Donnerstag, Oktober 3

Ein brutaler Gewalttäter bewirft einen Aufseher mit Kot und landet ein Jahr in Einzelhaft. Das war nicht rechtens.

Es war ein denkwürdiger Entscheid, der vergangenen Herbst in einem denkwürdigen Fall fiel: Zum ersten Mal überhaupt anerkannte ein Schweizer Gericht menschenrechtswidrige Haftbedingungen – und das ausgerechnet im vorbildlichen Zürcher Justizvollzug.

Der bekannte Häftling Brian Keller, so urteilte das Bezirksgericht Dielsdorf, sei in der Justizvollzuganstalt Pöschwies unmenschlichen und unrechtmässigen Haftbedingungen ausgesetzt gewesen. Dreieinhalb Jahre hatte Keller dort grösstenteils isoliert in Einzelhaft verbracht. Es war das Resultat einer jahrelang eskalierenden Gewaltspirale zwischen Häftling und Vollzugspersonal.

Nach dem Urteil sagte die zuständige Regierungsrätin Jacqueline Fehr (SP) in der NZZ: «Es darf nie mehr so weit kommen.»

Nun, rund ein halbes Jahr später, wird bekannt: Zu jenem Zeitpunkt befand sich ein anderer Häftling ebenfalls unrechtmässig in Einzelhaft, und er blieb es für Monate.

Das geht aus einem Urteil des Zürcher Verwaltungsgerichts hervor, das am Montag publiziert wurde. Es ist rechtskräftig. Seit dem 21. März 2023 befand sich der betroffene Häftling demnach auf der Sicherheitsabteilung der Pöschwies in Einzelhaft, insgesamt für rund ein Jahr. «Die Voraussetzungen für diesen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit» seien jedoch nicht erfüllt gewesen, hält das Gericht fest.

Das Urteil ist ein juristischer Erfolg für einen Häftling, der wegen einer brutalen Gewalttat im Gefängnis sitzt und dort bisher vor allem als Querulant auffiel. Als einer, der sich in Haft nicht an die Regeln hielt – und nun dafür sorgte, dass die Justizbehörden selbst für einen Regelverstoss gerügt wurden.

Ein schwieriges Leben, eine unvorstellbare Tat

1984 in Südamerika geboren, im Alter von drei Jahren von einem Walliser Ehepaar adoptiert, mit elf in ein Internat für Schwererziehbare gesteckt, mit vierzehn erste Diebstähle begangen. Danach Konsum von Heroin, Crack, Kokain. Immer wieder eingesperrt und therapiert. Immer wieder straffällig: wegen Körperverletzung, Hehlerei, bewaffneten Raubs, Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes.

Unzählige abgebrochene Ausbildungen. Ein Leben von der Sozialhilfe, seit 2013 von einer Invalidenrente. Flucht ins Ausland, Rückkehr, Notschlafstelle. Und dann eine eigene Wohnung, in der 2016 Unvorstellbares geschieht.

Das ist das Leben von Pedro Valletta (Name geändert), 40, wie es sich aus einem Urteil des Bezirksgerichts rekonstruieren lässt, das der NZZ vorliegt. Es ist ein Leben am Rand der Gesellschaft. Mehrere psychische Erkrankungen wurden bei ihm bereits diagnostiziert, wobei sich die Einschätzungen der Mediziner dazu widersprechen.

Klar ist nur: Am 20. September 2016 liegt seine Untermieterin tot in Vallettas Wohnung. Nackt, erwürgt, ihr Leichnam sexuell geschändet. Valletta gesteht die Tat und wird erstinstanzlich zu 13½ Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wegen vorsätzlicher Tötung und Störung des Totenfriedens. Er akzeptiert das Urteil nicht und zieht es ans Obergericht weiter, wo der Fall momentan verhandelt wird.

