Mittwoch, Oktober 23

Unter dem Druck von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider können sich Ärzte, Spitäler und Krankenkassen erstmals auf neue Tarife für ambulante Leistungen einigen. Auf dem Spiel stehen 14 Milliarden Franken im Jahr. Und es gibt noch ein Problem.

Ist das nun der grosse Durchbruch? Er zögert kurz. «Ich hoffe es.» Ganz sicher ist sich Pierre Alain Schnegg seiner Sache noch nicht, aber die Vorzeichen sind so gut wie nie bisher. Und das will etwas heissen, nach all den Jahren. Schnegg – im Hauptamt Regierungsrat und Gesundheitsdirektor im Kanton Bern – hat für den Bundesrat eine der schwierigsten Missionen übernommen, die in der Schweizer Politik zu finden sind.

Der SVP-Politiker soll die Einführung einer neuen Tarifstruktur für ambulante medizinische Leistungen ermöglichen. Das ist ein Markt mit Umsätzen von 14 Milliarden Franken im Jahr. Er umfasst sämtliche Leistungen, die ambulant – ohne Übernachtung vor Ort – erbracht werden. Das Spektrum reicht vom Verbinden einer Wunde beim Hausarzt über die Augenoperation beim Spezialisten bis zur Implantation eines Herzschrittmachers im Spital. Umso schwieriger ist es, diese 14 Milliarden Franken mit einem einzigen Tarif gezielt und fair aufzuteilen zwischen Kliniken, Kinder- und Hausärzten, Spezialistinnen und Psychiatern.

Die heutige Tarifstruktur Tarmed, die seit 2004 in Kraft ist, gilt schon seit Jahren als überholt und ungerecht. Vor allem bildet sie den technischen Fortschritt nicht ab, weshalb Leistungen mancher Spezialärzte zu hoch entschädigt werden, während Kinderärzte oder Psychiater zu wenig erhalten. Trotzdem sind bis anhin alle Reformversuche gescheitert. Doch jetzt hat die Blockade ein Ende gefunden.

Hier kommt Pierre Alain Schnegg ins Spiel. Er ist Präsident der Organisation für ambulante Arzttarife. In deren Verwaltungsrat sind lückenlos all die chronisch zerstrittenen Akteure vertreten, die sich bisher nie auf eine gemeinsame Lösung einigen konnten: Spitäler, Ärzte und beide Krankenkassenverbände. Am Dienstagabend aber hat es geklappt. Gemeinsam und ohne Extrawünsche hat der VR einem neuen, umfassenden «Gesamttarifwerk» zugestimmt – ohne Gegenstimme, wie Schnegg sagt.

Das Ultimatum des Bundesrats

Das ist ein Erfolg nicht nur für Pierre Alain Schnegg, sondern auch für die Gesundheitsministerin des Bundes, Elisabeth Baume-Schneider. Sie hat hoch gepokert: Im Juni brachte sie ihre Bundesratskollegen dazu, den unversöhnlichen Akteuren ein Ultimatum zu setzen. Bis Ende Oktober hat ihnen der Bundesrat Zeit gegeben, um einen gemeinsamen Vorschlag einzureichen, der – so das Ziel – Anfang 2026 in Kraft treten kann. Andernfalls, drohte Baume-Schneider, werde sie selbst einen neuen Tarif erlassen.

Ob das Bundesamt für Gesundheit (BAG) dazu fachlich überhaupt in der Lage wäre, ist umstritten. Vermutlich haben nicht zuletzt die Zuständigen im BAG aufgeatmet, als sie am Dienstag von der Einigung hörten. Baume-Schneiders Poker scheint aufzugehen. Unter grösstem Zeitdruck haben sich sämtliche Akteure bewegt, haben auch akzeptiert, dass das neue Tarifsystem nicht vom ersten Tag an perfekt sein wird, sondern laufend weiterentwickelt werden muss.

