Schlafstörungen sind längst eine Volkskrankheit und ähnlich verbreitet wie Bluthochdruck. Neue Forschung zeigt: Wir können beeinflussen, ob wir ruhelos bleiben oder schnell schlummern.
Müdigkeit kann tödlich sein. Jeder vierte Busfahrer schläft mindestens einmal pro Jahr am Steuer ein. Auch jeder vierte tödliche Unfall ist eine Folge von zu wenig Schlaf. Tipps zum Wachwerden, wie Fenster öffnen oder Musik hören, wirken höchstens als Placebo. Das Einzige, was wirklich hilft: genug Schlaf. Und das ist für immer mehr Menschen ein Problem. Schlafstörungen sind längst eine Volkskrankheit, an der ähnlich viele leiden wie an Bluthochdruck – ein Viertel der Weltbevölkerung.
Schlafmangel stresst den Körper. Das führt oft zu Entzündungen an der Innenschicht der Blutgefässe, Arterienverkalkung, Herzinfarkten und Schlaganfällen. Andauernd schlecht zu schlafen, raubt uns Hirnsubstanz, schädigt unsere Fähigkeit für komplexes Denken und begünstigt Nervenkrankheiten wie Morbus Parkinson oder Alzheimer. Auch die Psyche ist auf guten Schlaf angewiesen: Wer schlecht schläft, entwickelt deutlich häufiger Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken.
Und die Folgen von Schlafmangel sind teuer: Bis zu 10 Milliarden Franken Wirtschaftsleistung entgehen der Schweiz jedes Jahr wegen Müdigkeit am Arbeitsplatz, im Nachbarland Deutschland sind es bis zu 30 Milliarden Euro. Und doch sind wir der nächtlichen Unruhe nicht hilflos ausgeliefert. Forschungsergebnisse zeigen: Wir können einen schnellen Schlummer zwar nicht erzwingen, ihn aber sehr wohl wahrscheinlicher machen.
Für guten Schlaf ist es nötig, kurz aufzuwachen
Aus Sicht der Medizin ist guter Schlaf nicht in Stunden zählbar. Wichtig ist, wie gut er seine Grundaufgaben erfüllt: Waschen, Schneiden, Legen.
Waschen: Im Schlaf vergrössern sich im Hirn die Räume zwischen den Nervenzellen. Wasser wird aus den Arterien herausgedrückt und zu den Venen gespült, dort fliesst es ab. Das ist wichtig für den Abtransport von Proteinresten. Bleiben diese liegen, steigt das Risiko neurologischer Krankheiten.
Schneiden: Im Schlaf werden auch nahezu alle Synapsen kleiner, viele werden sogar ganz abgebaut, Schlafforscher sprechen von «weggeschnitten». Das Gehirn schafft so Platz, um neue Informationen zu speichern. Ein wenig ist das wie ein Obstbaumschnitt im Frühjahr: Damit der Baum voll tragen kann, wird er zurückgestutzt. Schlafen wir lange schlecht, sind wir wenig offen für neue Perspektiven, und so steigt die Tendenz, dass die Gedanken immer um das Gleiche kreisen. Das steigert das Risiko von psychiatrischen Erkrankungen, vor allem Depressionen.
Legen: Während des Schlafs verarbeitet das Gehirn Erinnerungen und legt sie ab. Wie ein Bibliothekar seine Bücher, so sortiert unser Hirn jedes Erlebnis und jede daraus gewonnene Erkenntnis an den richtigen Platz unserer Erinnerungsbibliothek. Diese Verarbeitung von Erlebtem findet während kurzer Wachmomente im Schlaf statt. In einer einzigen Nacht kann ein Mensch mehr als hundert Mal aufwachen, und alles ist normal. Manche Forscher sagen gar: Erst dann war der Schlaf richtig gut.
Diese Wachmomente unseres Gehirns sind so extrem kurz, dass unser Bewusstsein meist weiterschlummert. Wir können dieses kurze Aufwachen also gar nicht bemerken.
Ausgelöst werden die Wachmomente vom Botenstoff Noradrenalin. Während der erholsamen Schlafphase fluten Wellen von Noradrenalin durch unser Gehirn – und jede Welle weckt unser Gehirn kurz auf. Normalerweise ist Noradrenalin vor allem aktiv, wenn wir uns in Gefahr glauben. Es hilft, unseren Blutzuckerspiegel zu erhöhen, damit wir genug Energie für eine Überlebensreaktion haben: Kampf oder Flucht.
