Jahrzehntelang verdiente Volkswagen in China einen Grossteil seiner Unternehmensgewinne. Dann drängten chinesische E-Auto-Hersteller die Deutschen immer weiter ins Abseits – ein Grund, warum der gesamte Konzern in der Krise steckt.
Als wäre bei Volkswagen nicht schon alles schlimm genug, hat der Konzern nun auch noch einen seiner wichtigsten Manager in China verloren – wegen Drogenmissbrauchs.
Mitte Oktober nahmen Chinas Strafverfolger Jochen Sengpiehl fest. Mithilfe eines Drogentests hatten die Behördenvertreter in Sengpiehls Blut Spuren von Marihuana und Kokain nachgewiesen.
Der Manager, der bei VW in China das Marketing und die Abteilung für Produktstrategie leitet, war von Ferien in Thailand nach China zurückgekehrt. In Thailand ist der Konsum von Marihuana seit 2022 erlaubt, der Kokainkonsum allerdings illegal. Nachdem Sengpiehl zehn Tage in Haft gesessen hatte, erreichte VW mit Unterstützung der deutschen Botschaft in Peking schliesslich, dass Sengpiehl nach Deutschland ausreisen durfte.
VW kämpft an vielen Fronten
VW kämpft in China zurzeit an vielen Fronten. Nachdem für den Konzern die Umsatz- und Gewinn-Kurven in China jahrzehntelang steil nach oben gezeigt haben, geht es seit einigen Jahren mit Tempo bergab. Denn Chinas E-Auto-Hersteller sind dabei, VW die Luft abzuschnüren.
Gleichzeitig müssen sich die Deutschen gegen Vorwürfe wehren, in ihrem Werk in der Uiguren-Provinz Xinjiang Zwangsarbeiter zu beschäftigen. Ein von VW in Auftrag gegebenes Gutachten sollte den Konzern eigentlich entlasten. Doch dann stellte sich heraus, dass die Untersuchung mit fragwürdigen Methoden erstellt worden war.
Und weil die Konzernspitze in Wolfsburg ein weltweites Sparprogramm auf den Weg gebracht hat, müssen jetzt auch die Manager in China jeden Stein umdrehen: Dienstreisen, Ausflüge, Betriebsfeste – alles kommt auf den Prüfstand.
Vier Jahrzehnte nach der Gründung seines ersten Joint Ventures im Reich der Mitte, das den Anfang einer beispiellosen Erfolgsgeschichte markierte, kämpft Volkswagen in seinem wichtigsten Markt ums Überleben.
«Diese staubige Bruchbude»
Dabei war schon der Anfang alles andere als einfach. Martin Posth stockte der Atem, als er im November 1984 zum ersten Mal nach Schanghai reiste und die Automobilfabrik in Augenschein nahm, in der Volkswagen fortan mit einem chinesischen Partner Autos bauen wollte. «Diese staubige Bruchbude soll eine Autofabrik sein», dachte sich der Deutsche, wie er später in seinen Memoiren schrieb. In dieser «Bruchbude» hatte der chinesische Staat zuvor Traktoren gebaut.
«Die Fenster waren undicht, die sandige, unbefestigte Strasse führte mitten durch das Fabrikgelände, und drinnen war es nicht nur ebenso feucht, sondern ebenso kalt wie draussen», schreibt Posth. Er war Manager bei der VW-Tochter Audi in Ingolstadt, bis er von der Wolfsburger Konzernspitze auserwählt wurde, das deutsch-chinesische Gemeinschaftsunternehmen gross zu machen.
Es war Zufall, dass die Stadt Schanghai VW als Joint-Venture-Partner wählte. Im Jahr 1978, China hatte sich gerade ins Reformzeitalter aufgemacht, reiste der damalige Minister für Maschinenbau, Zhou Ziqian, nach Deutschland. Chinas Regierung hatte beschlossen, eine eigene Automobilindustrie aufzubauen. Helfen sollte dabei Daimler-Benz.
«Da die Chinesen den Rest der Welt nur in Ausschnitten erlebt hatten, kannten sie nur wenige Autohersteller, unter den deutschen allein Daimler-Benz in Stuttgart», schreibt Posth.
Als Zhou und seine Delegation in Deutschland angekommen waren, sahen sie auf den Strassen allerdings vor allem VW Käfer und Golf. Chinas Minister für Maschinenbau überlegte kurz und dirigierte seine Delegation nach einem Kurzbesuch bei Daimler-Benz nach Wolfsburg.
