Montag, Oktober 7

Karin Hofer / NZZ

Über dem Boden ist das Land fast fertig gebaut. Stattdessen soll nun der Untergrund erschlossen werden. Der Bund verfügt über ein Strategiepapier, der Ständerat äusserte sich eben erst in der Sommersession zum Thema. Für die Schweizer ist dies nichts Neues. Sie haben schon immer Löcher gegraben, wenn es keinen anderen Weg gab. Eine Exkursion zu vier bemerkenswerten Bauwerken.

Es gibt die Himmelsstürmer, und es gibt die Maulwürfe. Die einen wollen auf den Mond und noch lieber auf den Mars. Die anderen gehen unter den Boden. Es ist keine Frage, zu wem die Schweizer gehören. Nur einem wie Friedrich Dürrenmatt, der aus einer Gegend kommt, wo die Leute sprechen, als seien sie gerade aus dem Untergrund aufgestiegen und hätten den Mund noch voll Erde, nur einer wie er, der selber redete, als hätte er die Kartoffel noch nicht hinuntergeschluckt, konnte eine Geschichte schreiben wie «Der Tunnel». Das Loch hörte nicht mehr auf und verschlang wie ein Moloch alles, was sich in ihn ergoss.

«Die Zukunft der Schweiz liegt wesentlich im Untergrund.» Was wie ein etwas maliziöses Bonmot klingt, steht in einem 2022 verabschiedeten Strategiepapier der Eidgenössischen Geologischen Fachkommission. Aber so sind nun einmal die Schweizer. Wenige Länder der Welt haben ihre Existenz so sehr auf der paradoxen Grundlage von Löchern erschaffen wie die Schweiz. Ohne die Löcher gäbe es die Schweiz längst nicht mehr. Dass es sie vor lauter Löchern bald nicht mehr geben wird, ist wiederum eine üble Nachrede von Spöttern.

Den Schweizern kam dabei zugute, dass sie das Schwarzpulver immer seltener zum Schiessen und für Kriege brauchten, dafür umso mehr zum Sprengen. Bereits 1707/1708 bauten sie einen ersten Tunnel, es war gleichsam die erste Alpentransversale: freilich nur 64 Meter lang, unbeleuchtet und gerade hoch genug, dass ein Maultier ohne Reiter hindurchkam. Der kurze Tunnel erleichterte die Passage des letzten Teilstücks in der Schöllenenschlucht, bevor sich der tosende Abgrund in die Weite des Urserentals öffnete.

In elf Monaten sprengten sich die Arbeiter durch den Felsen. Was sie erbaut hatten, nannte man hinfort nicht Tunnel, sondern genau so, wie es aussah: Urnerloch hiess der Schlund, mit dem auch der griesgrämige Goethe auf seiner ersten Schweizer Reise 1775 seine Bekanntschaft machte. Er kam die Schöllenenschlucht herauf, ging über die Teufelsbrücke, und immer bedrohlicher wurden die reissend zu Tal stürzenden Wasser und die senkrecht aufschiessenden Felsen: «Wir mühten uns weiter, das ungeheure Wilde schien sich immer zu steigern, Platten wurden zu Gebirgen, und Vertiefungen zu Abgründen. So geleitete mich mein Führer bis ans Urner Loch, durch welches ich gewissermassen verdriesslich hindurch ging; was man bisher gesehen, war doch erhaben, diese Finsternis hob alles auf.»

Die Löcher wurden zum Markenzeichen der Schweiz. Und weil das Land so klein ist, versucht man bis heute das Territorium auszudehnen auf den Raum unter dem Boden. Dass «die Zukunft der Schweiz wesentlich im Untergrund» liegt, traf im Grunde auf jede Epoche zu, seit man einmal damit begonnen hatte, sich in dieses Land einzugraben. Und es galt emblematisch im Zweiten Weltkrieg, als sich die Nation in den Alpen einbunkerte und notfalls das Mittelland preisgegeben hätte.

