Mittwoch, Oktober 9

Annick Ramp / NZZ

Während des Wirtschaftsbooms der sechziger Jahre wurden in Zürich für Gastarbeiter die «Junggesellenheime» gebaut. Eigentlich sollten die Häuser längst schon abgerissen sein. Doch noch immer sind sie ein Zuhause für Arbeiter. Viele bleiben ein Leben lang.

Als Peter das erste Mal in die Brauerstrasse kam, lief er glatt an den Häusern vorbei. Peter Franz ist Maurer und heute um die sechzig, ein kerniger Typ mit kräftigen Händen. Das Zimmer im Junggesellenheim wurde ihm 2004 über eine Zeitarbeitsfirma vermittelt. Peter sagt: «Ick habe ja so einiges kennengelernt, in der DDR, da war man als junger Kerl auch auf Montagen. Aber als ick hier ankam, kam mir fast das Heulen.»

Zwanzig Jahre später ist Peter noch immer da.

Insgeheim nennt Peter die Junggesellenheime «Anstalt». 136 Männer in vier Häusern. Verschiedene Charaktere auf engstem Raum, manche hatten einen Kulturschock, andere Heimweh.

«Wer um Gottes willen wohnt in diesen Bruchbuden?», fragte im vergangenen Jahr ein Journalist auf einem Online-Portal. Er schrieb von «maroden» und «unansehnlichen» Häusern, ein «solch verwahrlostes Areal» falle in der von Bauwut ergriffenen Stadt besonders auf. Und es stimmt: Allein, wie die Häuser dastehen, von den restlichen Wohnbauten abgerückt, dicht an das Gleisbett gedrängt, die Fassaden von der Strasse abgewandt. Die vier Häuser gehören nicht dazu, sie fallen aus der Stadt und aus der Zeit.

Die SBB liessen die Junggesellenheime am Kohlendreieck 1965 für unverheiratete Mitarbeiter des Güterbahnhofs bauen, für Junggesellen. Vier freistehende Riegel, direkt an den Gleisen, mitten in Zürich. Überall in der Schweiz wurden ab den 1940er Jahren solche Häuser gebaut, für die Gastarbeiter. Eigentlich waren sie keine Gäste, sie waren Arbeiter, und man hoffte, sie nach getaner Arbeit wieder zurückschicken zu können.

Dass die Gastarbeiter nicht auf dem freien Wohnungsmarkt unterkamen, war politisch gewollt. Sie sollten unter sich bleiben, sich nicht in der Schweiz einleben. Meist befanden sich die Unterkünfte nahe an Baustellen oder direkt an den Gleisen, wo die Arbeiter den grossen Ausbau der SBB vorantrieben. So auch die Junggesellenheime; die letzten Zeugen dieser Architektur der Ausgrenzung in Zürich.

Eigentlich hätten die Gebäude schon zehn Jahre später wieder verschwinden sollen, die SBB hatten mit einer temporären Bewilligung gebaut. Heute, fast sechzig Jahre später, stehen sie noch immer. Weil auf dem Grundstück eine Tramlinie geplant ist, befinden sich die Häuser in einer Zwischenwelt. Niemand weiss, wie lange sie noch stehen. Solange es keinen Entscheid über die Tramlinie gibt, wollen die SBB nicht investieren. Also werden die Häuser nicht saniert, aber auch nicht abgerissen.

Sie bauen Häuser, verlegen Gleise, putzen Züge

Die Fassaden sind mit Graffiti übersät. Die Farbe läuft in Rinnsalen von den Buchstaben, als hätten auch die Sprayer die seltsame Tristesse dieses Ortes gespürt. Die Häuser sind graubeige gestrichen, die Farbe ist an vielen Stellen dreckig, blättert ab. Mit ihrer Elementbauweise erinnern sie an Plattenbauten, nur dass sie mit drei Geschossen viel niedriger sind. Immer dasselbe Element, immer dasselbe Fenster, immer dieselben Storen. An der Eingangstür hängt ein Zettel in Klarsichtfolie: «Türe bitte geschlossen halten, damit Fremde draussen bleiben». Das Wort «Fremde» ist in Grossbuchstaben geschrieben. Darunter steht dasselbe auf Portugiesisch, dann auf Italienisch. Ein sonderbarer Satz an einem Ort, wo alle auf ihre eigene Weise fremd sind.