Dort staunten die Pförtner nicht schlecht über die in blaue Mao-Jacken gekleideten Chinesen. Nach längeren Diskussionen und einigen Telefonaten wurden Zhou und seine Begleiter schliesslich zum Vertriebsvorstand vorgelassen.
Es folgten lange, teilweise zähe Verhandlungen, doch 1985 begannen Volkswagen und die Shanghai Automotive Industry Corporation (SAIC) in der früheren Traktorenfabrik am Rande von Schanghai schliesslich mit der Serienfertigung von VW-Fahrzeugen.
Hohe Präsenz von VW auf Chinas Strassen
Der VW Santana war das erste Fahrzeug, das in Schanghai produziert wurde. Mit seinem kantigen Design war es in Europa praktisch unverkäuflich. Doch in China fand das eher langweilig aussehende Fahrzeug begeisterte Abnehmer, vermutlich auch, weil es das erste ausländische Auto auf Chinas Strassen war. Bis zur Einstellung der Produktion 2012 verkauften die Deutschen in China sechs Millionen Santanas.
In den Jahren nach der Markteinführung des Santanas nahm Volkswagens Erfolg so richtig Fahrt auf. Mit neuen Modellen wie Magotan, Sagitar oder Lavida, die teilweise eigens für den chinesischen Markt entwickelt wurden, eroberten die Deutschen immer grössere Marktanteile. Im Jahr 2003 stammte fast jedes dritte in China verkaufte Auto aus einer VW-Fertigung. Kein anderer Hersteller war grösser als der Konzern aus Wolfsburg. Die China-Aktivitäten der Wolfsburger steuerten zeitweise die Hälfte zum Konzerngewinn bei.
Und der Konzern investierte Milliardensummen in die Expansion. So gründete die VW-Tochter Audi im Jahr 1991 ein Joint Venture mit dem Staatsunternehmen First Automotive Works (FAW) aus Changchun im Norden Chinas. FAW untersteht der Zentralregierung in Peking.
VW und seine chinesischen Partner bauten in den Folgejahren immer neue Fabriken, unter anderem in der Uiguren-Provinz Xinjiang im Nordwesten des Landes. Heute betreibt Volkswagen im Reich der Mitte 39 Werke und beschäftigt rund 90 000 Mitarbeiter. Die Kapazitäten reichen, um jedes Jahr sechs Millionen Autos zu bauen.
Mit dem Charterflugzeug nach Hongkong
In den frühen 2000er Jahren ging es bei Volkswagen in China glamourös zu. Als die Konzerntochter Audi 2011 etwa das SUV Q3 in China an den Start schickte, reiste eigens der damalige Audi-Chef Rupert Stadler ins Reich der Mitte. Im Audi-Werk in Changchun empfing der Manager eine grosse Gruppe Journalisten.
Nach einer Führung durch die Fabrik ging es mit einem gecharterten Airbus 320 nach Hongkong. Dort lud Audi zu einer grossen Sause in einem der besten Hotels der Stadt, inklusive Cohiba-Zigarren und teuren Cognacs. Am darauffolgenden Tag liess das Unternehmen die Besucher über die chinesische Grenze nach Shenzhen chauffieren.
Dort übernahm jeder der Mitgereisten einen Audi Q3. In einer Art Rally fuhren sie die Geländewagen in den mehr als 500 Kilometer entfernten Touristenort Yangshuo. Dort fand der Audi-Event mit einer pompösen Party in einem Resort seinen Abschluss.
Heute sind solche protzigen PR-Aktionen unvorstellbar. Vielmehr stemmt sich VW in China gegen das Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit und muss sparen. Der Marktanteil des Unternehmens beträgt derzeit 14,5 Prozent und hat sich seit 2013 mehr als halbiert.
Auch das Finanzergebnis der China-Aktivitäten hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Betrugen die China-Gewinne 2016 noch 4,4 Milliarden Euro, dürfte Volkswagen China in diesem Jahr nur noch rund 1,5 Milliarden Euro nach Wolfsburg überweisen.
Zu möglichen Fabrikschliessungen im Rahmen des aktuellen Sparprogramms sagt ein Sprecher der Volkswagen Group China lediglich: «Alle Fabriken arbeiten entsprechend den Marktanforderungen und unseren Prognosen.» Heisst wohl: Stilllegungen sind nicht ausgeschlossen. Sonst könnte es schwierig werden, bis 2027 das anteilige operative Ergebnis in China wieder auf mehr als zwei Milliarden Euro zu steigern. Denn das sei das Ziel, so der Sprecher.