Nun müssen wir, während wir schlafen, aber weder rennen noch kämpfen. Im Gegenteil, im Schlaf ist der Körper gelähmt – sonst würden wir unsere Träume in Bewegungen übersetzen, also beim Traum eines Fussballspiels tatsächlich kicken.
Noradrenalin beeinflusst neben der Energieversorgung aber noch einen wichtigen Prozess: das Verarbeiten und Ablegen neuer Erinnerungen.
Guter Schlaf: Medikamente sind eine schlechte Hilfe
Der Unterschied zwischen gutem und schlechtem Schlaf lässt sich nicht in der Zahl der wachen Momente messen und auch nicht an den Dämmerstunden im Bett festmachen. Für eine Diagnose entscheidend ist der Leidensdruck. Die ICD-11, die WHO-Klassifikationsliste für Krankheiten, spricht ab drei Monaten mit schlechtem Schlafempfinden von einer Schlafstörung.
«In der Praxis ist das aber weitgehend irrelevant. Die allermeisten Patienten kommen erst zu uns, wenn sie schon ein Jahr, oft mehrere Jahre mit ihrem Schlaf kämpfen», sagt der Albrecht Vorster. Er ist stellvertretender Sprecher des wissenschaftlichen Komitees der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin und leitet das Sleep House des Inselspitals Bern. «Viele sagen uns, sie hätten es lange mit Schlafmitteln probiert.»
Jeder vierte Deutsche nimmt ärztlich verschriebene Schlafmedikamente. Das Dunkelheitshormon Melatonin hilft gegen Schlafprobleme nach einem Jetlag. Allergiemedikamente, vor allem Antihistaminika der ersten Generation wie Diphenhydramin, helfen bei Einschlafproblemen, weil sie bestimmte Bindungsstellen im Gehirn besetzen und unserem Körper so Müdigkeit vermitteln.
Wenn ein Mediziner weiss, welches Mittel wann verschrieben werden muss, kann er im Sinne des Patienten zu Medikamenten raten. Aber das gesamte Medizinstudium plant mit nur einer Themenstunde zum Schlafen. Von mehr als 40 Facharzttiteln, die es in der Schweiz und Deutschland gibt, widmet sich keiner unserem Schlaf.
«Mit Schlafmedizin lässt sich leider kein grosses Geld verdienen», sagt Schlafforscher Vorster. «Zur Diagnostik brauchen wir vor allem Gespräche und Schlafprotokolle. Gute Schlafmedizin ist sprechende Medizin und eigentlich günstig.»
Es gibt mehr als zwanzig verschiedene Schlafstörungen, und die wenigsten lassen sich mit Schlafmitteln behandeln. «Medikamente zu verschreiben, hilft vielen Patienten langfristig nicht», sagt Vorster. «Es besteht kein Stoffungleichgewicht im Gehirn, das dauerhaft durch Medikamente ausgeglichen werden muss.»
Schlafkrankheiten sind «ein medizinischer Blockbuster»
Die drei wichtigsten Schlafkrankheiten sind Schlafapnoe, Insomnie und das Restless-Legs-Syndrom. Viele leiden an verschiedenen Schlafstörungen zeitgleich.
Der häufigste Auslöser von Schlafproblemen: Schlafapnoe. Etwa jeder fünfte Deutsche wacht auf, weil sein Atem kurz aussetzt oder er eigene Atemgeräusche hört, wie etwa Schnarchen. Die Zahlen für die Schweiz sind wohl ähnlich, schwanken je nach Studie aber stark; weltweit betroffen sind etwa eine Milliarde Menschen.
Atemgeräusche wie Schnarchen hören auf, sobald wir aufwachen. Daher glauben viele, sie hätten Insomnie. Von einer Insomnie sprechen Mediziner aber nur, wenn sie bei ihren Patienten ein anhaltendes Problem damit beobachten, gut ein- und durchzuschlafen, oder sie regelmässig viel zu früh aufwachen und dann nicht mehr einschlafen können. Echte Insomnie betrifft jeden Siebzehnten.