Die SBB liessen die Häuser 1965 an den Gleisen für unverheiratete Arbeiter bauen. Eigentlich waren die vier Gebäude als Provisorien geplant, doch heute stehen sie noch immer. Schon seit langem warten die Bewohner auf einen Entscheid: Wird saniert? Oder abgerissen und neu gebaut?

Anfangs kamen die Arbeiter meist aus Italien; später aus Jugoslawien, Ostdeutschland, Polen und heute vor allem aus Portugal. Zwar haben sich die Nationalitäten über die Zeit geändert, aber noch immer wohnen hier die Menschen, die die Schweiz im Hintergrund am Laufen halten. Sie verlegen Gleise, putzen Züge, bauen Häuser.

Was einst Gastarbeiter oder Saisonniers waren, sind heute Angestellte von Zeitarbeitsfirmen. Sie werden befristet eingestellt, meist für eine Saison. Die Verträge auf Zeit bedeuten für die Arbeiter eine hohe Unsicherheit. Was kommt als nächstes? Wie lange können sie in der Schweiz bleiben? Die meisten von ihnen kommen, um später mit etwas mehr Geld in ihre Heimat zurückzureisen. Aber nicht alle kehren zurück.

600 Franken für acht Quadratmeter

Peter stellt einen Aschenbecher auf den Küchentisch und zieht die erste Zigarette aus dem Päckchen. Es gibt Filterkaffee aus der Thermoskanne. Die Küche wirkt karg und nüchtern, wie in einer Jugendherberge. Die Stahloberflächen blitzen blank, nichts steht herum, kein schmutziges Glas, kein Salzstreuer. In der Luft hängt noch der Geruch von Bratfett, es muss gerade jemand gekocht haben.

Peter sitzt am Tisch, der gerade gross genug für vier Personen ist. Man koche hier eher nacheinander, sagt er. Die Küche teilt er sich mit elf anderen Männern. Wenn alle Zimmer belegt sind, wohnen 136 Personen in den vier Häusern. Man duzt sich. Auf jedem Geschoss liegen zwölf Einzelzimmer, Küche und Bad werden geschossweise geteilt. Die Zimmer sind je acht Quadratmeter gross, in jedem gibt es ein Bett, ein Lavabo, einen Schrank. All das passt gerade so hinein. 600 Franken im Monat kostet so ein Zimmer.

Die Versuche der Bewohner, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden, haben Spuren hinterlassen. Die Küchenzeile hat zwei Herdplatten, eine kleine und eine grosse. Über den Reglern kleben Schildchen, links steht «pequeño», rechts «grande». An der Wand hängen Suppenkellen, Küchenreiben und Pfannenwender akkurat an ihren Haken. Neben dem Herd stehen die sechs Schliessfächer, in denen die Bewohner ihre Lebensmittel verstauen. Auf der anderen Seite des Raumes wiederholt sich dasselbe: Küchenzeile, Kochutensilien, sechs Schliessfächer.

Ein Leben wie in der Jugendherberge: Auf jeder Etage leben 12 Bewohner, die sich Bad und Küche teilen.

Schon in Berlin hatte Peter in einer Arbeitersiedlung gewohnt, das war noch zu DDR-Zeiten. Dort sei es hundert Mal besser gewesen als hier, sagt er. Ein Neubau, mit Fernseher und neuer Küche. Peter sagt: «Als ick das hier gesehen habe, da hab ick erstmal eine Depression gekriegt.» Winzige Zimmer, veraltete Substanz, triste Fassaden. Aber Peter liess sich nicht unterkriegen.

Nach dem ersten Schock habe er sich schnell zurechtgefunden. «Es ging ruckzuck, und schon haben wir gelacht. Und dann kam endlich der erste Lohn. Das war wie im Schlaraffenland!» Das Leben in den Junggesellenheimen sei abenteuerlich gewesen, sagt Peter. Die meisten Männer kamen frisch verliebt oder verlobt. Wenig später waren sie es nicht mehr. Sie waren allein angereist, die Frauen zu Hause geblieben. Die Ferne trieb die Paare auseinander, vielleicht auch der Alkohol, der hier in rauen Mengen floss.

