Sonntag, Oktober 6

Die Schweiz soll ihre Neutralitätspolitik anpassen, fordert eine Studienkommission des VBS. Schon vier Vorschläge liegen dafür auf dem Tisch. Alle zielen in dieselbe Richtung, nur eine Idee fällt komplett aus dem Rahmen.

«Es wäre schlimm, wenn man sich beim Thema Sicherheitspolitik einmal eine Meinung bildet, und die ist dann für immer in Stein gemeisselt, unabhängig davon, wie sich die Welt entwickelt. Das wäre höchst, höchst fahrlässig», meinte Bundespräsidentin Viola Amherd am Donnerstag an der Medienkonferenz zum Bericht ihrer Studienkommission. Angesprochen wurde die Chefin des Verteidigungsministeriums (VBS) auf die verfahrene Lage im Parlament zu verschiedenen Fragen der Rüstungspolitik, wie die Höhe des Armeebudgets oder die Änderung des Gesetzes zur Wiederausfuhr von Kriegsmaterial.

Amherd habe deshalb eine Studienkommission eingesetzt, um «ergebnisoffen» verschiedene Themen rund um die Sicherheitspolitik zu diskutieren. Dass die Zusammensetzung der Gruppe von Anfang an als zu «Amherd-nah» kritisiert wurde, der SP-Politiker Pierre-Alain Fridez vier Tage vor der Veröffentlichung aus dem Gremium austrat und die Grüne Marionna Schlatter von einer Farce spricht, nimmt die Bundespräsidentin nach aussen hin gelassen: «Ich nehme das zur Kenntnis. Mein Bestreben war es, die Kommission sehr breit aufzufächern.» Sie wolle mit dem Bericht eine Grundlage schaffen, um über die künftige Sicherheitspolitik diskutieren zu können. Insbesondere die Diskussion rund um die Auslegung der Neutralität wäre von grosser Relevanz und Tragweite. Doch diese wurde vor zwei Jahren unsanft abgewürgt.

Aber von vorne: «Wir stehen zusammen mit Ländern, wenn es um die Verteidigung gemeinsamer Grundwerte geht», verkündete Aussenminister Ignazio Cassis 2022 am Weltwirtschaftsforum in Davos und brachte dort zum ersten Mal den Begriff der «kooperativen Neutralität» auf. Diese sähe eine verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Nato und der EU vor und eine Lockerung des Wiederausfuhrverbots für Kriegsmaterial bei Partnerländern.

Kurze Zeit später scheiterte er mit seinem Vorschlag im Bundesrat. Das Gremium erklärte: Es brauche keine neue Definition der Neutralität, die jetzigen Bestimmungen reichten aus. Punkt. Damit hat eine Mehrheit der sieben Regierungsmitglieder jegliche Diskussion zum Thema abgewürgt.

Doch passiert ist genau das Gegenteil. Denn seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges verstehen einerseits westliche Partner die Schweizer Aussen- und Sicherheitspolitik nicht mehr, andererseits führt sie innenpolitisch zu heiklen Blockaden bei wichtigen Entscheidungen. Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Studiengruppe, welche die VBS-Chefin vor einem Jahr eingesetzt hat, zum Schluss kommt: Es braucht eine Weiterentwicklung der Neutralität.

Aggressor und Opfer sollen unterschieden werden

Die Mehrheit der 21-köpfigen Kommission empfiehlt, die Neutralitätspolitik solle flexibler gehandhabt werden und sich stärker an der Uno-Charta ausrichten. Sprich: Die Schweiz unterscheidet in einem Konflikt klar zwischen Aggressor und Opfer. Heute tut sie dies in der entsprechenden Verordnung nicht, obschon sie die Wirtschaftssanktionen der EU gegen Russland unterstützt.

Diese Handhabung hat nicht nur zu Kopfschütteln im Ausland geführt, sondern auch zu massiven Folgen für die Schweizer Rüstungsindustrie. Partnerländer wie Deutschland, Spanien oder Dänemark durften Kriegsmaterial, welches sie bereits lange vor dem Krieg in der Schweiz gekauft hatten, nicht an die Ukraine weitergeben. Darunter leidet insbesondere die Schweizer Rüstungsindustrie.