Es kam zum Glück nicht zum Schlimmsten, aber man hatte eine Antwort auf alle Lebenslagen und besonders die gefährlichen gefunden. Wenn es ein Problem gibt, gräbt sich der Schweizer ein. Und wartet. Der Trick erwies sich auch bei praktischen Dingen wie beispielsweise der Raumplanung als durchaus nützlich. Wo der Raum knapp wurde, konnte man immer noch graben. Daran musste man sich erst gewöhnen.

Für jemanden, der aus Luzern kam und in den späten sechziger Jahren erstmals im Zug nach Bern reiste, hätte der Schock nicht grösser sein können. Man war aus einem stolzen Bahnhof weggefahren, der, halb Trutzburg, halb Kathedrale des Industriezeitalters, mitten in der Stadt lag und nur einen Steinwurf vom See entfernt war, so dass man fast nahtlos vom Raddampfer auf den Roten Pfeil oder den Trans-Europa-Express umsteigen konnte. Und nun Bern. Man kam in einer Höhle an.

Keine stolze Bahnhofshalle, kein wuchtiges Gebäude aus der Gründerzeit mit einem Tor zur Stadt. Stattdessen Beton, eine geduckte Halle, Abgänge hinunter ins Gedärm einer Höllenmaschine, dann wieder Rolltreppen, die einen förmlich in Berns Gassen erbrachen, als würde man die Hauptstadt durch den Lieferanteneingang betreten. Man war fassungslos. So trostlos, so banal und so verstohlen wie ein Dieb war man noch nie in einer fremden Stadt angekommen.

Lange dauerte es, bis man begriff, dass die Berner etwas verstanden hatten. Die Zukunft liegt in einem sorgsamen Umgang mit der Ressource Raum. In der Innenstadt ist das Raumangebot besonders knapp. Dann aber ist da immer noch der Untergrund. Nur eines machten die Berner falsch. Statt die Bahn in den Boden zu vergraben, versenkten sie die Reisenden in den Untergrund.

Das entsprach dem Geist der hochbeschleunigten sechziger Jahre: Was im Weg stand, weil es zu langsam war, musste weg. Am langsamsten waren die Fussgänger. Also weg mit ihnen. In Zürich hatte man sich dazu auch Gedanken gemacht. Und man kam wieder einmal auf jene gloriose Idee, die dem Schweizer immer am nächstliegenden erscheint: Man wollte ein Loch graben. Vom See abwärts bis zum Hauptbahnhof. Unter der Bahnhofstrasse. Nicht für die Autos, nicht für das Tram, aber für die Fussgänger.

Sie sollten auf einem Förderband bequem und rasch die Bahnhofstrasse rauf und runter gespült werden. An den Wänden sollten Schaufenster der Warenhäuser und Boutiquen die Fussgänger sowohl unterhalten wie auch an dem oberirdischen Dasein teilhaben lassen. Regelmässige Ausstiegsstellen hätten es ihnen ermöglicht, an die Oberfläche zu gelangen. Im Übrigen aber müssten sie unten bleiben und nicht jene behindern, die das Karussell des beschleunigten Lebens antrieben.

Der Gedanke war richtig: Verkehrsströme unterschiedlicher Geschwindigkeiten könnten entflochten werden. Es dauerte dann eine Weile, bis man merkte, wer hinauf- und wer hinuntergehört. Tendenziell kann man heute sagen: Alles, was Lärm macht, stinkt und schnell ist, geht nach unten. Alles Langsame und Beschauliche kann oben bleiben.

Freilich könnte die Klimaerwärmung auch hier einen Wandel herbeiführen. Fünfzig Meter unterhalb der Erdoberfläche herrscht das ganze Jahr eine Temperatur von 10 Grad. Wenn es dem Menschen einmal oben zu heiss wird, vor allem anhaltend zu heiss, dann könnte der Ausweg dereinst darin bestehen, dass man nicht mehr Räume kühlt, sondern sie dort baut, wo es ohnehin schon kühl ist. Der Mensch zöge, wenn es mit der Welt dereinst zu Ende geht, dahin zurück, wo er hergekommen war: in die Höhle.