Peter war in die Schweiz gekommen, um sich und seiner Frau mit dem Ersparten ein Haus zu kaufen, denn ein Haus, das bedeutet Sicherheit. Statt so viele Jahre im Junggesellenheim zu leben, hätte er sich auch eine Wohnung in Zürich suchen können. Aber er wollte nicht. Sein eigentlicher Traum war das Haus in Deutschland, das er so schnell wie möglich bauen wollte.

Anfangs flog Peter am Wochenende oft nach Berlin zu seiner Familie. Als seine Frau ihn das erste Mal besuchte, mietete er ein Hotelzimmer. Er sagt: «Sie war etwas anderes gewohnt.» Irgendwann begann er das Leben fernab der Familie zu geniessen, flog seltener nach Deutschland.

Ein Ort der Gestrandeten

Immerzu will Peter Kaffee nachschenken. Er koche ihn ganz dünn, damit man schön viel trinken könne, sagt er. Alle paar Minuten zieht das Gefiepe und Gequietsche eines vorbeifahrenden Zuges durch die kleine Küche. Obwohl im Rest der Stadt penibel auf die Dezibel geachtet wird und ganze Bauprojekte daran scheitern, scheint der Lärmschutz hier keine Rolle zu spielen.

Ob er bei dem Lärm schlafen könne? Peter winkt ab, längst habe er sich daran gewöhnt. Nur einmal, als die Gleise versetzt worden seien, da sei es krass gewesen. «Da hat das Geschirr im Schrank gewackelt.» Die Fenster verzogen sich, Wände und Decken bekamen Risse. Die anderen Mieter in den Wohnhäusern der Brauerstrasse hätten damals bestimmt eine Mietminderung bekommen. «Wir nicht», sagt er nur.

Einen Moment herrscht Stille. Der Zigarettenrauch wabert durch die kleine Küche. Alles hier hat das Antlitz der 1960er-Jahre-Schweiz: Küchenzeile, Gardinen, Geschirr. Selbst der Rasen vor den Häusern wirkt überholt.

Vom Fenster aus ist ein Zipfel des Prime Tower sichtbar. Hier die 3-geschossige Baracke, dort der 36-stöckige Glasturm.

Dass hier in der Brauerstrasse ein Stück Geschichte steht, hat die Stadt selbst längst festgehalten. Die Gebäude wurden in das bauliche Inventar aufgenommen. Zwar stehen sie nicht unter Schutz, aber falls man sie abreissen will, müssten sie zuerst aus dem Inventar entlassen werden. In dem Erklärungstext vom Amt für Städtebau heisst es: «Als typologische Vertreter des gemeinschaftlichen Wohnens auf Zeit erzählen die Junggesellenheime von den teilweise prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen zahlreicher Arbeitskräfte in den Jahren der Hochkonjunktur und des Wirtschaftsbooms.»

Der Text lässt schlicht aus, dass dieses Leben bis heute weitergelebt wird. Dass die Gebäude noch immer nicht saniert wurden, die Bewohner auf acht Quadratmetern wohnen, die Lärmbelastung extrem und die Miete für den Zustand der Häuser hoch ist. Dass den Menschen anderes zugemutet wird als dem Rest der Stadt.

Insgeheim nennt Peter die Junggesellenheime «Anstalt». 136 Männer in vier Häusern. Verschiedene Charaktere auf engstem Raum, manche hatten einen Kulturschock, andere Heimweh.

Frauen gab es unter den Bewohnern fast keine, das ist bis heute so. Aber an eine kann sich Peter erinnern. «Sie hiess Mena. Eine ganz Hübsche, gerade erst 18.» Die Männer hätten gebuhlt wie die Wahnsinnigen. Mena blieb nicht lang.

Man ging viel in den Ausgang, feierte Feste. Schlägereien gab es auch. Peter sagt: «Wir waren jung, abenteuersüchtig, ausgehungert.» Viele seien als gute Jungs gekommen, sagt er. Über die Zeit hätten sie abgebaut. Beziehungen hielten die Ferne nicht aus und zerbrachen, einige wurden arbeitslos und verloren sich in der Trinkerei. Er spricht von Sozialfällen, von gefallenen Menschen. Von Gestrandeten.