Seit seiner Verhaftung wird Valletta von einem Gefängnis ins andere geschickt. Untersuchungshaft, Sicherheitshaft, vorzeitiger Strafvollzug: Siebeneinhalb Jahre ist er nun schon hinter Gittern – und wird dabei für den Justizvollzug zunehmend zum Problem.

Kot, Damenbinden, Faustschläge

Erstmals in Einzelhaft kommt Valletta, nachdem er am 10. März 2023 einen Aufseher mit Kot bewirft. «So, jetzt habt ihr es» soll er gerufen haben, bevor er ihm die Fäkalien auf Gesicht, Jacke und Hose wirft.

Der Grund für den Ausraster: eine Verlegung in eine andere Abteilung, mit der er nicht einverstanden ist. Wie mit so vielem: Unzählige Male ficht er Disziplinarmassnahmen der Justizbehörden an, mindestens fünf Fälle landen beim Verwaltungsgericht. Dort heisst es stets: «aussichtslos». Bis zur letzten Beschwerde, die alles ändern wird.

Für die Aufseher ist Valletta ein schwieriger Fall, seit Jahren schon. 2022 tituliert er eine Betreuerin als «blöde Kuh», weil sie ihm einen Putzraum nicht öffnen will. Daraufhin versucht er laut einem Mitgefangenen mehrfach, schmutzige Wäsche weiblicher Gefangener zu stehlen.

Zuvor fällt er in Untersuchungshaft negativ auf, weil er versucht, sich verbotenerweise den Insassinnen der Frauenabteilung zu nähern. In seiner Zelle werden benutzte Damenbinden von weiblichen Inhaftierten gefunden, genauso ein Zettel mit Liebeserklärungen an sie.

Vallettas Reaktion auf diesen Fund? Er beklagt sich darüber, seine Sexualität in Haft nicht ausleben zu können. Später wird er sich während eines Beschwerdeverfahrens als «Alphamännchen» bezeichnen.

Wie soll der Justizvollzug mit so einem Häftling umgehen? Die Antwort darauf lautet ab März 2023: mit Isolation und einem strengen Haftregime. Kurz: Einzelhaft.

Drei Monate bleibt Valletta in diesem Setting eingesperrt. Laut den Justizbehörden werden ihm dabei «individuelle soziale Trainingsfelder und spezifische Betreuungsmethoden» angeboten, Schulunterricht etwa oder Therapiegespräche. Er selbst bestreitet das.

Dann, nach über drei Monaten Einzelhaft, folgt im Juni 2023 der Vorfall, der ihm ein weiteres halbes Jahr Isolation einbringen wird. Laut den Justizbehörden weigert sich Valletta nach einem Spaziergang, den Hof des Gefängnisses zu verlassen. Mit Faustschlägen soll er das Personal angegriffen haben.

Er selbst schildert die Sache anders: Gewaltlos habe er sich gegen die Haftbedingungen wehren wollen. Dazu habe er einen kleinen Teich im Spazierhof betreten und die Aufseher mit Wasser bespritzt. Diese seien in Vollmontur zu ihm gekommen, hätten ihn an Händen und Füssen gefesselt und in seine Zelle gebracht, wo sie seine Kleider aufgeschnitten und ihn nackt liegen gelassen hätten.

Auch schwierige Gefangene haben Rechte

«Fordernd», «impulsiv», «unkooperativ», «unberechenbar»: So wird Valletta vom Gefängnispersonal beschrieben. In Einzelhaft, so merkt das Verwaltungsgericht kritisch an, habe sich sein Verhalten jedoch nicht stabilisiert, sondern im Gegenteil weiter zum Negativen gewendet – möglicherweise gerade wegen der harten Haftbedingungen.

Dafür, so zitiert das Gericht die Fallakten, habe er in Einzelhaft als «händelbar» gegolten.