Chinesische Hersteller dominieren das Geschäft
Die chinesischen Hersteller haben hingegen in atemberaubendem Tempo aufgeholt. Sie erreichen heute einen Marktanteil von 50 Prozent. Bis 2030 werde dieser auf 70 Prozent steigen, prognostiziert Ron Zheng, Automobilexperte bei Roland Berger in Schanghai. Ausländische Anbieter wie Volkswagen, General Motors und Nissan könnten mittelfristig vom chinesischen Markt verschwinden.
Das Fatale: Im rasch wachsenden Segment der Elektroautos haben die Ausländer den Chinesen kaum etwas entgegenzusetzen. Im August hatten 60 Prozent der in China neu zugelassenen Autos einen Elektroantrieb. Jedes vierte Fahrzeug, das auf chinesischen Strassen fährt, ist inzwischen ein Stromer, Tendenz steigend.
Und die chinesischen Hersteller dominieren das Geschäft. So kam der Platzhirsch BYD bei E-Autos im Juni auf einen Marktanteil von 32 Prozent. VW bringt es nur auf schlappe 5 Prozent. Rechnet man noch die Plug-in-Hybridfahrzeuge mit ein, beträgt der Anteil der Wolfsburger sogar nur 2 Prozent.
Ein Grund für das Abrutschen auf einen Abstiegsplatz ist sicherlich, dass VW in China zu lange auf den Verbrennermotor gesetzt hat. Schliesslich sprudelten die Gewinne, das machte den Konzern träge. Gleichzeitig erkannten die Deutschen zu spät, was sich bei den chinesischen Herstellern tat. Jahrelang belächelten die Deutschen die aufstrebenden Unternehmen aus dem Reich der Mitte.
«Wir setzen auf Clean Diesel»
Winfried Vahland, bis 2010 Chef der Volkswagen Group China, lud in Peking regelmässig zu Gesprächen über die Strategie des Unternehmens. Gefragt, was VW zum Thema Elektromobilität plane, antwortete Vahland im Brustton der Überzeugung: «Wir setzen auf Clean Diesel», und meinte damit die neuen Dieselmotoren, die der Konzern entwickelt hatte.
Fünf Jahre später wurde bekannt, dass VW bei seinen Dieselfahrzeugen eine illegale Abschalteinrichtung eingebaut hatte, so dass bei Tests bessere Abgaswerte als im Normalbetrieb ausgewiesen wurden. Der Dieselskandal kostete unter anderem den Audi-Chef Stadler seinen Job. Im vergangenen Jahr verurteilte das Landgericht München den Manager zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten.
Es gibt viele Gründe für die Probleme, vor denen VW jetzt steht. So wurden etwa die China-Aktivitäten bis vor kurzem sehr stark aus der Konzernzentrale gelenkt. «Man hat in Wolfsburg Autos für die Welt entwickelt», sagt Ferdinand Dudenhöffer, Leiter des Car-Institute in Bochum, «das passt heute überhaupt nicht mehr.»
Zudem haben sich die Bedürfnisse und Anforderungen der chinesischen Kunden geändert. E-Autos sind heute gefragter als Verbrenner, auch weil die chinesische Regierung die Umweltprobleme anging. Bei VW realisierte man dies erst sehr spät.
Erschwerend kam hinzu, dass die Entwickler in Deutschland allesamt aus der Verbrenner-Tradition kamen. Als sie sich vor einigen Jahren an die Entwicklung von Elektrofahrzeugen machten, bauten sie Autos, die zwar batteriebetrieben waren, merken sollte das aber niemand.
Anders als Volkswagen sind chinesische Hersteller wie Xiaopeng, Nio, aber auch BYD vielmehr Technologiefirmen und weniger Autoproduzenten nach westlichem Verständnis. Damit lassen sich viel schneller Autos für die Tech-affinen Chinesen entwickeln.
Herbert Diess, bis vor gut zwei Jahren CEO bei VW, hatte dies schon richtig erkannt und gründete darum die Softwaretochter Cariad. Die Firma hob allerdings nie richtig ab, auch weil Deutschland schlicht die Softwareentwickler fehlen.
Startups kooperieren mit Autoherstellern
China hat dagegen zahllose Tech-Konzerne und Startups. Viele von ihnen kooperieren mit heimischen Autokonzernen. Baidu, einst lediglich eine chinesische Suchmaschine für das Internet und heute ein erfolgreicher Tech-Gigant, stattet chinesische Autohersteller mit Anwendungen für autonomes Fahren aus. Chery, ein chinesisches Traditionsunternehmen, arbeitet mit Huawei zusammen.