Die Schweizer hätten dann so etwas wie einen Heimvorteil, auch wenn ihre Löcher weniger zum Leben dienten als vielmehr dazu, darin im Fall der Fälle zu überleben. Unterirdisch zu leben, ist für sie darum kein so vollkommen fremdes Konzept. Und vermutlich standen ihnen die Götter und Gnomen der Unterwelt ohnehin immer etwas näher als die Geschöpfe des Himmels.

Gott hat die Welt in sieben Tagen geschaffen, wobei er am letzten bekanntlich geruht hat. Seither wird die Welt umgebaut, weil der Mensch, das unvollkommene Geschöpf, auch die Schöpfung für unvollkommen hält. Er baut in die Höhe und ebenso in die Tiefe. Letzteres immer mehr. Auch in diesen Tagen – oder vielleicht: in unseren Tagen erst recht.

Wir haben nach den Erbauern und den Bewohnern der Höhlen unserer Gegenwart gesucht. Wir haben sie gefunden, wo man sie nicht erwartet hätte. Wir entdeckten eine Kathedrale des Wassers, wo die Zeit stillzustehen scheint. Wir stiegen in einen inversen Turm zu Babel hinunter und liessen uns durch ein Labyrinth führen, wo die unterirdische Zukunft erprobt wird. Und wir sahen einen vierzig Jahre alten und bisher grösstenteils ungenutzten Tunnel, der endlich zu seiner wahren Bestimmung findet.

Im Laboratorium der Tunnelbauer

Nichts deutet zunächst darauf hin, dass hier, tief drin im Berg, an unserer Zukunft gearbeitet wird. Man betritt den Versuchsstollen Hagerbach bei Flums durch ein grosses Tor, dahinter öffnet sich eine mit Spritzbeton ausgekleidete Felsenkaverne. An den Wänden hängen Kabel, in der Mitte des Bodens verlaufen die Schienen einer Stollenbahn. Das sieht alles nach alter, nach sehr alter Schule aus. Man fühlt sich zurückversetzt in das vordigitale Zeitalter, als noch mechanische Kraft und Handwerk etwas galten.

Ins Grübeln gerät man nach einigen Dutzend Metern, denn da öffnet sich hinter einem Querstollen ein mächtiges Felsengewölbe. Noch immer dominiert der Spritzbeton mit Kabelsträngen, doch von der Decke leuchtet moderne Lichttechnik, und auf dem Boden wurde gediegenes Parkett verlegt: Man steht in einem festlichen Bankettsaal. Gerade werden Schmuck und Gedecke vorbereitet für eine Hochzeit, die am nächsten Tag gefeiert werden soll.

Wird also doch für die Zukunft geübt? Kaum hat man den Versuchsstollen betreten, glaubt man die Botschaft schon verstanden zu haben: Es gibt nichts unter dem Himmel, was nicht auch unter die Erde kann. Das wird klar, noch ehe die beiden Bauherren und Hüter dieser Unterwelt, Felix Amberg und Michael Kompatscher, zu erklären beginnen, was sie hier tun, mit einer Leidenschaft übrigens, dass man glauben könnte, sie möchten am liebsten gleich eine unterirdische Wohnung beziehen.

Ums Wohnen geht es freilich zuletzt, und schon gar nicht hatte man daran gedacht, als vor über fünfzig Jahren der Versuchsstollen mit sehr bescheidenen Dimensionen in Betrieb genommen worden war. Er diente damals als Laboratorium für den Tunnelbau. Kaum ein Tunnel wurde seither in der Schweiz gebaut, ohne dass in dieser Anlage neue Baustoffe und -verfahren entwickelt worden wären: Im Furkatunnel wurde ein neues Ankersystem aus Kunststoff und Glasfaser statt Stahl verbaut. Für den Vereinatunnel wurden ein neuer Spritzbeton und ein Applikationsverfahren erfunden. Und als der Gotthard-Basistunnel gebaut wurde, stellte sich die Frage, wie Spritzbeton bei 50 Grad aufgetragen werden konnte.

