Nach einem Rekordgewinn im Geschäftsjahr 2023/24 will Siemens den Umbau zum Digitalkonzern weiter beschleunigen. Wird das 1847 gegründete Unternehmen zum Modell dafür, wie Deutschland die Industriekrise überwinden kann?
«Wir verbinden die reale mit der digitalen Welt»: Das ist der Leitsatz von Roland Busch, seit er 2021 Chef des deutschen Siemens-Konzerns geworden ist. Auch an der Jahrespressekonferenz vom Donnerstag fiel der Satz gleich mehrfach. Zur Illustration verwies Busch auch auf ein Beispiel aus der Schweiz: Im Neubau, den das Kantonsspital Baden im Frühjahr 2025 beziehen wird, habe Siemens eine massgeschneiderte IoT-Plattform (IoT steht für Internet der Dinge) eingerichtet.
Das Spital-Navi
Einfach ausgedrückt, habe man eine Art Google Maps installiert, erklärte Busch. Tausende intelligenter Sensoren an medizinischen Geräten speisten ein App-basiertes Navigationssystem. Auf diese Weise könne das Personal die oft verstreuten Geräte für Untersuchungen oder Behandlungen in Echtzeit orten und verlöre keine Zeit mehr mit der Suche.
Siemens produziert mit seinen drei Geschäftsbereichen Digital Industries (Industrieautomation), Smart Infrastructure (Gebäudetechnik, Energiesysteme) und Mobility (Bahntechnik) sowie der mehrheitlich kontrollierten Medizintechnik-Tochter Siemens Healthineers weiterhin viel industrielle Hardware, von Brandschutzanlagen bis zu ICE-Zügen für die Deutsche Bahn.
Doch sie alle sollen digital vernetzt und gesteuert werden können. «Züge sind superintelligente Hardware, ein Zug ist eine Digitalisierungsplattform, die durch die Gegend fährt, wenn man es richtig macht, so wie wir», sagt Busch.
Um den Wandel zum Technologiekonzern voranzutreiben, hat der Konzern Allianzen mit führenden Tech-Unternehmen wie Microsoft und Nvidia geschlossen. Seine digitale Plattform Xcelerator vereint das Soft- und Hardwareportfolio von Siemens Digital Industries mit eingebetteten Tools, Datenbanken, Dienstleistungen sowie individuellen Beratungsangeboten und will damit vor allem mittelständische Produktionsunternehmen bei der digitalen Transformation unterstützen.
Teurer Meilenstein Altair
Als Meilenstein auf diesem Weg sieht Busch die vor zwei Wochen angekündigte Übernahme des US-amerikanischen Softwareunternehmens Altair Engineering. Laut Firmenangaben ist Altair ein führender Anbieter von Software auf dem Markt für industrielle Simulation und Analyse. Altair stärke mit einem kompletten Spektrum von Simulation und künstlicher Intelligenz (KI) das Angebot mit digitalen Zwillingen enorm, erklärte Busch nun. Digitale Zwillinge bilden zum Beispiel Industrieanlagen virtuell ab, so dass Produktionsprozesse, Störungen oder Umbauten digital simuliert werden können.
Mit der Übernahme baut Siemens das digitale Geschäft, einen Teilbereich der Digital Industries, weiter aus. Bereits bis jetzt wächst dieses rasch: Im Geschäftsjahr 2023/24 (per Ende September) legte sein Umsatz um 22 Prozent auf 9 Milliarden Euro zu und trug damit rund 12 Prozent zum Konzernumsatz bei.
Allerdings hat Siemens für Altair tief in die Tasche greifen müssen: Mit einem Kaufpreis von rund 10 Milliarden Dollar ist es eine der grössten Akquisitionen der Firmengeschichte, obwohl Altair bis jetzt nur rund 600 Millionen Dollar Umsatz erzielt. Siemens beteuert jedoch, noch genügend Finanzkraft für weitere Transaktionen zu haben.
Spielraum verschafft hat unter anderem der unlängst abgeschlossene Verkauf von Innomotics, einem Hersteller von Elektromotoren und Grossantrieben, aus dem ein vorläufiger Gewinn nach Steuern von 2 Milliarden Euro resultieren soll. Auch dieser Schritt war Teil des Umbaus hin zu einem Technologiekonzern. Weitere Mittel verschaffen könnte sich Siemens zudem durch den Verkauf von Aktien aus den Beteiligungen an Siemens Healthineers und Siemens Energy.
Historischer Rekordgewinn
Ohnehin hebt sich Siemens ab vom verbreiteten Schwächeln in bisherigen deutschen Kernbereichen wie der Auto-, Chemie- und Maschinenindustrie. Im abgelaufenen Geschäftsjahr hat der Münchner Konzern den Umsatz auf vergleichbarer Basis um 3 Prozent auf 75,9 Milliarden Euro erhöht. Der Gewinn nach Steuern ist von 8,5 Milliarden Euro im Vorjahr auf einen historischen Höchststand von 9 Milliarden Euro gestiegen.
Gleichwohl gibt es Schattenseiten. Der Auftragseingang ist auf vergleichbarer Basis um 4 Prozent gesunken. In der Sparte Digital Industrie (DI) sind Umsatz und Betriebsgewinn geschrumpft, weil die positive Entwicklung des Softwaregeschäfts den Rückgang im Automatisierungsgeschäft nicht zu kompensieren vermochte. Siemens führt Letzteres auf volle Lager bei Zwischenhändlern in China, das niedrige Produktionsvolumen in wichtigen Kundenindustrien und die Investitionszurückhaltung vor allem in Europa zurück.
Laut Busch wird deshalb in der Sparte DI weltweit eine niedrige bis mittlere vierstellige Zahl von Arbeitsplätzen abgebaut. Man habe aber zugleich 8000 offene Stellen anderswo im Konzern. Insgesamt beschäftigt Siemens rund 312 000 Personen.
Skeptische Investoren
«Beginnend mit dem Geschäftsjahr 2025 werden wir Siemens auf die nächste Stufe der Wertsteigerung heben», verspricht Busch. Man werde weiterhin in Forschung, Entwicklung und Zukäufe investieren. Siemens sei hervorragend ausgerichtet auf die langfristigen Wachstumstrends Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Unter dem Programm «One Tech Company» will der Vorstandsvorsitzende zudem die einzelnen Konzernteile enger verzahnen. Ziel sei ein noch stärkerer Kundenfokus, schnellere Innovationen und vor allem stärkeres profitables Wachstum.
Vor diesem Hintergrund hört Busch das Wort Industriekonzern nicht mehr gern. «Mein Wunsch wäre, dass wir am Kapitalmarkt, aber vor allem bei unseren Kunden als Technologiefirma gesehen werden», sagte er 2023 im NZZ-Interview.
Gelingt Siemens der skizzierte Wandel, könnte die 1847 gegründete Firma zum Modell dafür werden, wie traditionelle Konzerne trotz hohen Arbeits- und Energiekosten Wertschöpfung in Deutschland halten können. Zumindest die Anleger scheinen allerdings noch nicht so ganz überzeugt zu sein: Im längerfristigen Vergleich hinkt die Entwicklung des Aktienkurses von Siemens jener von Konkurrenten wie ABB und Schneider Electric hinterher. Immerhin: Am Donnerstag brachten die Geschäftszahlen und die Ankündigung einer Dividendenerhöhung Siemens unter die Tagesgewinner an der Frankfurter Börse.
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