Dienstag, Oktober 8

Der Bürgerkrieg ist vorbei, das Land so ruhig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch die Menschenrechtslage unter den Taliban ist katastrophal, die Gefahr politischer Verfolgung und willkürlicher Festnahmen ist hoch. Eine Übersicht.

Mit dem Fall von Kabul und dem Sieg der Taliban vor drei Jahren ist der langjährige Bürgerkrieg in Afghanistan zum Ende gekommen. Praktisch erstmals seit 1978 gibt es in dem Land am Hindukusch keine grösseren Kämpfe mehr. Die Herrschaft der Taliban ist weitgehend unangefochten, und es gibt heute keine Gruppe, die ihnen auf absehbare Zeit die Macht streitig machen könnte. Diese relative Ruhe hat im Westen zu Diskussionen geführt, ob Afghanistan wieder sicher genug sei, um afghanische Flüchtlinge zurückschicken zu können.

Doch was heisst sicher? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Die Antwort fällt unterschiedlich aus, ob man einfacher Bauer oder Richter, Journalist oder Politiker ist. Sicherheit bedeutet auch nicht das Gleiche für Männer wie für Frauen. Geht es um die Sicherheit, nicht Opfer eines Bombenanschlags oder Luftangriffs zu werden? Oder um die Sicherheit vor politischer Verfolgung und willkürlicher Festnahme? Und was ist mit der Sicherheit, keinen Hunger leiden zu müssen?

Erstmals seit langem herrscht kein Krieg mehr

Schaut man auf die allgemeine Sicherheitslage, hat sich diese fraglos deutlich verbessert, seitdem die Taliban am 15. August 2021 die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Ashraf Ghani gestürzt und die Macht in Kabul an sich gerissen haben. Die Zahl der Gefechte, Anschläge und Überfälle ist massiv zurückgegangen. Im Jahr 2022 erreichten die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Land erstmals seit 2004 nicht mehr die Schwelle eines Krieges.

Die meisten Afghaninnen und Afghanen können sich heute relativ sicher auf den Strassen und zwischen den Städten bewegen. Überlandreisen sind heute deutlich leichter als vor 2021. Die meisten Strassensperren, welche Polizei und Armee unter der alten Regierung im Kampf gegen die Taliban errichtet hatten, sind verschwunden. Die Gefahr von Anschlägen, Entführungen und Sprengfallen ist stark gesunken, da die gefährlichste Rebellengruppe heute selbst an der Macht ist.

Nachdem der Krieg in Afghanistan zwischen 2018 und 2021 der blutigste Konflikt der Welt gewesen war, fiel die Zahl der Opfer nach dem Sieg der Taliban drastisch. Laut dem Uppsala Conflict Data Program (UCDP), das seit Jahrzehnten die Opfer von Kriegen in aller Welt zählt, erreichte der Krieg 2021 in der Endphase mit 36 386 Toten seinen Höchststand. Im folgenden Jahr zählten die Forscher der Universität Uppsala dagegen nur 1568 Tote. 2023 fiel die Zahl sogar auf 342.

Der Hauptgegner der Taliban ist heute der IS

Nach dem Fall von Kabul hatte sich zwar rasch Widerstand formiert. Vor allem im Panjshir-Tal sammelten sich die Anhänger der gestürzten Regierung in der Nationalen Widerstandsfront (NRF). Die Zahl der Angriffe auf die Taliban nahm zunächst zu, doch brach das Regime im Sommer 2022 mit einer brutalen Offensive den Widerstand im Panjshir-Tal. Dutzende Gefangene wurden aussergerichtlich hingerichtet. Die NRF und ähnliche Gruppen wurden in den Untergrund gedrängt. Heute verübt vor allem die NRF noch regelmässig Angriffe.

Der Hauptgegner der Taliban ist heute aber der Islamische Staat Provinz Khorasan (IS-K). Die radikale salafistische Gruppe zählt zu den aktivsten und gefährlichsten Ablegern der globalen Terrororganisation IS. Beim Fall von Kabul waren viele inhaftierte IS-Kämpfer freigekommen. Auch erhielt der IS-K Zulauf von unzufriedenen Taliban-Kämpfern. Die Gruppe betrachtet die Taliban als Häretiker. Die Taliban werfen dem IS wiederum vor, religiöse Extremisten zu sein.