Ähnlich verbreitet wie Insomnie ist das Restless-Legs-Syndrom, ein Ziehen und Brennen in den Beinen, eine Unruhe. Stehen Betroffene auf, verschwindet das Gefühl. Dann legen sie sich wieder hin, und kurze Zeit später kommt das Gefühl zurück – und hält wach oder weckt erneut auf.
Jeder Siebzehnte, das klingt im ersten Moment vielleicht nach wenig. Aber das Restless-Legs-Syndrom ist die zweithäufigste neurologische Erkrankung, nur übertroffen von Migräne. «Ein medizinischer Blockbuster», sagt Vorster. «Viel häufiger als Diabetes. Diabetes kennt jeder. Aber nicht einmal die Hälfte der Patienten, die mit Restless Legs zu uns kommen, kennt ihre Erkrankung.»
Die Schlafapnoe lässt sich durch eine Operation oder mit speziellen Atemmasken heilen. Das Restless-Legs-Syndrom ist eine der wenigen Schlafkrankheiten, gegen die Medikamente helfen. Bei der Insomnie gilt: Gut schlafen lässt sich durch Routinen einüben.
Warum Spaziergänge helfen, besser zu schlafen
Es gibt Frühtypen, die um 21 Uhr ins Bett gehen, und Spättypen, die erst gegen 3 oder 4 Uhr morgens schläfrig werden. Der optimale Zeitpunkt des Schlafens ist individuell – und angeboren. An der Volksweisheit, Schlaf vor null Uhr sei der wichtigste, ist also nichts dran.
Etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind Normtypen: Ihre optimale Zubettgehzeit liegt zwischen 22 und 1 Uhr. Wer protokolliert, wann er müde wird, kann herausfinden, wann er ins Bett gehen sollte – und diese Zeit zur Routine machen, die ihn erholt.
Für die optimale Schlafmenge gilt: Sie ist individuell. Mit unter fünf Stunden kommt kaum jemand aus, mehr als elf Stunden braucht eigentlich niemand. Alles dazwischen gilt als normal. Schlafmediziner empfehlen, während der Ferien ohne Wecker zu schlafen und die eigene Schlafdauer zu protokollieren. Der Mittelwert über zwei Wochen entspricht der individuell gesunden Menge an Schlaf.
Einer der grössten Faktoren für guten Schlaf bleibt das Licht – Menschen sind Augentiere: Während wir im Schlaf nichts riechen können, werden unsere Augen zu Sensibelchen. Die lichtempfindlichen Ganglienzellen in unserem Auge sind direkt mit dem Hirn verknüpft und senden dorthin Informationen über die Intensität und Farbe des Lichts. Viel Licht, vor allem kurzwelliges blaues, gleicht dem Befehl: Aufstehen! Funktionieren! Wer die Abendstunden vor blauem Bildschirmlicht verbringt, schläft schlechter. Bestenfalls vergehen zwei Stunden zwischen unserer letzten Bildschirmzeit und dem Zubettgehen.
Für die allermeisten Menschen gilt: Auch nachts muss es dunkel sein. Strassenlaternen, die durchs Fenster scheinen, stören fast jeden. Für viele sind aber auch schon Lämpchen an Verteilerboxen, Ladegeräten oder Bildschirmen ein Problem. «Wenn bei mir Besuch kommt, darf der auf der Schlafcouch übernachten. Dann achte ich darauf, dass wirklich jedes Lämpchen ausgeschaltet ist», erzählt Daniel Eckmann, Psychologe an der Leibniz-Universität Hannover. «Für guten Schlaf kann ich mich nicht entscheiden. Aber ich kann meine Umgebung beeinflussen.»
Wer im Büro arbeitet, für den beginnt das Lichtproblem schon früher: Jeder Mensch besitzt eine innere Uhr, die uns normalerweise zur richtigen Zeit müde und wach werden lässt. Diese Uhr stellt sich nach dem Licht. Halten wir uns vor allem drinnen auf, fehlt dieser Uhr der Kontrast zwischen dem hellen Morgen und dem Dämmern der Nacht.
Draussen erreicht uns die Sonne selbst an einem trüben Wolkentag mit einer Lichtstärke von etwa 6000 Lux. Selbst gut ausgeleuchtete Innenräume mit Fenstern erreichen hingegen selten eine Beleuchtungsstärke von mehr als 500 Lux. Sogar direkt vorm Computerbildschirm ist es kaum besser. In typischer Schreibtischhaltung beleuchtet ein moderner Standardmonitor unser Gesicht mit etwa 800 Lux.
