Dienstag, Oktober 8

Oft beantwortet das Bauchgefühl, welche Lebewesen schützenswert sind und welche nicht. Dabei ist die ideale Natur eine Illusion. Wollen wir Lösungen finden, sollten wir bewusst auf den Nutzen und den Schaden für den Menschen fokussieren.

Umweltschutz ist ein Reizthema. Regelmässig brechen heftige Diskussionen aus. Die Abstimmung zur Biodiversitätsinitiative im September ist Teil einer emotional geführten Debatte, die Jahrzehnte zurückreicht. Dabei sind doch eigentlich alle dafür, die Natur zu erhalten. Niemand möchte ernsthaft auf sie verzichten. Worin besteht also die Uneinigkeit?

Vielleicht erwächst sie daraus, dass wir schlicht nicht wissen, was wir mit der «Natur» eigentlich meinen, die wir bewahren möchten. Von welchem Zustand von Natur sprechen wir da konkret? Und nach welchen Kriterien möchten wir entscheiden, was wir erhalten und was nicht?

Im Zentrum unserer Entscheidungen steht der Mensch

Häufig verfallen wir einem Trugbild. Wir glauben, wir wollen «Natur». Dabei wollen wir in erster Linie eine Umwelt, die unsere Bedürfnisse möglichst gut erfüllt.

Das tönt unangenehm, nach Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Doch den Menschen ins Zentrum unserer Umweltbemühungen zu stellen, ist legitim. Dieser Fokus könnte uns helfen, eine Handlungsmaxime zu finden, um die komplexen Fragen rund um Umweltschutz zu beantworten.

Denn wenn der Mensch im Zentrum steht, bedeutet das nicht das Ende des Umweltschutzes. Schliesslich sind wir unbedingt auf intakte Ökosysteme angewiesen. Wir brauchen die Bienen, die unsere Nutzpflanzen bestäuben, die Würmer, die den Boden umgraben, die Algen, die Sauerstoff herstellen. Es reicht auch nicht, nur wenige zentrale Spezies zu retten. In einem Ökosystem sind viele Arten miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen. Biodiversität ist die Voraussetzung für die Stabilität eines Ökosystems.

Aber in der modernen Welt ergeben sich immer wieder Situationen, in denen wir den Erhalt von Lebewesen gegen andere Bedürfnisse abwägen müssen. Ist die seltene Salamanderart auf dieser Mauer schützenswert, oder opfern wir sie der Schnellzugstrecke? Ist dieser Käfer eine zentrale Stütze des Ökosystems, oder sorgen wir mit Insektiziden für eine gute Ernte? Ist die Spitzmaus eine bedrohte Spezies, die wir erhalten wollen, oder vertreiben wir sie doch lieber aus unserer Vorratskammer?

Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Im besten Fall können wissenschaftliche Erkenntnisse uns Hinweise darauf geben, welche Auswirkungen der Erhalt oder der Verlust einer bestimmten Spezies in einem bestimmten Gebiet haben könnte. Welches Resultat dann aber wünschenswert ist, das müssen wir als Gesellschaft aushandeln.

Natur ist mehr Gefühl als Realität

Nur, auf welcher Basis treffen wir diese Entscheidungen? Allzu häufig regiert das Bauchgefühl. Ein knuffiger Pandabär? Unbedingt erhalten! Ein glitschiger Regenwurm? Kann weg. Dabei kann «Herzigkeit» unmöglich das sinnvollste Kriterium sein, um zu entscheiden, ob wir Milliarden für den Erhalt einer Art ausgeben oder ihr Aussterben stumm in Kauf nehmen.

Ähnlich arbiträr verläuft die Entscheidung bei der Frage, welche Pflanzen wir als heimisch bezeichnen und welche als Neophyten gelten, die sich hier nicht ausbreiten dürfen. Die meisten von uns würden wohl Tomaten zu den einheimischen Pflanzen zählen. Dabei kamen sie erst mit Kolumbus aus Südamerika nach Europa. Neueren Einwanderern wie dem Kirschlorbeer stehen wir gleich viel kritischer gegenüber. Doch warum genau unterscheiden wir bei unserer Bewertung zwischen Pflanzen, die vor 1492 zu uns kamen, und denen, die nachher kamen?

Der Begriff Natur weckt tiefe Emotionen. Natur wird verknüpft mit dem Gefühl von Heimat, von Schönheit, Einfachheit, Ruhe. Viele dieser Ideen gehen auf die Epoche der Romantik zurück. Wenn vorher die Einstellung überwog, dass die Natur etwas Gefährliches, zu Bezwingendes sei, wurde die Natur während der Romantik zu einem kollektiven Sehnsuchtsort.

Es gab diese ideale Natur auch in der Vergangenheit nie. Denn die tatsächliche unberührte Natur hat mit Schönheit, Einfachheit und Ruhe wenig zu tun. Realistisch betrachtet, sollte man sie viel eher mit dem nackten Kampf ums Überleben assoziieren.

Die ideale Natur der Romantik existiert nur in unseren Köpfen. Es gibt auf der Erde heute keinen Flecken mehr, der nicht bereits die Fingerabdrücke menschlichen Handelns und Strebens trägt. Selbst in der Tiefsee treiben Plastiktüten.

Pragmatisch nach dem Nutzen fragen

Das Streben nach einer schönen Illusion hilft uns wenig dabei, die schwierigen Entscheidungen zu treffen, mit denen wir in Bezug auf unsere Umwelt konfrontiert sind. Und das Bauchgefühl ist ein schlechter Berater, wenn es um den Erhalt komplexer, verflochtener Ökosysteme geht.

Stattdessen wäre es Zeit für einen pragmatischen Ansatz, der auf nüchterne und umfassende wissenschaftliche Untersuchungen als Basis von Entscheidungen setzt. Und der es wagt, die Frage nach Nutzen und Schaden für den Menschen in den Vordergrund zu stellen.

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