Die Firma Rheinmetall in Altdorf hätte 35-mm-Munition für den Fliegerabwehrpanzer Gepard herstellen können. Diese wollte Deutschland an die Ukraine weitergeben. Doch wegen des Wiederausfuhrverbots kam die Schweiz nicht zum Zug. Rheinmetall lagerte die Produktion kurzerhand nach Deutschland aus. So kann die sowieso schon kleine Rüstungsindustrie hierzulande auf Dauer nicht überleben. Und ohne Produktionsmöglichkeiten in der Schweiz ist die bewaffnete Neutralität naives Wunschdenken.

Die Studienkommission empfiehlt in ihrem fast 70-seitigen Bericht: Künftig soll Schweizer Kriegsmaterial von demokratisch gleichgesinnten Ländern weiterverkauft werden dürfen. Die Autoren schreiben: «Das Wiederausfuhrverbot wird nicht verstanden und eigentlich auch nicht mehr akzeptiert. Im Grundsatz gilt: Jede Kooperation ist ein Geben und Nehmen.»

«Neutralität 21» oder orthodoxe Neutralität

Nicht nur die Studienkommission sieht dies so. Auch eine Gruppe rund um den emeritierten Staatsrechtsprofessor Thomas Cottier und den freisinnigen Altständerat René Rhinow geht in diese Richtung. Im Mai präsentierten sie ein Zehn-Punkte-Manifest für eine «Neutralität 21». Sie wollen das Kriegsmaterialgesetz ebenfalls anpassen «im Lichte der sicherheits- und aussenpolitischen Interessen der Schweiz». Denn dieses richte sich immer noch nach den Rechten und Pflichten der Haager Konvention von 1907, einem Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus. Damals hatte jeder Staat das Recht auf Krieg.

Doch nun ist die Schweiz Uno-Mitglied. Damit sei sie nicht mehr berechtigt, Täter und Opfer gleich zu behandeln, sagen die Autoren des Manifests. So soll die Eidgenossenschaft alles unterlassen, «was den Aggressor begünstigen könnte». Weiter ist im Manifest die Rede von einer schlagkräftigen Schweizer Armee, die sich mit der Nato und der EU auf eine gemeinsame Verteidigung im Falle eines Angriffs vorbereitet.

In eine komplett andere Richtung zielt die SVP mit ihrer Neutralitätsinitiative, welche im April zustande gekommen ist. Die grösste Schweizer Partei will die Neutralität in die Verfassung schreiben – mit den Worten «immerwährend und bewaffnet». Sanktionen gegen kriegführende Staaten wie Russland wären verboten, eine Zusammenarbeit mit einem militärischen Bündnis nur im Falle eines direkten Angriffs zulässig. Die Schweiz solle ihre Guten Dienste nutzen, um Konflikte zu verhindern und zu lösen.

Diese orthodoxe Auslegung der Neutralität würde jedoch kaum Konflikte lösen, sondern neue schaffen, nämlich zwischenstaatliche mit westlichen Partnern. Der Bundesrat lehnt die Initiative deshalb ohne Gegenvorschlag ab. Er ist der Ansicht, dass es im Interesse der Schweiz ist, die international breit abgestützten Sanktionen mitzutragen und mit Militär- und Verteidigungsbündnissen zusammenzuarbeiten.

«Nur debattieren reicht nicht»

Die Studienkommission des VBS will mit ihrem Bericht Impulse setzen für die öffentliche und parlamentarische Diskussion. Valentin Vogt, ehemaliger Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, der die Kommission leitete, konnte sich an der Medienkonferenz einen Seitenhieb an das Parlament nicht verkneifen. Der Bericht erhöhe die Sicherheit in der Schweiz nicht per se, sagte er: «Nur debattieren, was das Parlament seit Kriegsbeginn, spricht seit 30 Monaten tut, reicht nicht.» Die Polarisierung der Parlamentsarbeit müsse endlich in den Hintergrund treten, zugunsten einer erhöhten Sicherheit in der Schweiz.

Doch was nun? Der Bericht wurde zuhanden des Verteidigungsdepartementes verfasst und dient als Grundlage für die Sicherheitspolitische Strategie 2025. Auf die Frage, ob die Neutralitätsdebatte wieder in den Bundesrat komme, meinte Amherd an der Pressekonferenz, dass das Thema sicher wieder in der einen oder anderen Form diskutiert werde. Aber traktandiert sei es nicht. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten von Bundesrat Ignazio Cassis sei federführend. Also jener Bundesrat, der bereits vor zwei Jahren diese Diskussion mit einem eigenen Bericht führen wollte. Wäre er nicht so unsanft stumm geschaltet worden, hätte die Schweiz vielleicht schon heute eine breit abgestützte Neutralitätspolitik.

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