Seit 2021 hat der IS-K Dutzende Anschläge auf die Taliban, aber auch auf Moscheen und Schulen der schiitischen Minderheit verübt. Dabei wurden Hunderte Menschen getötet. Die Taliban gehen mit grosser Härte gegen die Gruppe vor. Laut einem Bericht von Human Rights Watch wurden allein zwischen August 2021 und April 2022 in der östlichen Provinz Nangarhar in einem Kanal die Leichen von 100 mutmasslichen IS-Kämpfern gefunden.

Die Taliban kennen im Kampf gegen ihre Gegner keine Gnade. In Dörfern und Vierteln, deren Einwohner sie der Unterstützung des IS-K oder der NRF verdächtigen, gehen sie mit nächtlichen Razzien vor. Teilweise läuft das Vorgehen auf eine Kollektivstrafe hinaus. Gefangene werden routinemässig gefoltert, viele verschwinden spurlos. Oft trifft es Unbeteiligte, rechtliche Rekursmöglichkeiten gibt es nicht. Die verstümmelten Leichen mutmasslicher Gegner werden zur Abschreckung an öffentlichen Orten abgelegt.

Hunderte frühere Regierungsmitarbeiter wurden ermordet

Die breite Masse der Bevölkerung betreffen die Kämpfe nur am Rande. Neben aktiven Taliban-Gegnern droht aber auch einer zweiten Gruppe Gefahr: den Hunderttausenden früheren Angehörigen der Armee, der Polizei und der Verwaltung. Zwar haben die Taliban nach ihrer Machtübernahme eine allgemeine Amnestie für alle Mitarbeiter der vorherigen Regierung verkündet. Diese verhinderte aber nicht, dass Hunderte Offiziere, Beamte und Richter Opfer von Entführung, Inhaftierung und Rachemorden wurden.

Allein in den drei Monaten nach dem Fall von Kabul dokumentierte Human Rights Watch in einem Bericht die aussergerichtliche Hinrichtung von 47 Angehörigen der Sicherheitskräfte in den Provinzen Ghazi, Kandahar, Helmand und Kunduz. Sie waren von den Taliban festgenommen worden oder hatten sich ihnen gestellt. Viele wurden ermordet, obwohl sie versucht hatten, sich bei den Taliban zu registrieren, um von der Amnestie zu profitieren.

Das Taliban-Regime bestreitet, ehemalige Polizisten, Soldaten und Beamte wegen ihrer früheren Arbeit anzugreifen. Es bekräftigt immer wieder, dass sie von der Amnestie geschützt seien. Dennoch meldet die Uno-Mission für Afghanistan (Unama) noch immer regelmässig die willkürliche Festnahme und Ermordung von früheren Mitgliedern von Regierung und Sicherheitskräften. Teilweise fallen sie persönlichen Fehden zum Opfer, meist stecken aber die Taliban dahinter.

Die Menschenrechtslage hat sich drastisch verschlechtert

Sosehr sich die allgemeine Sicherheitslage unter den Taliban verbessert hat, so sehr hat sich die Lage der Menschenrechte verschlechtert. Die am meisten Leidtragenden sind die Mädchen und Frauen im Land. Die Taliban haben sie weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt und ihren Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit stark eingeschränkt. Als einziges Land der Welt verwehrt Afghanistan heute Mädchen und Frauen den Zugang zu Sekundarschulen und Universitäten. Aktivisten sprechen von Gender-Apartheid.

Zwar hat sich laut der Weltbank der Anteil der Mädchen, welche die Primarschule besuchen, dank der besseren Sicherheitslage und der höheren Akzeptanz der Schulen bei strengen Muslimen von 36 auf 60 Prozent erhöht. Mit Ausnahme von Berufen wie Primarlehrerin und Hebamme dürfen Frauen aber nicht mehr arbeiten. Die Uno und internationale Hilfsorganisationen dürfen Frauen nur noch mit Einschränkungen beschäftigen. Auch wurden ihre Gehälter gekürzt.

In vielen Bereichen gilt Geschlechtertrennung. Schönheitssalons wurden geschlossen, auch haben Frauen keinen Zutritt mehr zu Fitnesszentren, Parks und Bädern. Ihr Zugang zu Spitälern und zu Verhütung wurde erschwert. Frauen dürfen grundsätzlich nur noch mit Schleier auf die Strasse und nur in Begleitung eines männlichen Vormunds reisen. Die Kopftuchpflicht wird von der Moralpolizei rigoros durchgesetzt. Bei Verstössen droht Festnahme oder Misshandlung.