Heute ist Peter selbst ein Gestrandeter. «Das ist eine ganz dramatische Geschichte», sagt er. 35 Jahre war er verheiratet, war in die Schweiz gezogen, um den Traum vom Haus möglich zu machen. Er nahm in Deutschland einen Kredit auf, begann zu bauen. Dann ging die Ehe kaputt. Bekriegt hätten sie sich, sagt Peter.

Auch wenn Peter immer wieder zurück nach Deutschland geht, hat er sein Zimmer nie aufgegeben. Es ist sein Unterschlupf.

Ein Jammerlappen sei er gewesen, habe Mist gebaut, dann die Sache mit der Trinkerei. Letztes Jahr kam es zur Scheidung. Seine Ex-Frau wohne noch in der gemeinsamen Wohnung, das Haus sei noch immer eine Baustelle, er habe nicht gewusst, wohin. Kurzerhand sei er nach Zürich gefahren. Das Zimmer in der Brauerstrasse hat er nie aufgegeben. Seit ein paar Wochen wohnt er wieder hier. Er sagt: «Dit ist wie Urlaub hier, mit Heike Käffchen zu trinken.»

Besuch ist nur bis 22 Uhr erlaubt

Heike ist die Hauswartin der Junggesellenheime. Mit prüfendem Blick läuft sie durch die Gänge, sagt, dass es früher besser gewesen sei, ordentlicher, sauberer. «Bei mir gibt es so was nicht», sagt Heike und fährt mit ihrem Finger über den Rand der Herdplatte, der ihr nicht blank genug ist.

Heike ist ein Hausmeistercharakter, sie schimpft gern. Über vermüllte Zimmer, offene Türen und stehen gelassenes Geschirr. Sie hält die Bewohner auf Zack. Man nennt sie hier «die Chefin».

Auch Heike kommt aus der ehemaligen DDR, aus Naumburg an der Saale in Sachsen-Anhalt. Als nach der Wende die Fabriken in Ostdeutschland schlossen, versuchte sie sich als ungelernte Pflegekraft durchzuschlagen. Ihr damaliger Partner fand Arbeit in der Schweiz, als Sicherheitswärter im Gleisbau, und zog in die Junggesellenheime. 2010 bekam Heike die Stelle als Hauswartin und folgte ihm nach Zürich.

Schon wenig später lernte Heikes Mann eine andere Frau kennen, Heike und er trennten sich. Sie habe ein Jahr gebraucht, um darüber hinwegzukommen, sagt sie. Aber sie ist nicht allein, vor einigen Jahren ist auch ihr Sohn aus Deutschland in die Brauerstrasse gezogen. Er arbeitet als Zugbegleiter.

Mittlerweile lebt und arbeitet Heike seit vierzehn Jahren hier. Sie ist eine der zwei Frauen, die in den Junggesellenheimen wohnen. Heike weiss alles über die Häuser, vor allem über die Regeln: Besuch darf bis 22 Uhr empfangen werden. Wer Gäste über Nacht hat, muss ein Zimmer dazumieten. Die Arbeitssachen der Bewohner werden von den Firmen gereinigt, alles andere kommt in den Waschkeller.

Alles muss seine Ordnung haben. Heike hält die Bewohner auf Zack.

Zwei der Häuser sind für die Arbeiter von SBB und Sersa reserviert. Seit 2000 werden die Junggesellenheime von den SBB an das Bahntechnikunternehmen Rhomberg Sersa Rail Group untervermietet, das die Zimmer direkt an die Arbeiter weitervermietet. In einem davon wohnt Heike. Es ist das einzige Haus, in dem die Zimmer etwas grösser sind. Statt auf acht Quadratmetern wohnt Heike auf knapp vierzehn. In den anderen Häusern mischten sich mehr Nationalitäten, sagt Heike. Man merke den Unterschied. Sie sagt: «Bei uns ist alles sauberer.»

Aber eigentlich sieht überall alles gleich aus. Derselbe Korridor, dieselben Türen, derselbe klinische Geruch. Heike läuft bis zum Ende des Gangs, bis sie vor dem Fenster steht, das den Blick auf das Gleisbett freigibt. Auch ein Zipfel des Prime-Towers ist sichtbar. Von hier aus habe sie sehen können, wie die Arbeiter die Fenster in den Turm eingesetzt hätten, sagt Heike. Ihre Worte verbinden die zwei Enden der Stadt: hier die dreigeschossige Baracke, dort der 36-stöckige Glasturm.

