chanel-Stil und Hosen». Und: «Wir können auch Strickwaren produzieren».
Aus lauter Verzweiflung lassen sich immer mehr Nähereien auf ein umstrittenes Geschäftsmodell ein. Unter der Devise «kleine Aufträge, schnelle Reaktion» ordern Plattformen wie Shein und Temu bei den Nähereien in Kangle T-Shirts oder Hosen zunächst in kleinen Stückzahlen. Bisweilen bestellen die Firmen nur fünf oder sechs Exemplare.
Die Unternehmen bieten die Kleidungsstücke dann auf ihren Plattformen an. Stossen die Angebote bei den Kunden auf Interesse, müssen die Nähereien innerhalb kürzester Zeit – manchmal innerhalb von Stunden – grosse Stückzahlen liefern.
Für die Hersteller in Kangle lohnt sich die Fertigung kaum. Um überhaupt noch etwas Geld zu verdienen, geben sie den extremen Preisdruck an ihre Arbeiter weiter. Diese schuften dann für Hungerlöhne und sagen sich wohl: besser einen schlecht bezahlten Job als gar keinen.