Was die Ingenieure am Zeichentisch entworfen und berechnet hatten, wurde im Versuchsstollen unter realistischen Bedingungen getestet. Doch nicht allein der Bau eines Tunnels wird simuliert, man will auch wissen, was bei dessen Zerstörung geschieht. Als es 2001 zu einem verheerenden Brand im Gotthard-Autobahntunnel kam, hatte sich niemand eine genaue Vorstellung machen können von der immensen Hitze, der Rauchentwicklung und der Zerstörungskraft des Feuers.

Seit im Versuchsstollen ein Tunnelabschnitt nachgebaut worden ist, konnte das Feuer unter wirklichkeitsnahen Bedingungen simuliert werden. Man gewann damit nicht nur ein genaueres Wissen über das Innenleben eines Tunnelbrands, es wurde auch Feuerwehr und Rettungskräften ermöglicht, ihre Einsätze zu üben.

In den fünfzig Jahren seines Bestehens ist der Versuchsstollen zu einem über fünf Kilometer langen Labyrinth von Verbindungsgängen und Kavernen mit einer Gesamtfläche von rund 20 000 Quadratmetern angewachsen. Das Laboratorium ist auch ein Geschichtsbuch: Jede Kaverne erzählt von einer Zukunft, die erst einmal erfunden und getestet werden musste und inzwischen Vergangenheit geworden ist.

An welcher Zukunft wird heute gearbeitet? Die beiden Herren der Unterwelt führen den Besucher in eine Versuchsanlage, wo Gemüse angepflanzt wird. Die Aussichten klingen verlockend: Die konstante Temperatur von 15 Grad erlaubt eine ganzjährige industrielle Bewirtschaftung mit geringerem Energieaufwand als im Gewächshaus.

Die Praxis hat jedoch ihre Tücken. Mit Nüsslisalat habe es nicht funktioniert, sagt Felix Amberg, auch eine Kreislaufwirtschaft von Fischzucht und Pflanzenbau habe sich als extrem schwierig herausgestellt. Nun arbeite man mit Kopfsalat und versorge bereits die hauseigene Kantine, erzählt Michael Kompatscher. Im Labor schafft man die Voraussetzung, um die Produktion in den industriellen Massstab zu übersetzen.

Der Gedanke leuchtet ein, auch wenn er gewöhnungsbedürftig ist: Weil die oberirdischen Raumressourcen beschränkt sind, soll unter die Erde, was nicht unbedingt oben bleiben muss. Heiraten? Das geht überall. Pflanzenzucht? Man hört es nicht gern, aber es geht. Anderes ist naheliegend. Infrastrukturbauten können problemlos in den Untergrund. Im Versuchsstollen erprobt man derzeit eine Pilotanlage für ein dezentrales Rechenzentrum.

Doch Felix Amberg und Michael Kompatscher sind alles andere als klassische Maulwürfe. Sie sind, wenn man so will, himmelstürmende Maulwürfe. Sie haben eine Vorliebe für den Untergrund, weil ihnen am knappen oberirdischen Boden etwas liegt. Im Übrigen wollen sie auch auf den Mars oder den Mond. Sie forschen daran, wie man dort bauen könnte: unterirdisch, versteht sich.

Ein ganzer Autobahntunnel nur für Radfahrer

Das ist die Geschichte des seltsamsten Autobahnteilstücks und des kürzesten Autobahntunnels, der je gebaut, aber nie von einem Auto befahren worden ist. Es war während Jahrzehnten das verborgenste Bauwerk in der Stadt Zürich, von dessen Existenz lange nur Insider wussten. Und es wäre vielleicht weitere Jahrzehnte ungenutzt im Boden verblieben, wenn sich nicht die Radfahrer – ausgerechnet! – dafür zu interessieren begonnen hätten.