Die grösseren Zimmer haben einen Preis: Es blieb kein Platz mehr für Duschen. Auf den Etagen gibt es nur Toiletten, zum Duschen muss Heike durch das gemeinschaftliche Treppenhaus in den Keller hinabsteigen. Warten müsse sie dort eigentlich nie, sagt Heike. Die Bewohner arbeiten versetzt, einige haben Tag-, andere Nachtschichten, das gleicht sich gut aus.

Die Atmosphäre im Duschraum ist sachlich, wie in einem Hallenbad: weisse Fliesen, Neonlicht, zwei Toilettenkabinen, drei mit Türen verschliessbare Duschkabinen, auch eine Badewanne gibt es, die einzige hier. Einzig eine Packung Pantene Pro V auf dem Waschbeckenrand erinnert daran, dass jemand kürzlich hier seine Haare gewaschen haben muss. Ab und an versuchen Bewohner eines anderen Hauses das Bad zu nutzen, hier ist es ruhiger und abgeschiedener als in den Etagenbädern. Heike duldet das nicht, Ordnung muss sein, sie schliesst alle Kabinen ab.

In den Gemeinschaftsbädern herrscht eine sachliche Atmosphäre.

Ob sie sich nie überlegt habe, eine Wohnung zu suchen? Eine Miete von 600 Franken im Monat ist ein stolzer Preis für die Grösse und den Zustand der Gebäude. Heike sagt: «Es ist teuer, aber versuche mal in Zürich etwas unter 600 zu finden. Das ist unmöglich.»

In den Junggesellenheimen ist Heike eine Instanz. Es ist, als würden die Häuser sie beschützen im Gegenzug dafür, dass Heike sie sauber und ordentlich hält. In der Welt ausserhalb wirkt Heike zurückhaltend, fast scheu. Fotografieren lassen will sie sich keinesfalls. «Wer sollte mich denn ansehen wollen», sagt sie. Heike heisst eigentlich anders, ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Sie erzählt gern, aber sichtbar sein möchte sie nicht. Fragt man sie nach ihren Träumen, zuckt Heike zusammen. Sie wünsche sich, dass alles so bleibe, wie es sei. Dass sie bleiben könne.

Das Haus, in dem Heike wohnt, ist das einzige, um das ein üppiger Gemüsegarten wächst. Tomaten, Bohnen, Kohl, Brokkoli, Zucchini, Rosmarin, Apfel- und Feigenbäume. Eine Frau steht im Beet und knipst trockene Blätter von den Bohnen.

Ein blühendes Stück Italien

Frau Di Carlo ist die einzige Bewohnerin, die alle nur mit dem Nachnamen ansprechen. Vielleicht ein Zeichen dafür, wie zurückgezogen die Italienerin lebt. Dabei wohnt sie schon seit über zwanzig Jahren hier. Die Rollläden der Fenster sind meist heruntergelassen. Bevor sie die Tür öffnet, begutachtet sie ihre Gäste vorsichtig durch die Metallrillen der Jalousien. Frau Di Carlo ist Heikes Vorgängerin, die ehemalige Hauswartin der Junggesellenheime. Auch wenn sie nicht mehr hier arbeitet, wohnt sie noch immer in der Hauswartswohnung, der einzigen Wohnung auf dem Gelände.

In ihrer Küche schlägt die Vorsicht in Herzlichkeit um. Frau Di Carlo bittet zu Tisch und bringt Schälchen um Schälchen, die mit Bonbons und Schokolade gefüllt sind. Hinter ihr köchelt Wasser in einem Topf, in einer Schüssel steht die Pasta bereit, daneben tropft in einem Sieb Gemüse aus dem Garten ab.

Frau Di Carlo hat ihre Tochter Giulia eingeladen. Sie selbst spricht kaum Deutsch. Mutter und Tochter heissen eigentlich anders, sie wollen lieber anonym bleiben. Giulia ist als kleines Kind in die Schweiz gekommen. Mittlerweile lebt sie in Wallisellen, hat selbst Kinder, arbeitet bei einer Bank und hat den Schweizer Pass.

