Donnerstag, September 18

In Korea fehlte aufgrund der traditionellen Architektur das Bedürfnis nach Glas, und so waren auch die Bedingungen für dessen Herstellung nicht gegeben.

Korea war lange eine Kultur ohne Glas und daher auch ohne Spiegel. Erst spät gelangt dieser ins Land und verändert den Blick der Menschen auf sich. So, wie er es zuvor auf der ganzen Welt getan hat.

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Wer weiss, welches Selbstbild wir von uns hätten, wäre der Spiegel nicht erfunden worden. Er gehört zu den einfachsten und in seiner Wirkung zugleich zu den komplexesten Dingen, welche die menschliche Zivilisation hervorgebracht hat. Erst im Spiegel können wir selber unser Antlitz erblicken und uns in die eigenen Augen schauen, in jenes geheimnisvolle Organ, das die Welt draussen in Bilder umwandelt und uns zugänglich macht.

Am Spiegel lässt sich die Wechselwirkung zwischen den materiellen Dingen und der Formierung dessen aufzeigen, was man Selbst oder Identität nennt. Das beschichtete Glas ist zu einem unentbehrlichen Requisit unseres Lebens geworden.

Eine neue Wahrnehmung

Verwunderlich ist es kaum, dass der Spiegel von Anfang an die Menschen in seinen Bann zog, denn er erzählt mit, wer wir sind. Bis dahin hatte man nur eine vage Vorstellung vom eigenen eigentümlichen Aussehen. Was Narziss im Wasser erblickt, kann nur etwas Schemenhaftes gewesen sein, ein Gesicht in Umrissen. Erst in einem grossen Spiegel sehen wir uns in unserer körperlichen Ganzheit. Wir vergewissern uns, indem wir ständig in ihn hineinschauen. Wirkmächtig war und ist er gewiss.

Der Spiegel hat unser Selbstbild geprägt, das Reden über uns verändert, für die Normierung und Ästhetisierung des Körpers gesorgt und Mode und Kosmetik auf eine neue Ebene gehoben. Der Spiegel ist auch mit symbolischer Bedeutung befrachtet. In der europäischen Ikonografie steht er für Verführung, Eitelkeit und Hybris (siehe «Schneewittchen»), aber auch für die Vergänglichkeit des Lebens und der Schönheit.

Der Spiegel hat als Produkt eine lange Geschichte. Von der einfachen Glasherstellung bis zur Produktion des Spiegels, wie man ihn heute kennt, vergehen viele Jahrhunderte. Die Venezianer schafften es, einen Kugelspiegel aus Kristall herzustellen, und beherrschten damit nach 1600 ein ganzes Jahrhundert den Markt, was ihnen viel Reichtum einbrachte.

1675 gelang es, mithilfe von Quecksilber und Zinn einen ebenen Spiegel zu produzieren. Es war jedoch eine hochgiftige Angelegenheit. Es dürfte mehr als ein Zufall sein, dass um diese Zeit die Porträtmalerei aufkam und immer beliebter wurde. 1835 gelang es Justus Freiherrn von Liebig schliesslich, einen Silberspiegel herzustellen. Er ermöglichte damit die Massenproduktion. Der Spiegel blieb in Europa jedoch lange ein Luxusgut, das dem Adel und der Oberschicht vorbehalten war. Die immensen Kosten des Spiegelsaals in Versailles zeugen davon. Im 19. Jahrhundert setzte sich der Spiegel immer mehr durch und wurde mit der Moderne endgültig zu einem Alltagsgegenstand.

Für Glas kein Bedarf

Spiegel konnten in Korea lange nicht angefertigt werden, weil keine Glasherstellung existierte. Es gab für Glas keinen Bedarf. Der Grund dafür liegt in der traditionellen Architektur sowie in der Art und Weise, wie die Menschen lebten. Ganz unbekannt indes war Glas nicht. Archäologen fanden in den alten Königsgräbern Glasgefässe oder Gläser, die aus dem Nahen Osten stammten.

Heute heisst Glas auf Koreanisch «Yuri», aber davor nannte man es «Pari», was Persien bedeutete. In Korea begann man mit der Herstellung von Glas Anfang des 20. Jahrhunderts. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der westliche Kultureinfluss gewachsen. Es kamen Westler ins Land, sie brachten ihre Lebensweise mit, und auf einmal war der Bedarf da. 1883 wurde extra Joseph Rosenbaum, ein deutschstämmiger Amerikaner, ins Land geholt, damit er eine Glasfabrik eröffnet. Am Han-Fluss, wo genug Sand vorhanden war, sollte er sie errichten. Rosenbaum jedoch, seinem Geschäftsinstinkt folgend, entschied sich lieber für Streichhölzer. Schnell hatte er erkannt, dass in Korea mit Glas so schnell kein Geld zu machen war.