«Chery baut die Autos, Huawei liefert die Intelligenz», sagt Dudenhöffer und fügt hinzu: «Das Auto ist nicht mehr die Dominanz des Autobauers, auch weil die reine Mechanik langweiliger wird.»
Immerhin, VW hat seine Schwächen in den vergangenen zwei Jahren schonungslos analysiert und reagiert. Seit 2022 leitet Ralf Brandstätter die China-Aktivitäten des Unternehmens. Anders als sein Vorgänger Stephan Wöllenstein sitzt Brandstätter auch im Konzernvorstand – mit Blick auf die Bedeutung des chinesischen Marktes ein richtiger Entscheid.
Unter Wöllensteins Führung fielen die China-Gewinne von 4,5 auf 3 Milliarden Euro. Das Geschäft war immer noch zu Deutschland-zentriert. Doch der damalige CEO Herbert Diess wollte es so. Diess erklärte seinerzeit, er werde die China-Aktivitäten aus Wolfsburg steuern, was er in Wirklichkeit selten tat. Volkswagen China war teilweise führungslos.
If you can’t beat them, join them
Diess’ Nachfolger Oliver Blume versucht nun, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Nicht nur, indem er den CEO Brandstätter auch zum Konzernvorstand machte, sondern auch indem er sich bei den Aktivitäten an den chinesischen Vorbildern orientiert. Dazu gehören Kooperationen, ein stärkerer Fokus auf Technologie und eine komplett in China angesiedelte Forschung und Entwicklung.
Die Devise unter Blume lautet: If you can’t beat them, join them. So hat sich VW bei dem chinesischen E-Auto-Startup Xiaopeng mit knapp 5 Prozent eingekauft. In Zukunft könnten die Deutschen ihren Anteil weiter aufstocken. Zusammen mit Xiaopeng will Volkswagen bis 2026 zwei reine Elektroautos auf den Markt bringen.
Und VW treibt die Lokalisierung des Geschäfts voran. Am besten lässt sich dies in Hefei, der Hauptstadt der Provinz Anhui im Osten Chinas, besichtigen. Dort baut der Konzern ein Entwicklungszentrum sowie eine neue Fertigungsanlage. Für den Bau haben die Wolfsburger satte 3,5 Milliarden Euro an Investitionen vorgesehen.
30 Modelle bis 2030
2026 sollen in Hefei vier von den dortigen Entwicklern konzipierte Elektromodelle vom Band rollen. Bereits Ende dieses Jahres beginnt die VW-Tochter Audi in Changchun mit der Fertigung des E-SUV Audi Q6L e-tron, eines bei den preissensitiven Chinesen allerdings wohl schwer verkäuflichen Modells. Im Jahr 2030 will der Volkswagen-Konzern in China 30 batteriebetriebene Autos anbieten.
Die Produktoffensive ist nötig, denn die Elektrofahrzeuge, die VW zurzeit in China anbietet, fristen ein Nischendasein. Modelle wie der ID.3 oder der ID.7 sind kaum auf den Strassen zu sehen. Die Fahrzeuge gehen am chinesischen Geschmack vorbei, haben aber offenbar auch technische Mängel.
Die Sprachsteuerung funktioniere nur zeitversetzt oder gar nicht, sagt eine junge Chinesin, die kürzlich einen ID.7 getestet hat. Einmal hätten sich nach einem Befehl nicht wie gewünscht die Scheinwerfer eingeschaltet, sondern die Fenster gesenkt. Peinlich für einen global agierenden Konzern.
VWs neue Strategie könnte sich auszahlen
Experten wie Dudenhöffer glauben, dass sich die Lokalisierungsstrategie von Volkswagen am Ende auszahlen könnte: «VW hat die Chance, wieder aufzuholen, aber sie müssen noch durch ein Tal gehen.»
Dass die nächsten Jahre nicht einfach werden, weiss man auch bei VW. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass der Strategie-Schwenk sehr spät kommt. Die chinesische Konkurrenz, die aufgrund der vertikal integrierten Lieferketten über Rohstoffe bis zu Batterien immer neue preisgünstige Modelle auf den Markt bringen kann, treibt die Deutschen vor sich her.
Die jetzt vor allem von Hefei aus gesteuerte Offensive ist daher wohl VWs letzte Chance, langfristig auf dem chinesischen Markt zu bestehen. Dudenhöffer sagt: «Volkswagen hat noch einen Schuss frei.» Damit der sitzt, muss sich VW den Chinesen noch viel mehr als in der Vergangenheit in die Arme werfen.