Donnerstag, September 19

Die moderne Arbeitswelt verlangt ein enormes Mass an Selbstkontrolle. Doch wer seine Gefühle zu sehr unterdrückt, verliert auch den Zugang zu wichtigen Informationen.

Vor kurzem hörte ich einem Gespräch über Emotionen zu. Eine junge Frau fragte einen erfahrenen Coach, ob er finde, dass man Emotionen in der Arbeitswelt zeigen sollte. Ich spitzte meine Ohren. Das Thema fasziniert mich schon lange.

Für viele Menschen sind Arbeit und Gefühle zwei Begriffe, die nichts miteinander zu tun haben. «Wo kämen wir denn hin, wenn alle im Büro nur noch weinen würden?», fragen sie plakativ. Dabei gibt es einen grossen Unterschied zwischen ungefilterter Emotionalität und dem bewussten Umgang mit Emotionen.

87 Arten von Gefühlszuständen

Fakt ist: Jeder Mensch hat Gefühle. Die 6 Basisemotionen Wut, Angst, Ekel, Freude, Trauer und Überraschung sind in allen Kulturen präsent. Die Universität Berkeley fand in Studien 27 verschiedene Emotionen, die amerikanische Bestsellerautorin Brené Brown unterscheidet sogar 87. Gefühle haben viele Funktionen, und sie helfen uns auch, Entscheidungen zu treffen. Der portugiesisch-amerikanische Neurowissenschafter Antonio Damasio untersuchte Menschen mit beschädigter Amygdala, dem Gefühlszentrum. Ihnen fielen selbst banale Entscheidungen schwer.

Diese Erkenntnisse stehen im krassen Gegensatz zur kühlen Businesswelt. Dort soll man möglichst rational handeln und Gefühle hübsch beiseitelassen. Was völlig absurd ist, denn ein gewonnener Neukunde macht Freude und stolz, die achte Reorganisation in Folge nervt, und ständige Spannungen im Team können uns verärgern. Wo Menschen sind, da sind auch Emotionen. Doch welche Gefühle dürfen bei der Arbeit wirklich gezeigt werden? Inwieweit werden nur positive Emotionen akzeptiert, bis hin zur zwanghaften Positivität?

Verdrängung hat einen hohen Preis

In einem Workshop mit einer Kantonalbank bat ich die Teilnehmenden aufzuschreiben, welche Emotionen bei ihrer Arbeit erwünscht und welche unerwünscht sind. Die Liste der unerwünschten Emotionen war lang: Sie reichte von A wie Angst bis Z wie Zorn. Der Konsens in der Businesswelt ist, dass solche vermeintlich negativen Gefühle möglichst unterdrückt werden sollten. Denn wer will schon mit einer Truppe voller ängstlicher, gelangweilter und erschöpfter Menschen arbeiten? Oder von einer solchen Truppe bedient werden?

Eben. Also leisten viele Erwerbstätige sogenannte Emotionsarbeit: Im Kontakt mit Kundinnen oder Arbeitskollegen zeigen sie nur die erwünschten Emotionen. Man lächelt den Kunden an, obwohl man verärgert ist. Man macht Smalltalk, obwohl man frustriert ist. So bleibt die professionelle Fassade aufrechterhalten. Dieses Unterdrücken von unerwünschten Gefühlen funktioniert jedoch nur bedingt. «Wenn Emotionen weggeschoben oder ignoriert werden, werden sie stärker», erklärt die Psychologin Susan David in ihrem TED-Talk. Und es gebe sogar einen Zusammenhang zwischen der Verdrängung «negativer» Gefühle und dem Auftreten von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma und Diabetes, so eine Studie der Universität Jena.

Die Empfindung von Neid ist eine wertvolle Information

Doch wie findet man den Mittelweg zwischen der emotionalen Hemmungslosigkeit von Kleinkindern und dem Totschweigen von jeglicher Emotion? Zum einen ist es wichtig, ein Gefühlsvokabular aufzubauen. Die meisten Menschen hätten nämlich bloss die drei Gefühle glücklich, traurig und wütend in ihrem Wortschatz, so Studien von Brené Brown. Wer seine Gefühle richtig benennen kann, verarbeitet sie schneller. Ausserdem sollte man Emotionen als Informationsquelle nutzen, aber nicht direkt als Handlungsanweisungen.

Neid kann die wertvolle Information enthalten, dass ich das auch möchte, was eine Arbeitskollegin kann. Das bedeutet nicht, dass ich ihr böse sein muss, sondern dass ich mir überlegen soll, wie ich mir diese Fähigkeit aneigne. Wut über eine Entscheidung kann die Botschaft enthalten, dass meine Werte nicht beachtet wurden. Das könnte eine Reflexion über die Passung der eigenen Werte mit dem Unternehmen anstossen, statt dass man sich von der Wut übermannen lässt.

Am allerwichtigsten ist jedoch, Gefässe für den Austausch über Emotionen zu schaffen. «Unternehmenskulturen, die Mitarbeitenden den Raum geben, ihre Emotionen und Erfahrungen offen zu teilen – sowohl die positiven als auch die negativen –, sorgen für mehr Produktivität und eine höhere Mitarbeitendenbindung», schreibt die Autorin Magdalena Rogl. Wie vielversprechend in Zeiten von Fachkräftemangel.

Die eingangs erwähnte junge Frau und der Coach kamen in ihrem Gespräch zu dem Schluss, dass Gefühle im Arbeitskontext durchaus ihren Platz haben, je nach Kontext und der Intensität der ausgedrückten Emotionen. Wie so oft ist das richtige Mass entscheidend.

Nicole Kopp ist Arbeits- und Organisationspsychologin und Mitgründerin der Beratungsfirma GoBeyond.

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