Wenn gewisse Deutsche wieder einmal das Ausnahmeverhältnis zu ihrem «Nachbarn Russland» beschwören, wissen die Polen, was es für sie geschlagen hat: Es gibt sie gar nicht. Die Ignoranz des westlichen Publikums über Polen ist gigantisch. Ein Buch schafft Abhilfe.

Auf der geistigen Landkarte Europas gilt für Polen immer noch, was Alfred Jarry 1906 in seinem surrealistischen Theaterstück «König Ubu» geschrieben hat: «Quant à l’action, elle se passe en Pologne, c’est-à-dire nulle part.» («Was die Handlung betrifft, so findet sie in Polen statt, also nirgendwo.»)

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Die Ignoranz des westlichen Publikums über die polnische Literatur ist fast enzyklopädisch. Die Leipziger Polonistin Anna Artwinska legt nun gemeinsam mit namhaften Mitautoren ein wichtiges Buch vor, das die polnische Literatur der Romantik und des Realismus auch in ihrer Strahlkraft auf das 20. Jahrhundert analysiert.

Romantisches Paradigma

Die Darstellung konzentriert sich auf das «lange 19. Jahrhundert», das im Falle Polens von 1795 bis 1918 dauert. Polen verschwand nach der dritten Teilung als Staat von der europäischen Landkarte und überlebte nur als Kulturnation. Erst nach dem Untergang der monarchischen Teilungsmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland konnte Polen seine Staatlichkeit zurückerlangen.

Umso wichtiger war die Literatur, die zum wichtigsten Medium der gesellschaftlichen Selbstaufklärung avancierte. Lange Zeit dominierte das romantische Paradigma: Die Geschichte wurde als Theophanie, als Selbstoffenbarung Gottes, wahrgenommen. Auf dieser Grundlage entstanden Opfermythen, die Polen in der Rolle des leidenden Messias für die Freiheit Europas sahen.

Die Nationaldichter Adam Mickiewicz und Juliusz Slowacki verstiegen sich in esoterische Phantasien und richteten sogar ihre eigenen Biografien nach mystischen Plänen aus. Gleichzeitig entstanden damals kulturelle Muster, die sich später in der Literatur des 20. Jahrhunderts voll entfalteten. Eine katastrophistische Weltstimmung bestimmte das romantische Schreiben und bildete die Grundlage für literarische Neugestaltungen, die sich in den Untergangsahnungen der 1930er Jahre und Dokumentationen der allgegenwärtigen Zerstörung nach dem Zweiten Weltkrieg äusserten.

Anna Artwinska nimmt viele bisher vernachlässigte Themen in ihre Überblicksdarstellung auf. Zur Sprache kommt ein Grunddilemma der polnischen Gesellschaft: Wie konnte der Zusammenhalt einer Nation gesichert werden, wenn der Adel auf seinen Privilegien gegenüber den ungebildeten Bauern insistierte? Auch die Emanzipation der Frau begann im 19. Jahrhundert durch mutige und erfolgreiche Autorinnen wie Eliza Orzeszkowa und Maria Konopnicka.

Aufbruch in Russland

Schliesslich zeigte sich im Verhältnis der Polen sowohl zu den Juden als auch zu den Ukrainern eine ganze Spannbreite möglicher Verhaltensweisen, die von Assimilation über Kulturaustausch bis zu Unterdrückung reichten. Zudem war die Wahrnehmung Russlands nicht immer nur negativ: Das Aufkommen sozialistischer Gruppen im Zarenreich wurde von jungen Polen mit Hoffnung beobachtet, gleichzeitig begeisterte man sich auch für die grossen russischen Romanciers. Paradoxerweise wurden aber gerade polnische Bildungsaktivisten, die auch russische Literatur übersetzten, von den zaristischen Behörden verfolgt.

Nach 1945 war Polen nicht mehr ein multikultureller Staat: Während des Zweiten Weltkriegs hatte in Polen der Holocaust gewütet, die Bevölkerung erlitt gewaltige Verluste, ganze Städte waren dem Erdboden gleichgemacht worden, es kam zu ethnischen Vertreibungen. Die fast homogene polnisch-katholische Gesellschaft musste ihren Platz in Europa erst finden. Die Traditionen des langen Jahrhunderts steuerten auch diesen Prozess, wie Anna Artwinska in ihrem Buch demonstriert.

Anna Artwinska (Hg.): Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert. Narr-Verlag, Tübingen 2025. 352 S., E-Book Fr. 22.–.

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