Frau Di Carlo ist 65. Sie und ihr Mann kommen aus Campagna, einem Bergdorf nahe Neapel. «Man lebt gut dort unten. Den Leuten geht es gut, sehr gut sogar», sagt Giulia. Nur Arbeit gebe es keine. Als Frau Di Carlo 1983 in die Schweiz kam, war sie gerade schwanger.

Ihr Mann hatte damals noch keinen festen Arbeitsvertrag, er arbeitete als Saisonnier im Gleisbau. Frau Di Carlo kam ab und an zu Besuch. Da sie noch kein Aufenthaltsrecht hatte, reiste sie zwischen Süditalien und der Schweiz hin und her. Dann fand sie eine Stelle als Hauswartin in den SBB-Baracken in der Herdernstrasse, wo die Familie einzog.

Ähnlich wie die Junggesellenheime heute, waren die Baracken an der Herdernstrasse ein Ort der Gastarbeiter. Sie standen stadtauswärts an den Gleisen, unweit des heutigen Toni-Areals. In den 1960er Jahren lebten in den elf Baracken rund zweihundert italienische Saisonniers auf engstem Raum. Die Wohnverhältnisse wurden 1969 in der «Unità» kritisiert, dem Zentralorgan der Kommunistischen Partei Italiens. Die Disziplin sei eisern, hiess es. Die Migranten wohnten zu viert in einem Zimmer, zwei Betten übereinander, jedes Bett koste 80 Franken. Besuch sei nicht erlaubt, vor allem nicht von Frauen. «Ein Leben wie in einem Konzentrationslager, kein Leben für freie Menschen», schrieb die italienische Journalistin.

Vor Jahren haben Bewohner im Garten einen Teich angelegt. Frau Di Carlo bestellt einen ganzen Gemüsegarten.

Die Schweizer widersprachen. Am 14. Juli 1969 schrieb der «Tages-Anzeiger» eine Replik, die italienische Zeitung habe übertrieben: Die Viererzimmer seien 1963 abgeschafft worden, es gebe nur noch Zweierzimmer. Die Hygiene sei in Ordnung, Beanstandungen habe es auch keine gegeben. Alle Gastarbeiterunterkünfte auf dem Gebiet Zürich seien kontrolliert worden. Die früher üblichen Überbelegungen gingen zurück, die Verhältnisse hätten sich deutlich gebessert. Es sei unfair, noch von unhaltbaren Wohnverhältnissen zu sprechen, sagte der damalige Gesundheitsinspektor Walter Hess.

Aber das war Augenwischerei. «Es ist kein Platz für uns in den Häusern, die wir selbst bauen», sagte ein Arbeiter in dem Film «Siamo Italiani» aus dem Jahr 1964. Er steht in einer Baracke für Saisonniers, die sich kaum von den vier Baracken in der Herdernstrasse unterscheidet. Die Arbeiter sind dicht an dicht in ihre Zimmer gedrängt, Platz zum Wohnen haben sie kaum, geschweige denn für Privatsphäre. Noch immer mutete man den Arbeitern zu, was man sich selbst kaum zugemutet hätte.

Ein kleiner sozialer Aufstieg

Anfang der 1980er Jahre zog die Familie in die Baracken der Herdernstrasse. Sie wohnten zu viert in zwei Zimmern, die Küche teilten sie mit einer Familie. Die einstöckigen Holzhäuser ähnelten dem Aufbau der Junggesellenheime. Lange Korridore, rechts und links die Zimmer. Und gerade, als sich die Familie eingerichtet hatte, passierte der Unfall.

Beinahe hätte Giulias Vater ihn nicht überlebt. Beim Gleisbau war ein ganzes Schienenstück auf ihn gefallen, es hatte sich vom Kran gelöst. Er hatte Verletzungen an Kopf und Körper, viele Monate lag er im Limmatspital, fiel ins Koma. Er war Anfang 30. Seit dem Unfall ist er nicht mehr arbeitsfähig und bezieht Invalidenrente. Es war eine schwere Zeit. Die Kinder waren noch klein, Frau Di Carlo war frisch in die Schweiz gekommen, sie kannte sich nicht aus, sprach kein Deutsch, alles war fremd.