Spezialärzte könnten alles wieder blockieren

Trotzdem ist es für das grosse Versöhnungsfest noch zu früh. Eine letzte Hürde bleibt. Ob die FMH, die Vereinigung der Ärzteschaft, den Vorschlag wirklich mitträgt, steht noch nicht definitiv fest. Zwar haben sich ihre Delegierten am Montag «mit grosser Mehrheit» für die vorliegende Lösung ausgesprochen, wie die FMH-Präsidentin Yvonne Gilli sagt. Aber tags darauf – als die Sitzung mit den anderen Akteuren bereits lief – zeigte sich, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Mehrere Fachgesellschaften von Spezialärzten haben innerhalb der FMH das Referendum ergriffen. Sie lehnen jene Elemente des neuen Vorschlags kategorisch ab, die für sie relevant sind. Die Grundversorger hingegen, Haus- und Kinderärzte sowie Psychiater, sind mit dem Werk einverstanden. Laut Gilli ist noch unklar, wann über das Referendum entschieden wird. Der Beschluss dürfte aber kaum vor Ende Oktober fallen – und somit erst nach Ablauf der vom Bundesrat gesetzten Frist. Was nun?

Der Präsident Schnegg und alle involvierten Akteure hoffen auf Nachsicht. Sie haben vereinbart, dass sie dem Bund die inhaltlichen Unterlagen fristgerecht zustellen werden. Einzig das Begleitschreiben mit dem formellen Gesuch, das auch von der FMH unterzeichnet werden muss, liefern sie später nach. So kann das BAG rechtzeitig mit der Prüfung der umfangreichen Dokumentation beginnen. Falls sich jedoch innerhalb der FMH im zweiten Anlauf doch noch die Spezialärzte durchsetzen sollten, ist das ganze Projekt wieder infrage gestellt.

Das neue Tarifwerk besteht aus zwei Teilen: Einerseits gibt es wie heute einen Tarif mit mehreren tausend detaillierten Positionen, mit denen vor allem Grundversorger jede einzelne Leistung abrechnen können. Andererseits gibt es künftig auch Pauschalen, mit denen ganze Eingriffe oder Behandlungen, die sich standardisieren lassen, umfassend abgegolten werden. Sie sind vor allem für Spitäler und Spezialärzte wichtig, wobei Letztere mit dem gegenwärtigen Stand der Pauschalen massiv unzufrieden sind. Beide Tarifsysteme sollen nun aber gleichzeitig 2026 eingeführt werden.

Kosten mindestens drei Jahre limitiert

Ein schwieriges Thema sind die möglichen Mehrkosten. Das Gesetz verlangt Kostenneutralität: Solche Reformen dürfen keinesfalls einen Kostenschub bewirken, was in der Umsetzung immer wieder für heftigen Streit sorgt. Nun haben sich die Akteure auf ein übergreifendes Regelwerk für beide Teile des Tarifs geeinigt, das diese Frage klärt. Das Konzept sieht vor, dass das Kostenwachstum mindestens in den drei ersten Jahren überwacht und notfalls begrenzt wird. Wenn die Ausgaben stärker steigen als zuvor vereinbart, folgen im nächsten Jahr Tarifkürzungen.

Das hat vor allem bei Hausärzten und anderen Grundversorgern Ängste geweckt. Sie befürchteten, dass sie finanziell bestraft werden, wenn nun zum Beispiel die Spitäler für ambulante Eingriffe mit den Pauschalen höhere Preise erzielen können. Jetzt ist das vereinbarte Konzept aber so ausgestaltet, dass die Grundversorger zufrieden sind. Es sieht differenzierte Kostenkontrollen pro Sektor vor. Die maximal zulässige Kostensteigerung liegt bei 1,5 Prozentpunkten pro Jahr. Das wäre gemessen am Anstieg der jüngsten Jahre schon einmal eine Erleichterung für die Prämienzahler.

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