Die Geschichte begann um 1950, als ein Projekt ausgearbeitet wurde, das später unter dem Begriff «Expressstrassen-Y» berühmt und vor allem berüchtigt wurde. Die Idee war nicht dumm: Von Norden, Süden und Westen wurden Autobahnen an den Stadtrand herangebaut. Man plante darum ein Verbindungsstück in der Form eines Y, das die drei losen Enden miteinander verbinden sollte. Der von Süden her kommende Arm führte als Hochstrasse im Bett der Sihl bis weit in die Innenstadt und sollte danach den Hauptbahnhof auf einer Brücke überqueren und ins «Y» münden.

Dagegen lief, begreiflicherweise, die Bevölkerung Sturm. Es wurde erbittert und lange gestritten und schliesslich entschieden: unter den Boden mit der Autobahn. Ab dem bis heute mitten in der Sihl stehenden Autobahnende sollte die Brücke ins Flussbett eintauchen und den Hauptbahnhof im Tunnel unterqueren.

Die Sache jedoch zog sich in die Länge, das Projekt war zwar beschlossen, aber ungewiss blieb, ob es tatsächlich gebaut würde. Dann entstand Ende der achtziger Jahre der unterirdische Bahnhof Museumsstrasse und ab den neunziger Jahren auf der Südseite, ebenfalls unterirdisch, der Bahnhof Löwenstrasse. Und weil der geplante Autobahn-Stadttunnel quer zu diesen Bauwerken, aber im Sandwich zwischen oberirdischem Hauptbahnhof und den unterirdischen Seitenflügeln verlaufen würde, musste der Stadttunnel vorsorglich schon einmal im Rohbau erstellt werden. Und da ruht er seither als unvollendetes Loch im stillen Grab.

Die Geschichte hat eine ironische Pointe: Der einzig sinnvolle, weil unterirdisch geführte Teil des «Y» wurde zwar gebaut, aber nie in Betrieb genommen. Dafür wird im nächsten Jahr dieses verwaiste Autobahnteilstück von den Radfahrern adoptiert. Es wird dann die kürzeste und gefahrloseste Fahrradverbindung sein zwischen Sihlquai und alter Sihlpost.

Auch wenn das Bauwerk im Kern bereits bestand, gibt es noch einiges zu bauen. Seine Vollendung bedeutet hier Verwandlung und Anbindung an die Stadt. Und Nicolas Marz, dem obersten Chef der Baustelle, scheint es nicht am Berufsstolz zu kratzen, wenn er hier nichts Neues bauen kann, sondern an der Metamorphose einer Altlast mitwirkt, damit aus einem unbrauchbaren Loch ein sinnvolles entsteht.

Die Aufgaben sind allerdings anspruchsvoll: Es ist eine Operation am offenen Herzen der Stadt, unten und oben fahren Züge. An den Zugängen zum Tunnel muss die Durchfahrt für Tram und Individualverkehr gewährleistet bleiben. Schliesslich gilt es, eine Verbindung zwischen der ebenfalls in den Tunnel integrierten Velostation und der parallel verlaufenden Bahnhofspassage zu bauen.

Im nächsten Frühjahr wird der Stadttunnel seine späte Auferstehung feiern. Er wird einen kleinen Schönheitsfehler haben: Es muss ausgerechnet jenes Verkehrsmittel unter die Erde, das am leisesten ist und am wenigsten stinkt: das Fahrrad. Allerdings werden die Radfahrer mit dem vermutlich weltweit grosszügigsten Velotunnel entschädigt. Ausserdem teilen sie ihr Schicksal mit der Sihl: Auch der Fluss muss am Hauptbahnhof untendurch. Sie liegen Seite an Seite, nur etwas Beton trennt die beiden.

Das kopfüber gebaute Hochhaus

Schütte nie ein Loch zu, bevor du nicht weisst, ob es noch zu anderen Zwecken als den ursprünglich geplanten dienen könnte. Das steht zwar in keinem Handbuch, aber die Maxime gilt hierzulande umso mehr, je grösser und tiefer ein solches Loch ist. Als man in den 1980er Jahren in Zürich den Bahnhof Stadelhofen zu einem Knotenpunkt der S-Bahn ausbaute, grub man für den neuen Tunnel nach Stettbach in der Nähe des Kreuzplatzes einen senkrechten Zugangsstollen.

