Sonntag, September 29

Das Binnenklima sei «fantastico», sagt der Nationalmannschafts-Direktor Pierluigi Tami. Doch es gilt, den Samstag abzuwarten, wenn der EM-Achtelfinal gegen Italien stattfindet. Geister sind flüchtige Wesen.

Blattwerk, Föhre, Buchsbaum: Hinter den hohen Zäunen rund um die grossräumige Hotelanlage der Schweizer Fussballer scheint seit zweieinhalb Wochen etwas heranzuwachsen, das dereinst im goldenen Buch der Schweizer Fussball-Historie einen besonderen Eintrag bekommen könnte: «Der Geist von der Waldau» würde der Arbeitstitel lauten.

Die Fussballgeschichte kennt ja einige dieser Geister, einer von ihnen soll im Juni 1954 in Spiez herumgepoltert und Deutschland beim «Wunder von Bern» zum Weltmeister gemacht haben. Oder «Der Geist von Campo Bahia»: Dieser soll unweit des brasilianischen Küstenorts Santo André die Deutschen und ihren damaligen Bundestrainer Joachim Löw in jenen verzauberten Zustand versetzt haben, der zum WM-Titel 2014 führte. Hat «Der Geist von der Waldau» am Ende Ähnliches mit den Schweizern vor?

Keine bakterien- und virenschleudernden Klimaanlagen – dafür gutes Birchermüesli

Zum Wesen solcher Fussballgeister gehört, dass sie im Geheimen wirken. Deshalb erhält niemand Zutritt ins «Waldhotel» im Stuttgarter Aussenbezirk Waldau, wo die Schweizer Fussballer mit ihren Betreuern leben. «Sorry, kein Eintritt für Unbefugte», so heisst es vom Wachmann, wenn man sich auf die Pirsch macht, um zwischen Blattwerk, Föhre, Buchsbaum und Schutzzaun einen Blick zu erhaschen auf Golfanlage, Tennis-Court, Schwitzhütte, Pool und vieles mehr. Was eben so zur üblichen Mehr-Sterne-Ausstattung gehört. Was hilft’s, Geister sind ohnehin unsichtbar.

Endlich ist die Schweizer Nati da!

Manchmal aber dringt doch etwas in die Aussenwelt, das Indizien dafür liefert, wie der geheimnisvolle Geist das Team zusammenschweissen und beflügeln könnte. Zum Beispiel in Gestalt einer kleinen Schüssel Birchermüesli. Pascal Zuberbühler, Schweizer Goalie-Legende, degustierte unlängst für einen Bezahlsender ein paar Löffel und sagte nach der Probeverkostung statt «phantastisch» ganz einfach: «Weltklasse!»

Emil Bolli, auf seiner letzten Mission als Nationalmannschafts-Koch, ist zuständig für die akkurate Verpflegung im «Waldhotel». Zuberbühlers «Weltklasse»-Reaktion ist als Hinweis darauf zu deuten, dass es zumindest kulinarisch im Schweizer Camp keine Hindernisse geben dürfte, damit «Der Geist von der Waldau» seine Wirkung entfaltet.

Diesen guten Geist beschwor der Nationalmannschafts-Direktor Pierluigi Tami am Montag nach der Achtelfinalqualifikation fast schon euphorisch. «Die Atmosphäre, der Teamgeist, das Zusammenleben», das alles sei «fantastico». Er berichtete vom schönen Fest mit den Spielern und ihren Familien am Vorabend und erläuterte, wie gut es allen gehe im Hotel. Auch die Gefahr, dass jemand krank werde wie die halbe Mannschaft vor dem Achtelfinal an der letzten WM, sei gebannt. Zum einen wegen der engeren medizinischen Überwachung der Spieler, zum anderen, weil es im «Waldhotel», anders als in der heissen Wüste von Katar, keine bakterien- und virenschleudernden Klimaanlagen gibt.

«Wir unterschätzen Italien nicht», sagt Fabian Rieder

In schöner Regelmässigkeit lassen auch Spieler durchblicken, was der Hotel-Geist so alles bewirken kann, ein Auserwählter pedalt jeweils per Velo hinüber ins Trainingsstadion zu den Medienterminen. Am Dienstag war es Fabian Rieder, der von seiner Befindlichkeit zwischen «glücklich» und «überglücklich» berichtete. Der 22-Jährige hatte am Vortag einen Leihvertrag im VfB Stuttgart unterschrieben, im Match gegen Deutschland zum zweiten Mal im Nationalteam von Anfang an gross aufgespielt, nun steht er vor dem zweiten Achtelfinal seiner Karriere.

«Wir unterschätzen Italien nicht», sagte Rieder. Der Geist, der da im Team-Hotel wirkt, könnte also das Selbstbewusstsein beeinflussen. Aber das ist nur eine Vermutung. Vielleicht ist Rieder einfach zu jung, um wie die routinierteren Nationalspieler zu wissen, dass man Estland, Gibraltar oder Andorra «nicht unterschätzt». Vor Italien hat man «Respekt, aber keine Angst»; wie vor Spanien, Frankreich oder Brasilien.

Auch dem Altvorderen Ricardo Rodriguez war es vergönnt, Einblicke zu gewähren, wie es sich denn so lebt im Geiste von gutem Zusammensein und Austausch. «Die Jungen können einfach nicht mehr aufhören», sagte Rodriguez über das Ausüben verschiedener Karten- und Brettspiele seiner Teamgefährten, deshalb spiele er nicht so oft mit, er müsse dann «etwas anderes» machen. Auch das: ein Zeichen für den guten Geist, wenn sich jeder auch einmal Raum nehmen kann für Privates oder fürs Alleinsein. Wie schön!

So ergibt sich ein Gesamtbild, in dem sich «Der Geist von der Waldau» dereinst vielleicht tatsächlich in den Rang einer Überschrift im goldenen Buch des Schweizer Fussballs aufschwingt. Doch es gilt, den Samstag abzuwarten. Geister sind flüchtige Wesen.

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