Die britische NGO Afghan Witness zählte zwischen Januar 2022 und Juni 2024 insgesamt 422 Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen, bei denen Taliban-Mitglieder nachweislich involviert waren.

Bei Vergehen drohen Stockschläge oder Steinigung

Die Taliban haben ihre strenge Auslegung der Scharia zur Grundlage der Rechtsprechung gemacht. Das Spielen von Musik, das Rauchen von Wasserpfeifen und menschliche Abbildungen in Medien und Werbung sind als unislamisch verboten. Bei Diebstahl, Ehebruch oder homosexuellen Beziehungen drohen Körperstrafen wie Stockschläge oder Steinigung. Männer, die nicht zum Gebet in der Moschee erscheinen, keinen Bart tragen oder «westliche» Frisuren haben, werden ebenfalls bestraft. Immer wieder gibt es öffentliche Hinrichtungen.

Die Meinungs-, die Versammlungs- und die Religionsfreiheit gelten unter den Taliban nicht. Gegen Proteste auf den Strassen gehen sie mit grosser Härte vor. In den ersten zwei Jahren nach dem Fall von Kabul hat mehr als die Hälfte aller Fernsehsender und Zeitungen dichtgemacht, zwei Drittel aller Journalisten haben ihren Job verloren. Politische Parteien wurden verboten, einschliesslich islamistischer Formationen, und die mit ihnen verbundenen Medien geschlossen.

Hunderttausende Afghaninnen und Afghanen waren nach 2021 gezwungen, sich ein neues Einkommen zu suchen. Doch Arbeit ist rar, da die Wirtschaft nach der Machtergreifung der Taliban stark eingebrochen ist. Die westlichen Geber stellten ihre Hilfen an den Staat ein und reduzierten auch ihre Zahlungen an Hilfsorganisationen. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) ging allein 2021 um 20,7 Prozent zurück, 2022 fiel es um weitere 6,2 Prozent. Seither stagniert die Wirtschaft.

Die Wirtschaftslage bleibt düster

Das Verbot des Opiumanbaus im April 2022 hat besonders Kleinbauern hart getroffen. Eine Kampagne der Taliban zur Zerstörung von Mohnfeldern führte in der Provinz Badakhshan im Frühjahr zu Protesten, die mit Gewalt aufgelöst wurden. Eine langanhaltende Dürre und die Folgen des Klimawandels machen der Landwirtschaft zu schaffen. Trotz einer Verbesserung der Versorgungslage seit 2021 leidet ein Drittel der Bevölkerung an akuter Ernährungsunsicherheit.

Jeder zweite Afghane lebt heute in Armut. Die Ausweisung von über 600 000 afghanischen Flüchtlingen aus Pakistan seit September 2023 und die Deportation von hunderttausend weiteren aus Iran hat die Wirtschaft in Afghanistan zusätzlich belastet und die Arbeitslosigkeit erhöht. Die Aussichten sind düster. Das Taliban-Regime wird weiterhin von keinem Staat der Welt anerkannt, die Reserven der Zentralbank bleiben in der Schweiz eingefroren, und die meisten Unternehmen scheuen Investitionen oder eine Kooperation mit dem Regime.

Es kann daher nicht überraschen, dass weiterhin Hunderttausende Afghaninnen und Afghanen aus ihrer Heimat fliehen. Gerade die Zahl der Frauen, die ihr Glück im Ausland suchen, hat seit 2021 stark zugenommen. Die wichtigsten Aufnahmeländer wie Iran, Pakistan und die Türkei sehen die Flüchtlinge zunehmend als Belastung und deportieren sie verstärkt nach Afghanistan. Iran etwa kennt gar kein Asylrecht, auch in der Türkei gilt es nur eingeschränkt.

Deutschland, die Schweiz und andere westliche Länder werden ihre eigene Antwort auf die Frage finden müssen, ob Afghanistan wieder sicher genug sei, um dorthin auszuschaffen. Politisch Verfolgte geniessen Asyl und sind daher vor Abschiebung geschützt. Migranten, die nicht haben glaubhaft machen können, dass sie persönlich verfolgt sind, haben dagegen nur bedingt Schutz. Dennoch bleibt es eine schwierige Frage, ob es angesichts der besonders für Frauen desaströsen Menschenrechtslage vertretbar und rechtlich zulässig sei, abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan auszuschaffen.

Exit mobile version