Das stumpfe Oval hatte beträchtliche Dimensionen – 25 Meter in der Breite und 30 Meter in der Länge – und diente zur Erschliessung der Baustelle. An dieser Stelle wurde auch die Tunnelbohrmaschine in die Tiefe hinuntergelassen, damit sie sich durch den Untergrund fressen konnte.

Nach Abschluss der Bauarbeiten wollte niemand den Schacht zuschaufeln. Vielmehr weckte er Begehrlichkeiten ganz unterschiedlicher Art. Die Bahn wollte den Zugang für eine Evakuierung im Brandfall nutzen; der Kulturgüterschutz meldete Platzbedarf für den Katastrophenfall an, und das Stadtarchiv hätte gerne Akten eingelagert. Schliesslich entdeckte auch der Zivilschutz das Potenzial des Schachts für Schutzräume im Kriegs- und Katastrophenfall.

Kurz, das Loch war begehrt, und die Gründe, es nicht zu nutzen, hatten weniger Gewicht als jene, es höheren Aufgaben zuzuführen. So kommt es, dass an dieser Stelle, wo der Turm der Antoniuskirche alle übrigen Gebäude überragt, ein achtstöckiges Hochhaus in den Boden versenkt wurde.

Hätte es die Schweizer in Babylon schon gegeben, sie hätten auch den Turm zu Babel unterirdisch gebaut. Als sich ihnen die Gelegenheit in den 1980er Jahren bot, zögerten sie nicht. Im Understatement sind die Schweizer Weltmeister. Der Antoniusschacht – wie das Bauwerk liebevoll genannt wird – hat an der Oberfläche kaum einen sichtbaren Fussabdruck hinterlassen. Und die unscheinbare Metalltür gibt nicht zu erkennen, dass sich dahinter ein Schlund öffnet, der Stockwerk um Stockwerk mehr als dreissig Meter in die Tiefe führt.

Die Antoniuskirche und der nach ihr benannte Schacht haben eine Besonderheit gemeinsam. Sie sind, obwohl sie zu den grössten Bauten der näheren Umgebung gehören, unbewohnt und meistens leer. Im Schacht treffen wir bei unserem Besuch einen einsamen Stadtarchivar an, der Akten sortiert. Ebenfalls im ersten Untergeschoss sind Probelokale an Musiker vermietet.

Gespenstisch muten die leeren Schutzräume mit Pritschen im zweiten bis sechsten Untergeschoss an, wo insgesamt tausend Personen im Kriegsfall Unterschlupf finden sollten. Man möchte der Versuchung widerstehen, sich die Szenerie im Ernstfall vorzustellen.

«Ein runder Schutzraum», sagt Pablo Buonocore von Schutz und Rettung Zürich, «das ist einmalig.» Schutzsuchenden allerdings wird es dannzumal einerlei sein, ob der Grundriss viereckig, kreisrund oder gar sternförmig sei – sofern sie nach Abwendung der Gefahr nur heil wieder daraus hervorkommen.

Auch die Zugpassagiere, die in einem Brand- oder anderen Notfall aus dem Zürichberg-Tunnel durch den Antoniusschacht evakuiert werden müssten, hätten nur diesen einen Wunsch: heil herauszukommen. Im achten Untergeschoss stösst man auf eine schwere, elektronisch gesicherte Stahltüre. Dahinter hört man alle paar Minuten einen Zug Richtung Stettbach oder Stadelhofen vorbeidonnern.

Im Brandfall würde sich mit der Türe der Fluchtweg in die Sicherheit öffnen. Für Gehbehinderte steht ein Aufzug bereit, alle anderen müssten sich acht Etagen über eine verhältnismässig enge und steile Treppe hinaufquälen. Oben angekommen, würde sich immerhin beim Blick auf die Kirche Gelegenheit für ein Stoss- und Dankesgebet bieten.

