Donnerstag, November 14

Der ehemalige Bürgermeister der griechischen Hafenstadt stach durch seine unkonventionelle Art als Politiker hervor. Nun ist er mit 82 Jahren gestorben.

Wie belebt man eine «Stadt der Geister»? Eine Stadt, von deren einst glanzvoller Vergangenheit als bedeutender Handelsmetropole und kulturellem Zentrum nicht mehr viel übrig ist, die provinziell wirkt, in konservativem Denken verfangen, die im Schatten der Hauptstadt ein Nischendasein fristet?

Das hat Yiannis Boutaris gezeigt, der zwischen 2010 und 2018 Bürgermeister von Griechenlands zweitgrösster Stadt Thessaloniki war und zeigte, wie ein Lokalpolitiker grosse Veränderungen anstossen kann. Nun ist Boutaris am Wochenende im Alter von 82 Jahren gestorben.

Boutaris wurde 1942 in Thessaloniki geboren. Er war in vielerlei Hinsicht unkonventionell, entstammte einer wohlhabenden Winzerfamilie und führte bis zu seinem Tod selber ein Weingut. In die Lokalpolitik stieg er erst spät ein. Er trug einen Ohrring und am Handgelenk ein Tattoo, Rucksack statt Aktentasche, Fahrrad und Kleinwagen statt Limousine mit Chauffeur. Doch viel mehr als sein äusseres Erscheinungsbild war es seine kosmopolitische, menschen- und umweltfreundliche Politik, die ihn von vielen anderen Politikern des Landes unterschied.

Eines der grössten Vermächtnisse von Boutaris ist es, die jahrhundertealte kosmopolitische Geschichte der Stadt im Bewusstsein ihrer Einwohner verankert und über Griechenland hinaus bekannt gemacht zu haben.

Boutaris unterstrich das osmanisch-jüdische Erbe der Stadt

Als Thessaloniki während der Balkan-Kriege 1912 an Griechenland fiel – in griechischer Lesart die «Befreiung» der Stadt von den Türken –, stellte die orthodoxe griechischsprachige Bevölkerung nur einen kleinen Teil der Einwohner. In der Hafenstadt hatten Türken, Armenier, eine slawischsprachige Bevölkerung und Juden über Jahrhunderte meist friedlich zusammengelebt. Juden stellten lange die Mehrheitsbevölkerung, weshalb die Stadt auch als «Jerusalem des Balkans» bezeichnet wurde. Nach der Übernahme der Stadt vertrieben die Griechen die muslimische Bevölkerung.

Im Zweiten Weltkrieg verschleppten die deutschen Besetzer rund 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Vernichtungslager. In den Jahren danach wurde über ihr Schicksal geschwiegen. Das Fehlen dieses über Jahrhunderte so prägenden Bevölkerungsteils trug Thessaloniki daher auch den Namen «Stadt der Geister» ein. Die mediterran-orientalische Atmosphäre der Stadt mit ihren Minaretten, Synagogen und Kirchtürmen, die die Reisenden im 19. Jahrhundert an Thessaloniki fasziniert hatten, war ebenfalls verschwunden.

Während seiner Amtszeit stärkte Boutaris die Erinnerung an die multiethnische Vergangenheit der Stadt. Die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung nannte er den «dunkelsten Abschnitt in der Stadtgeschichte», Thessaloniki habe dadurch «seine Seele verloren». Er bat die Überlebenden um Entschuldigung für die verspätete Anerkennung ihres Leids. Unter Boutaris wurde ein Holocaust-Mahnmal errichtet und die Einrichtung eines Holocaust-Museums vorangetrieben. Zudem rief er einen Gedenkmarsch ins Leben, der seitdem jedes Jahr am 15. März stattfindet. Am 15. März 1943 hatte der erste Deportationszug mit griechischen Juden Thessaloniki verlassen.

Boutaris streckte die Fühler auch in Richtung Türkei aus, dessen Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk aus Thessaloniki stammte. Boutaris liess das Geburtshaus renovieren und setzte sich für eine direkte Flugverbindung zwischen Istanbul und Thessaloniki ein. Die Städtediplomatie des parteilosen Bürgermeisters belebte auch den Tourismus, die Zahl türkischer und israelischer Touristen stieg spürbar an.

Unter seiner Ägide wurde Thessaloniki wieder zur «Hauptstadt des Balkans» und Treffpunkt der drei monotheistischen Weltreligionen, wie es die griechische Zeitung «Kathimerini» in ihrem Nachruf ausdrückte.