Als die Häuser in der Herdernstrasse abgerissen wurden, zog die Familie in die Brauerstrasse. Giulia und ihr Bruder waren die einzigen Kinder auf dem Grundstück. Ausser ihrer Mutter lebten nur Männer in Einzelzimmern dort. Giulia sagt: «Es war sehr speziell, hier aufzuwachsen.» Einerseits waren sie frei, mussten nicht so sehr auf Lärm achten. Andererseits war man abgeschieden. Aber im Vergleich zu den Baracken in der Herdernstrasse waren die Junggesellenheime ein Aufstieg. Denn die Di Carlos wohnten in einer richtigen Wohnung, das erste Mal seit ihrer Ankunft in der Schweiz.

Frau Di Carlo steht auf, wiegt die Pasta ab und stellt eine Zucchini-Tarte auf den Tisch. Die Zucchini hat sie im Garten vor dem Haus geerntet. In den sonst kahlen Rasenflächen zwischen den Gebäuden leuchtet das üppige Gemüse. Der Garten sei für ihre Mutter ein Stück Heimat, sagt Giulia: «Dort, wo wir herkommen, lebt man von dem, was man selbst anbaut.»

Wie so viele Gastarbeiter fuhr die Familie Di Carlo in den Ferien immer in ihre Heimat. Sobald die beiden davon erzählen, verändert sich die Stimmung in der Küche. Es wird wärmer, ausladender, lauter. «Wir bleiben nie lang, aber die kurze Zeit ist sehr intensiv», sagt Giulia. Ein einziger Genuss.

Ein Bett, ein Schrank, ein Lavabo

«Hier immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit», sagt Joaquin, der sonst kaum ein Wort Deutsch spricht. Er sitzt auf einem Baumstumpf vor dem Haus, die Sonne scheint, er trinkt ein Bier und raucht. Joaquin ist seit kurzem pensioniert, auch er arbeitete im Gleisbau.

Joaquin führt ins Haus, es ist das letzte auf dem Grundstück. Der Korridor ist eng und gedrungen. Der blau-grün marmorierte PVC-Boden glänzt, links und rechts gehen Türen ab. An jedem Türrahmen ist ein kleines Schild angebracht, das an Bürogebäude oder Zugabteile erinnert. In einem dünnen Rahmen aus Metall steht die Zimmernummer, sonst nichts. Kein Vorname, kein Nachname.

Joaquin kommt aus Portugal und lebt seit 24 Jahren in einer der Baracken.

Joaquin wohnt in Nummer 101. In seinem Zimmer läuft ein Ventilator, obwohl sich gerade erst der Frühling ankündigt. Joaquin hat einst über einen Kollegen von den Junggesellenheimen erfahren, seit 24 Jahren lebt er in diesem Zimmer. Für jemanden, der seit so vielen Jahren hier wohnt, ist es erstaunlich leer. All sein Hab und Gut ist auf diesen acht Quadratmetern verstaut.

Heute ist ein acht Quadratmeter grosses Zimmer für Wohnzwecke eigentlich gar nicht mehr zulässig. Laut kantonalem Baurecht muss es mindestens zehn Quadratmeter gross sein. Aber weil die acht Quadratmeter im Baujahr 1964 noch gesetzeskonform waren, dürfen sie nach der sogenannten Besitzstandsgarantie auch unter späterem Recht fortbestehen. Käme es hingegen zu einer neubauähnlichen Umgestaltung, würde diese Garantie aufgehoben, und die Zimmer müssten vergrössert werden.

Wie die meisten Bewohner hier beschwert sich auch Joaquin nicht über die Zimmergrösse. Er hat sich daran gewöhnt.

Die Zimmer werden möbliert vermietet. Ein 90 Zentimeter breites Bett, ein Nachttisch, ein Waschbecken, ein kleiner Schreibtisch, ein Schrank, ein Stuhl. Manche Bewohner haben sich eigenen Boden verlegt oder besorgen sich eigene Möbel. Joaquin hat alles so belassen, wie es war.

Die Zimmer sind millimetergenau geplant. Schrank und Bett passen genau an eine Wandlänge. Das Fenster lässt sich haarscharf öffnen, ohne den Schrank zu schrammen. Auf der anderen Seite ist ein Lavabo installiert, daneben ist Platz für einen Schreibtisch. Joaquin hat ihn vor das Fenster gestellt, so kann er vom Bett aus fernsehen.