Doch keiner würde in diesem Augenblick zur Kenntnis nehmen, dass die Decke dieser Anlage die dreifache Stärke gegenüber vergleichbaren Schutzbauten aufweist. Der Grund dafür liegt ausgerechnet im Kirchturm. Sollte er nämlich einstürzen, läge die Schutzanlage in seinem Trümmerfeld. Man möchte dem Kirchturm und allfälligen Schutzsuchenden wünschen, dass die Deckenstärke dereinst nicht auf die Probe gestellt wird.

Auf dem Weg durch das Labyrinth der Schutzanlage hat man immerhin vor einer Apparatur ein Wort entdeckt, auf das man in Zukunft nicht mehr verzichten möchte. Es klingt in unseren Zeiten wie ein Stossseufzer, und dankbar muss man jenem Beamten sein, der es erfunden hat: Friedenslüftung.

Die blaue Kathedrale des Wassers

Mitten im Wald und hoch über Altstetten bringt Hans Gonella seinen Dienstwagen zum Stehen. Von seinem Handy aus ruft er die Zentrale der Zürcher Wasserversorgung an und meldet, dass er nun mit einem Gast das Wasserreservoir betreten werde. Es sei eine vorgeschriebene Vorsichtsmassnahme, erklärt er. Wer hineingehe und nicht wieder herauskomme, könnte unter Umständen längere Zeit nicht gefunden werden. Darum müsse man sich sowohl beim Eintreten wie auch beim Verlassen des Reservoirs an- und abmelden.

Das Understatement wird selbstverständlich auch hier gepflegt. Aber Hans Gonella weiss, dass er etwas Besonderes vorführt. Regelmässig zeigt er die Anlage Besuchern, die dann grosse Augen machen. Draussen deutet freilich nichts auf etwas Spektakuläres hin. Etwas viel Beton, eine kleine Türe und ein sehr grosses Tor, davor ein etwas zu gross geratener Vorplatz.

Das Wasserreservoir Lyren an Zürichs östlichem Stadtrand ist das grösste Reservoir der Stadt und in der Schweiz. Die vier riesigen unterirdischen Becken fassen zusammen 60 000 Kubikmeter Wasser. Nachts werden die Becken mit dem über das Pumpwerk in Wollishofen zugeführten Seewasser aufgefüllt, tagsüber leert sich das Reservoir allmählich. 140 000 Kubikmeter beträgt der tägliche Wasserverbrauch allein in der Stadt Zürich. Das Seewasser wird in 30 Metern Tiefe gefasst und hat dort eine konstante Temperatur von 7 Grad.

Schliesslich bringt Hans Gonella den Besucher mit weiteren Zahlen zum Erbleichen: Rund hundert Millionen Mikroben finden sich in einem Liter Kaltwasser. Rasch versucht man auszurechnen, wie viele Mikroben sich also im Reservoir mit seinen insgesamt 60 Millionen Litern Wasser befinden. Ehe einem schwindlig werden könnte, beruhigt Gonella. Die Mikroorganismen haben eine wasserreinigende Funktion. Sie besetzen die ökologischen Nischen im Trinkwasser und verhindern so die Ausbreitung von unerwünschten Krankheitserregern.

Dann öffnet der Hüter des Wassers die Tür ins Reservoir. Man tritt ein ins Heiligtum der Wasserversorgung. Wenn die Stille eine Farbe hat, dann ist sie blau, blau wie das Wasser im halbvollen Reservoir. Es ist eine riesige Säulenhalle, eine Art Wasserkathedrale, eine moderne Version der Mezquita von Córdoba. Das Wasser ist zum Leuchtkörper geworden und strahlt ein fluoreszierendes Blau aus. Die Oberfläche ist fast unbewegt, nur selten fällt ein Tropfen Kondenswasser von der Decke und zeichnet konzentrische Kreise. Gleich kehrt wieder heilige Stille zurück. Die Zeit steht still. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen in eins.

