Samstag, Januar 4

Der Seeadler war vor wenigen Jahrzehnten fast ausgerottet. Er wurde gejagt, gefangen und vergiftet. Heute gilt seine Population als stabil. Wie gelang dem Umweltschutz diese Wende?

Eigentlich kümmert er sich so gut um seinen Nachwuchs, dass kaum ein Zögling stirbt. Und eigentlich hat die Evolution ihn gut vorbereitet für sein Leben als Erwachsener, die meisten seiner Art müssten problemlos ihr volles Lebensalter von vierzig Jahren erreichen. Eigentlich. Manchmal aber wird selbst ein Spitzenjäger zum Gejagten.

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Zur Zeit der Germanen und Römer wurde er noch als heiliges Tier verehrt. Mit einer Flügelspannweite von etwa zweieinhalb Metern und bis zu sieben Kilo Gewicht gleitet er über Küstenstreifen, bewaldete Seenlandschaften und Flussauen. Haliaeetus albicilla, der Seeadler, ist einer der grössten Vögel Europas; nur Mönchsgeier, Bartgeier und Gänsegeier werden noch ein wenig grösser. In der jüngeren Geschichte wurde der Vogel den Menschen lästig. Fischer und Jäger sahen den Seeadler als Konkurrenten, weil er neben Mäusen oder anderen Vögeln auch Füchse und sogar kiloschwere Fische frisst. Sie legten daher Fallen und Giftköder aus, schossen ihn vom Himmel, verschleppten Eier und sogar Jungvögel aus dem Nest. «Jeder Wicht, der nur einen Schiessprügel haben darf, glaubt, seinen Mitmenschen den Anblick eines solch königlichen Vogels entziehen zu dürfen», beschwerte sich Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der Ornithologe Carl Wüstnei.

1960 galt der Seeadler in Europa als von Ausrottung bedroht, in Deutschland zählten Forscher nur noch zirka 60 Brutpaare. Und was selten ist, wird begehrt. Zuhälter, aber auch manche Bürgerliche wollten einen Seeadler als Statussymbol für ihre Voliere. Hehler auf dem Schwarzmarkt forderten für ein Jungtier bis zu 40 000 Mark; das entspräche heute einer Kaufkraft von fast 62 000 Euro oder 58 000 Franken.

Der Seeadler hat trotz allem überlebt. Heute erholt er sich jedes Jahr ein wenig mehr und ist ein Symbol dafür, dass Natur- und Tierschutz sogar dann eine Art retten können, wenn die Wissenschaft kaum noch Hoffnung hat. In Deutschland wurden 2024 zum ersten Mal seit über hundert Jahren mehr als tausend Brutpaare gezählt. Der Weg dahin war lang.

Der wichtigste Schritt war das Verbot eines Wundermittels, das kurz zuvor noch den Nobelpreis für Medizin gewonnen hatte. Paul Müller, 1948 Angestellter des Basler Pharmazieherstellers Geigy, erkannte als Erster, wie gut Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) Insekten tötet. DDT vernichtet Läuse, Zecken, Milben. Und DDT bekämpft die Anopheles-Mücke, die Überträgerin der Malaria. Als 1943 in Nepal Flecktyphus ausbrach, errang DDT seinen grössten Erfolg: Es tötet Kleiderläuse, die Träger der ansteckenden Krankheit. Daraufhin wurde DDT zum einzigen Pestizid, das eine Euphorie auslöste wie sonst nur ein Rockstar: Es wurde fortan auf deutschen Kartoffeläckern genauso eingesetzt wie in Obsthainen im Schweizer Wallis.

Was damals kaum jemand bemerkte: Das Gift lagert sich in der Umwelt ab. Und das führt zu sehr viel mehr Folgen als toten Insekten. Die Eierschalen der Seeadler etwa wurden dünner und dünner, viele zerbrachen lange vor dem Schlüpfen der Jungtiere. Kaum ein Faktor setzte der Natur und auch den Adlern je so sehr zu wie DDT. Erst die legendäre Umweltschützerin Rachel Carson schrieb mit ihrem Buch «Silent Spring» gegen die Katastrophe an, zirka 280 Seiten Fundamentalkritik an DDT und dem Feldzug der Menschen gegen die Natur. Infolgedessen kommt es weltweit zu Massenprotesten. Die meisten Industrieländer verbieten DDT um 1970.

Es ist die erste und wohl wichtigste Massnahme, damit der Seeadler sich seitdem erholen kann. Doch andere Herausforderungen bleiben, vor allem: Windkraft, Waldwirtschaft und Munition aus Blei.

Für Windräder haben Tierschützer Lösungen. Schon ein schwarzer Strich auf einem der Rotorblätter kann einen Greifvogel fernhalten. Besser funktionieren technische Systeme, die sich in den USA bereits bewiesen haben: Ein Antikollisionssystem umfasst bis zu acht Weitwinkelkameras, um den Beutegreifer zu erfassen. Eine weitere Kamera vermisst den Abstand zum Tier; kommt der Adler zu nahe, schaltet sich das Windrad automatisch ab.

Abholzung und Bleimunition bleiben ein Problem. Ein Seeadler baut seinen Horst in alte, starke Bäume. Ein Staatsforst kann es sich leisten, wenn Bäume langsam wachsen und Altes länger steht. In einem Wirtschaftswald wird eher schnell wachsendes Holz gepflanzt und jung gefällt; knapp die Hälfte des deutschen Waldes ist Privateigentum. Auch Bleimunition bleibt in Privatwäldern oft erlaubt, in deutschen Staatswäldern ist sie verboten. Greifvögel fressen Vögel, Füchse, Hasen, die mit Blei beschossen wurden. Das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung hat berechnet, dass durch Bleivergiftungen etwa 55 000 Greifvögel in Europa fehlen, die meisten sind Seeadler.

Trotzdem geht es dem Adler in Europa heute gut wie nie. Das liegt vor allem an grossflächigen Schutzzonen: Der Mensch ist willkommen, aber nur auf ausgewiesenen Wegen. Zudem wird die Natur weitgehend sich selbst überlassen; Bäume werden nur selten gefällt, und wenn, dann mit Rücksicht darauf, dass sich in der Nähe kein Adlerhorst versteckt. Die Giganten der Lüfte sind erstaunliche Mimosen, wenn es um Ruhestörung geht; werden sie zur Brutzeit an ihren Horsten bedrängt, lassen sie ihre Eier zurück und kommen selten wieder. Dabei sind sie selbst gar nicht leise. «Zur Balz- und Brutzeit sind Seeadler sehr ruffreudig», heisst es beim Bundesamt für Naturschutz. «Dann äussern sie kräftige, raue Schreie.»

Naturschutzgebiete sind etwa entstanden um die Schaalsee-Region zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und um Xanten am Niederrhein. Im Unesco-Biosphärenreservat Oberlausitzer Heide sind wieder Seeadler zu sehen, und auch Europas grösste Flussrenaturierung um die Untere Havelniederung lockt wieder Tiere an. Die grösste Adlerdichte beherbergt die Mecklenburgische Seenplatte.

Wie vieles kostet auch Naturschutz Geld. Hier sieht die Deutsche Wildtier-Stiftung den Seeadler im Vorteil: Spenden erhält, wen die Menschen mögen. Als Wappentier steht der Seeadler für Anmut und Kraft, damit identifizieren sich Menschen gern.

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