Vom Bett aus blickt er auch auf ein Madonnenbild und eine Gebetskette, die er an der Schrankwand befestigt hat. Auf einem kleinen Schreibtisch stehen eine Stereoanlage und Lautsprecher, darauf ein Ventilator und ein Fernseher. Zwischen den Boxen klemmen ein paar Medikamentenschachteln. Seine Jacke hat Joaquin auf dem Handtuchständer aufgehängt, der am Waschbecken befestigt ist. Shampoo, Rasierpinsel, Zahnbürste und eine Flasche Parfum.

Auf dem kleinen Nachttisch steht ein Familienfoto. Joaquins zwei Söhne sind mittlerweile erwachsen, sie leben in Frankreich und Portugal. Seine Frau und er sind seit zwanzig Jahren geschieden. Die Ehe hielt die Ferne nur drei Jahre aus.

«Ich bleibe hier, solange ich kann»

Vielleicht bleibt das Leben provisorisch, wenn man es in einem Provisorium verbringt. Aus einem Jahr werden zwei, dann fünf, dann zehn, bis plötzlich Jahrzehnte vergangen sind. Und auch die Zukunft der Junggesellenheime selbst ist ungewiss. Die Bewohner warten schon seit langem auf einen Entscheid: Wird saniert? Oder wird abgerissen und neu gebaut?

In den nächsten fünfzehn Jahren wird sich wohl wenig ändern. Denn das Grundstück, auf dem die Häuser stehen, ist mit einer Baulinie für eine Tramlinie belegt. Die Baulinie begrenzt den Raum für geplante oder bestehende Bauten und Infrastrukturen. 1954 war die Tramlinie 1 eingestellt und durch den Bus 31 ersetzt worden. Ob die Linie wieder aufgebaut wird, wollen die Zürcher Verkehrsbetriebe um das Jahr 2040 prüfen. Sollten die Häuser der Tramlinie im Weg stehen, müssten sie vor dem Abriss erst aus dem Inventar der Denkmalpflege entlassen werden. Sollten die Häuser nicht betroffen sein, wollen die SBB über eine Totalsanierung oder einen Neubau nachdenken.

Joaquin wird davon nichts mehr mitbekommen. Er hat sich entschieden, zurückzugehen. In zwei Monaten wird er nach Amarante ziehen, eine portugiesische Kleinstadt 60 Kilometer östlich von Porto. Er freut sich, vor allem darüber, dass die Zeit des Arbeitens ein Ende nimmt.

Heike hingegen hängt an den Häusern. Obwohl sie marode sind und es immer etwas zu schimpfen gibt, hofft sie, dass die Gebäude noch lange stehen. Heike sagt: «Ich bleibe hier, solange ich kann.» Sie hat Sorge, dass sie ihren Job verliert, sollten die Häuser abgerissen werden. Wenigstens bis zu ihrer Pensionierung, sagt Heike, sollten die Häuser stehen bleiben. Würden sie verschwinden, wüsste sie nicht, wohin.

Frau Di Carlo und ihr Mann haben vor einigen Jahren ein kleines Haus in der italienischen Heimat gekauft. Damals stand noch fest: Sie würden zurückkehren. Aber was sollen sie jetzt da? Frau Di Carlo will bei ihrer Tochter sein, bei ihrem Sohn, ihren Enkeln. Wie so viele Gastarbeitergeschichten ist auch ihre eine der Zerrissenheit. Bleiben? Gehen? Einzig der Vater hängt noch an der Idee einer Rückkehr. Giulia fände es nicht schlimm, wenn die Junggesellenheime abgerissen würden. Sie wünscht ihrer Mutter eine Veränderung, damit sie das Leben endlich geniessen kann.

Peter wird sein Zimmer in der Brauerstrasse vorerst behalten. Immer wieder kehrt er für ein paar Wochen zurück. Wenn er Ruhe sucht, wenn er eine Pause von der Baustelle braucht. Bis heute sind die Junggesellenheime sein Unterschlupf. Peters Traum ist es, sein Haus in Deutschland fertigzubauen. Und dass die Liebe noch einmal kommt. Manche Träume werden auf acht Quadratmetern kleiner, andere grösser.

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