Dann holt Hans Gonella den Besucher wieder in den Alltag zurück. Als hätte man noch nicht genug für einen ganzen Tag gesehen, führt er hinunter zum tiefsten Punkt von Zürich. 125 Meter geht es mit einem Lift in die Tiefe. Unten öffnet sich eine Kaverne. Man befindet sich im Gedärm der Stadt. Riesige Wasserrohre treffen aufeinander. Die Fliessgeschwindigkeit darin ist moderat, denn die Strömung soll die Mikrobenablagerung nicht zerstören. Von hier wird das Wasser ins Reservoir hinaufgepumpt.

In dieser Tiefe ahnt man, was die Stadt im Innersten zusammenhält. Es ist ein Netz von Wasserröhren, von ganz grossen und grossen bis kleinen und ganz kleinen: 1600 Kilometer sind es insgesamt. Nichts davon bekommen wir zu Gesicht, es sei denn, die Strassen werden aufgerissen und die Rohre erneuert. 30 Kilometer werden jährlich ersetzt. Dann stöhnt und beschwert sich der Städter. Ahnungslos, wie er ist, was die Unterwelt betrifft.

Dichtestress unter dem Boden

Liegt die Zukunft der Schweiz im Untergrund? Vielleicht wäre es schon hinreichend, wenn einmal jemand festhalten würde, dass ein nicht unbedeutender Teil der Gegenwart unterirdisch stattfindet. Man kann es auch so sagen: Die Zukunft hat unter dem Boden längst begonnen. Während oben Wildwuchs herrscht und die Städte sich wie Kraken über das Land ausbreiten, wird unter dem Boden rationaler und schnörkelloser gebaut.

Allerdings könnte es auch unten demnächst eng werden. Denn viele wollen unter die Erde. Und sei es nur mit Erdsonden, wie sie derzeit bald in jedem Garten wie lange Spiesse in den Boden versenkt werden, um die Wohnungen zu heizen. Vielleicht sieht die Zukunft so aus: ein unterirdischer Dschungel von bis zu 300 Meter tief ausgreifenden Wasserschläuchen, durch den es kaum ein Durchkommen mehr gibt.

Wenn es also stimmt, dass die Zukunft der Schweiz im Untergrund liegt, dann wäre es höchste Zeit, sich darüber ein paar vernünftige Gedanken zu machen. Das Land ist allerdings schlecht dafür gerüstet. Da hilft es nichts, wenn der Bund in seinem Bericht von 2022 nicht weniger als eine «Untergrundstrategie» ankündet.

Wie weit man davon entfernt ist, zeigte eine Debatte im Ständerat in der vergangenen Sommersession. Der Rat konnte noch nicht einmal Einigkeit in der Frage erzielen, ob und wie Daten über die Nutzung des unterirdischen Raumes national zu erheben und wem sie unter welchen Bedingungen zur Verfügung zu stellen sind. Denn die Hoheit über den Untergrund liegt bei den Kantonen. Das führt dazu, dass jeder Kanton im eigenen Ermessen den Zugang zum Untergrund regelt, Geodaten erhebt, sammelt und sie zugänglich macht. Das Ergebnis ist darum ernüchternd. Es wird zwar gebohrt und geschaufelt, was das Zeug hält, seit eh und je entsteht Loch um Loch, doch es fehlt ein nationales Katasteramt des Untergrunds.

Die Schweiz ist noch lange nicht zu Ende gebaut. Oben ist man zwar bald fertig. Unten lässt die Raumreserve noch vieles zu. Ob man dort wohnen will, ist vielleicht noch nicht die dringlichste Frage. Was man mit dem vielen Raum sonst noch anstellen kann, wäre eine ernsthafte Debatte wert. Jedenfalls ist es noch zu früh, um schon Pläne für Mond oder Mars zu schmieden. Einstweilen bieten sich bequemer zugängliche und klimatisch freundlichere Quartiere an. Und die Aussicht ist unterirdisch nicht viel schlechter als auf Mond oder Mars, sei es an der Oberfläche oder untermondisch beziehungsweise -marsisch.

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