Zu zwei konkreten Tageszeiten wäre es für einen guten Schlaf wichtig, einen Ausflug nach draussen zur Routine zu machen: am frühen Vormittag und am dämmernden Abend. Unsere Biologie ist konservativ; sie richtet ihre Prozesse auch im 21. Jahrhundert noch nach dem Aufgehen und Untergehen der Sonne.
Guter oder schlechter Schlaf, das lässt sich beeinflussen
«Guter Schlaf ist nicht einfach nur eine Entscheidung», sagt Eckmann. «Aber ich kann trainieren, ihn wahrscheinlicher zu machen.» Sich selbst zu befragen, helfe herauszufinden, was man verändern könne.
Welche Bedingungen brauche ich, um Ruhe zu finden? Wie oft schaue ich aus dem Bett auf die Uhr? Wie bin ich tagsüber mit mir selbst umgegangen? Schlafgesetze, die immer und für jeden passen, gibt es nicht. Fast alle Erkenntnisse der Wissenschaft sind eher Faustregeln.
«Darüber sind viele Studierende und auch meine Klientinnen und Klienten erst einmal enttäuscht», sagt Eckmann. «Dabei kann schon das Wissen um die Individualität den Schlaf fördern.» Bei Schlaflosigkeit könne es beruhigend sein, sich zu besinnen: Dass ich gerade schwer einschlafen kann, liegt an meiner individuellen Situation; vielleicht habe ich Stress auf der Arbeit, vielleicht ein privates Problem – egal was, die Situation kann und wird sich verändern.
Wer sich hingegen Sätze denkt wie «Ich muss jetzt unbedingt schlafen» oder «Dass ich wach liege, ist schlimm», der setzt sich selbst unter Druck. Und dieser Druck hält uns zuverlässig wach.
«Klar, jetzt kann man sagen: Grübeln Sie beim Schlafengehen weniger. Aber man kann auch einem Raucher sagen: Zünde dir einfach nicht die nächste Kippe an. Wenn ich schon im Bett liege, kann ich meine Gedanken kaum noch kontrollieren», sagt Eckmann. «Aber in den Stunden zuvor kann ich sie in die richtige Richtung schubsen.»
Die falsche Richtung wäre: Probleme wälzen. Belastende Gespräche führen. Sport machen. Actionfilme oder Thriller ansehen – bewegte Bilder sind schlecht. Auch Hörbücher hindern mehr, als sie helfen. «Ausnahme: Sie lenken mich von schlimmen Grübeleien ab, in die ich sonst verfalle», sagt Eckmann. «In diesem Fall ist alles, was den Fokus verschiebt, sinnvoll.»
Zur richtigen Richtung können Apps verhelfen; die sogenannten digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) gelten unter Forschern als hoch wirkungsvoll – und jeder Arzt kann sie verschreiben. Die Apps auf Rezept ersetzen keinen Arztbesuch, unterstützen aber die Behandlung verschiedener Erkrankungen, etwa durch Protokollfunktionen, Übungen, Fragebögen oder verschiedene Trainingsmodi. Angewandt werden sie neben der Schlafmedizin unter anderem in der Psychotherapie, Logopädie oder Kardiologie.
Effektiv wirkt auch die Methode des Ruhebildes: Man stelle sich einen Ort, der angenehm und beruhigend ist, so intensiv wie möglich vor. Was sehe ich? Was höre ich? Was fühle ich? Was rieche ich? Verschiedene Sinneskanäle einzubeziehen, ist wichtig.
«Wenn das alles nichts bringt, dann zumindest raus aus dem Bett und woanders grübeln», sagt Eckmann. «Das Bett sollte fürs Schlafen reserviert sein.»
Das Einschlafen mag sich der Kontrolle entziehen, das Aufstehen hingegen lässt sich beeinflussen. Und wer seinen Tag gelungen startet, erhöht auch für dessen Ausklang seine Chancen. Am Morgen tut alles gut, was am Abend schlecht ist: Bewegung, viele Eindrücke, so viel Licht wie möglich. Nur das Grübeln bleibt doof.
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