Die traditionelle koreanische Bauweise kam ganz ohne Glas aus. In Korea waren bis Ende des 19. Jahrhunderts alle Häuser ebenerdig. Angesichts der endlosen Hochhaussiedlungen von heute wundert man sich fast darüber. Das höchste Gebäude war über Jahrhunderte der Thronsaal in Seoul, der als Symbol der Macht die weitläufige Palastanlage überragte und von überall her sichtbar war. Aber selbst dieser war ebenerdig, lag nur auf einem erhöhten Grund mit einer nach oben gestreckten Dachkonstruktion.

Erklärt wird das Fehlen von mehrstöckigen Bauten mit dem System der Bodenheizung, das mit Holz von aussen befeuert wurde und sich daher nur für flache Bauten eignete. Die Folge war, dass die koreanische Architektur keine Fenster kannte. Wichtig waren dafür die Türen, die vielfältig gestaltet wurden und an denen man Status und Wohlstand ablesen konnte. Sie bestanden aus einem Holzrahmen mit zahlreichen Holzsprossen dazwischen, die ein bestimmtes Muster abgeben.

Die Tür wurde mit handgeschöpftem weissem Papier bespannt. Dieses liess etwas Licht durch und sorgte so tagsüber für die Helligkeit in den Räumen. Die Türen mussten immer wieder neu bespannt werden, denn das Papier war leicht zu beschädigen. Für Glas gab es auch im Alltag keinen Bedarf. Man trank traditionell aus Keramikschalen oder Bechern aus Holz. Sein Geschäftssinn trog Rosenbaum keineswegs.

Pockennarben im Gesicht

Die meisten Koreaner lebten bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ohne Spiegel, was heisst, dass sie das eigene Aussehen nicht genau kannten. Ganz unbekannt war der Spiegel zwar nicht, ab 1860 gelangte er in kleiner Anzahl zunächst über China und dann Japan ins Land. Auch Europäer und Amerikaner brachten ihn mit. Aber bei der breiten Bevölkerung blieb er unbekannt.

Das Interesse am eigenen Aussehen war im vormodernen Korea kaum ausgeprägt, man erfuhr etwas darüber aus den Kommentaren und Reaktionen der anderen. Viele hatten damals Pockennarben im Gesicht, ohne zu wissen, wie das an einem selber wirkte. 1902 eröffnete ein Russe in Seoul die erste Glasfabrik, und damit beginnt die Herstellung des Spiegels auf der koreanischen Halbinsel. Glas wurde bald benötigt, weil man Häuser in westlichem Stil zu bauen begann und Missionare Kirchen errichten liessen. Glasfenster hielten Einzug, auch mit einem neuen Wort. Mit dem Spiegel nahm das Interesse am eigenen Aussehen schlagartig zu. Er stand am Anfang einer ganz neuen Konsumkultur.

Anfangs waren die Spiegel klein, und man sah darin fast nur das eigene Gesicht. In Form von Schminkkästchen, Wand- oder Handspiegeln waren sie heiss begehrt. Der erste Ganzkörperspiegel konnte 1920 angefertigt werden und erhielt im Königspalast einen Ehrenplatz.

Als Könige dürfen sich heute alle fühlen, die in den riesigen modernen Appartementhäusern wohnen, deren Bau in den siebziger Jahren begann und im Folgenden das Erscheinungsbild der koreanischen Städte radikal veränderte. Denn wandhohe Spiegel am Eingang jeder «Appat» genannten Hochhauswohnung gehören mittlerweile zum Standard. Nicht nur das eigene Aussehen, sondern auch die Körpergrösse wird zu einem Thema.

Der Spiegel durchdringt mittlerweile die ganze Lebenswelt der Koreaner. Grösse wird zu einem Thema. Industriezweige wie Fitnessstudios, Beautysalons und Schönheitschirurgie sind ohne ihn nicht zu denken. Mittlerweile gilt es, den Körper zu «gestalten». Der eigene und der fremde Blick sind omnipräsent und mit ihnen der gesellschaftliche Druck, gut auszusehen. Und doch bietet der Spiegel nur ein glattes und flüchtiges Bild. Was verlorengeht, ist die Imagination. Wie warm und verletzlich unser Körper ist, spürt man erst richtig in der Dunkelheit.

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