Boutaris war zudem ein Befürworter der Beilegung des Namensstreits mit dem nördlichen Nachbarland Mazedonien, womit er sich von vielen anderen politischen Akteuren unterschied. Fast drei Jahrzehnte lang hatte Griechenland den Namen Mazedonien nicht anerkannt, weil es territoriale Ansprüche auf die gleichnamige nordgriechische Provinz befürchtete.

Athen sprach nur von Skopje oder Former Yugoslav Republic of Macedonia (Fyrom) und blockierte die Integration in Nato und EU. Besonders im Norden Griechenlands war der Widerstand gegen jeden Kompromiss mit Mazedonien heftig. Zehntausende protestierten immer wieder, angestachelt von nationalistischen Politikern und Bischöfen. Erst 2019 wurde der Streit im sogenannten Prespa-Abkommen beigelegt, Mazedonien benannte sich in Nordmazedonien um.

Boutaris scheute nicht die Auseinandersetzung mit politischen Hardlinern und der in weiten Teilen nationalistisch eingestellten griechisch-orthodoxen Kirche. Dass Boutaris die Gay-Parade nach Thessaloniki holte, war dem Klerus ein Dorn im Auge; ebenso, dass er sich für den Bau eines Krematoriums einsetzte. Gleichzeitig fand er mit dem ultrakonservativen Bischof von Thessaloniki, Anthimos, auf einer Arbeitsbasis zusammen. Die Zeitung «Kathimerini» nannte Boutaris einen «zugänglichen Streithahn».

Hassfigur der Rechtsradikalen

Boutaris’ liberale Haltung und seine Bemühungen um ein entspanntes Verhältnis zu den Nachbarländern brachte viele Konservative, aber vor allem Rechtsextremisten gegen den Parteilosen auf. 2018 wurde er an einer Gedenkveranstaltung für die nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertriebenen Schwarzmeer-Griechen beschimpft und niedergeschlagen. Umstehende filmten den Vorfall, schritten aber nicht ein, ebenso wenig wie die Polizei. Es dauerte fünf Jahre, bis neun Personen, unter ihnen ein Polizist, für die Tat verurteilt wurden.

Nicht nur gesellschaftspolitisch trieb Boutaris einen Mentalitätswandel der Einwohner voran. Auch die Finanzen wollte der erfolgreiche Geschäftsmann sanieren. Als er sein Amt als Bürgermeister von Thessaloniki antrat, befand sich das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise.

In Thessaloniki stanken die Verhältnisse wortwörtlich zum Himmel. Die städtische Müllabfuhr war ein Paradebeispiel für Korruption und Misswirtschaft. Zwei Drittel des Fuhrparks waren nicht einsatzfähig. Dafür war der Personalsektor aufgebläht, weil unter der Vorgängerregierung zahlreiche Versorgungsposten – nicht nur bei der Müllabfuhr – geschaffen worden waren. Steuern wollte gleichwohl niemand bezahlen.

Über Frühpensionierungen gelang es Boutaris, den aufgeblähten Personalbestand der Stadt deutlich zu verringern. Auch das unterschied Boutaris von Amtskollegen, die ihre Klientel mit Stellen versorgten. Die Stadt schrieb unter seiner Führung nach vielen Jahren erstmals wieder schwarze Zahlen.

Zuflucht für Tanzbären, Umweltschutz «ohne Hysterie»

Boutaris war auch ein eifriger, jedoch kein eifernder Umweltschützer. 1992 gründete er im Nordwesten Griechenlands die Auffangstation «Arcturos» für ehemalige Tanzbären, nachdem diese brutale Praxis in Griechenland verboten worden war. Viele fragten den erfolgreichen Winzer Boutaris damals, ob er verrückt sei, ob er nun den lukrativen Weinbau für die Bären aufgeben wolle.

Heute kümmert sich «Arcturos» auch um Wölfe und andere verletzte Wildtiere und arbeitet eng mit den Nachbarländern Albanien und Nordmazedonien zusammen, so im Tracking der im Grenzgebiet lebenden Braunbärpopulation. Der Organisation ist es gelungen, das Interesse und Verständnis vieler Griechen für den Umweltschutz zu wecken. «Und das Beste daran?», sagte Boutaris einmal dem «Time Magazine»: «Wir haben es ohne Hysterie geschafft.»

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