Jemanden in Einzelhaft sperren, einfach weil er sich problematisch und unkooperativ verhalte: Das gehe nicht, kritisiert nun das Verwaltungsgericht. Die Sicherheitsabteilung 1 der Pöschwies sei die restriktivste der ganzen Anstalt, das Haftregime streng. Einzelhaft könne «gravierende Auswirkungen» auf die Gesundheit der Insassen haben. Entsprechend streng müssten die Anforderungen dafür sein.

Die Zürcher Justizbehörden hätten die Verhältnismässigkeit ihres Entscheids zu wenig geprüft, ebensowenig wie die Möglichkeit eines weniger restriktiven Settings. Valletta sei zwar «äusserst schwierig und anspruchsvoll». Er habe Mitgefangene oder Personal jedoch nicht in einem solchen Mass bedroht, dass eine Verlängerung der Einzelhaft angezeigt gewesen sei.

Ein Gefangener mag noch so schwierig oder unsympathisch sein: In lange Einzelhaft darf er nur, wenn er andere gefährdet und es kein milderes Mittel gibt, ihn zu kontrollieren. Das ist die Botschaft dieses Urteils.

Dazu kommt, dass Valletta laut einem Gutachten höchstwahrscheinlich an ADHS leidet, dafür aber keine Behandlung erhielt. Mehr noch: Im Mai 2022 ist er wegen versuchten Medikamentenhandels im Gefängnis diszipliniert worden – weil er sich Ritalin zur Selbstmedikation besorgen wollte. Das ADHS war damals, obwohl es Valletta bei sich vermutete, noch nicht diagnostiziert.

Justizvollzug will über die Bücher

Fälle von langer Einzelhaft sind im Zürcher Justizvollzug selten, aber es gibt sie. Gegenwärtig befinden sich laut Angaben der Justizdirektion sechs Männer länger als 15 Tage in Einzelhaft.

Gemäss den Nelson-Mandela-Regeln der Vereinten Nationen wäre eine Einzelhaft von über 15 Tagen untersagt. Jerôme Endrass, stellvertretender Leiter des Justizvollzugs, verteidigte diese kürzlich gegenüber der NZZ jedoch als «absolute Ultima Ratio», die zum Schutz von Personal und Insassen zuweilen nötig sei.

Zum neusten gerichtlichen Rüffel nimmt das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe) schriftlich Stellung. Zum Fall Valletta könne man sich nicht äussern, man nehme die Kritik an den Haftbedingungen jedoch «sehr ernst». So wie man das auch schon im Fall von Brian Keller getan habe.

Das JuWe schreibt: «Wir haben die erwähnten Urteile und die darin enthaltene Kritik zum Anlass genommen, die Haftbedingungen in der Einzelhaft zu überprüfen und Entwicklungen in diesem Bereich zu intensivieren.»

Wie stets im Justizvollzug gehe es auch bei der Einzelhaft darum, die Rechte und Würde der Inhaftierten zu wahren, ohne die Sicherheit von Mitarbeitenden, Mitinsassen und Allgemeinheit zu vernachlässigen. Ein länger als 15 Tage dauernder Arrest werde nie aus disziplinarischen Gründen angeordnet, sondern nur, wenn das Personal oder andere Gefangene gefährdet seien.

Genau diesen Punkt hat nun das Zürcher Verwaltungsgericht in Zweifel gezogen. Für Pedro Valletta ist es einer von wenigen juristischen Erfolgen im Kampf gegen die Justizbehörden. Unzählige Beschwerden gegen einzelne Verfahrensschritte und Disziplinarmassnahmen sind von ihm belegt. Mehrfach zog er schon bis vor Bundesgericht. Einmal – als er ein Gutachten für ungültig erklären lassen wollte, das ihm eine chronische Psychose diagnostizierte – erhielt er dort auch Recht.

Dieser Tage geht Vallettas Kampf weiter. Am Donnerstagnachmittag steht er wegen der Tötung seiner Mitbewohnerin vor dem Zürcher Obergericht. Siebeneinhalb Jahre nach der Tat.

Urteil VB.2024.00061 (rechtskräftig)

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