Mittwoch, März 19

Der deutsche Verteidigungsminister sucht das Wehrmodell der Zukunft. Es muss geeignet sein, der Bundeswehr im Kriegsfall schnell genügend Personal zuzuführen. Wie das gehen kann, will sich Pistorius in Schweden, Finnland und Norwegen anschauen.

Seit Russlands Überfall auf die Ukraine gehört Skandinavien zu den häufigen Reisezielen deutscher Verteidigungspolitiker. Das hat seine Gründe, etwa weil die Weiten Norwegens grossen Raum für Nato-Winter-Manöver geben, die heute wieder wichtig sind. Noch bedeutender als Norwegen aber sind derzeit Finnland und Schweden, allerdings aus einem anderen Grund. Die beiden Staaten verfügen über Wehrmodelle, von denen sich Deutschland vielleicht etwas abschauen könnte.

Verteidigungsminister Boris Pistorius will diese Modelle in der kommenden Woche auf einer viertägigen Nordeuropa-Reise persönlich studieren. Das hat auch damit zu tun, dass der sozialdemokratische Politiker ein Problem hat. Pistorius fehlen Soldaten, und er muss die Bundeswehr demografiefest machen. Neben fehlender Ausrüstung und Munition hapert es bei den deutschen Streitkräften vor allem am Personal. Deshalb schaut der Verteidigungsminister jetzt besonders nach Schweden. Das Neu-Nato-Mitglied hat vor ein paar Jahren die Wehrpflicht wieder eingeführt – und könnte nun Vorbild für Deutschland sein.

Allerdings warnt Pistorius selbst davor, den zweiten vor dem ersten Schritt zu machen. An der Münchner Sicherheitskonferenz sagte er, die erste Frage müsse doch sein, wofür die Wehrpflicht gebraucht werde. Die Antwort darauf findet er zum Beispiel im deutschen Wehrpflichtgesetz. Seit einer Änderung vor 13 Jahren heisst es darin, dass die Wehrpflicht nur im Spannungs- und Verteidigungsfall reaktiviert werden kann. Dieser Fall muss ausdrücklich vom Bundestag festgestellt werden.

Die Einsatzarmee brauchte Profisoldaten

Gleichzeitig gilt in Deutschland aber nach wie vor Artikel 12 a des Grundgesetzes. Danach kann jeder männliche Staatsbürger vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden. Doch während der Wehrdienst im Kalten Krieg noch gut begründet war, verlor er nach der Wiedervereinigung die Legitimation. Ein verpflichtender Militärdienst war sicherheitspolitisch nicht mehr zu begründen. Die Bundeswehr benötigte für ihre zahlreichen Auslandseinsätze vor allem Profisoldaten. Im Jahr 2011 verfügte daher der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg von den Christlichsozialen, die Wehrpflicht auszusetzen.

Heute ist die Welt wieder eine andere. Russlands Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass das Gros der Staaten in EU und Nato in das Militär investieren, um sich besser verteidigen zu können. Einige von ihnen denken über ihre Wehrform nach, auch Deutschland. Die Bundesrepublik braucht ein Wehrmodell, das einerseits dafür sorgt, dass die Bundeswehr ihren zusätzlichen Personalbedarf im Spannungsfall schnell decken kann. Und das andererseits die Möglichkeit bietet, den Mangel an Zeit- und Berufssoldaten beheben zu können.

Welches Land eine Wehrpflichtarmee und welches eine Berufsarmee hat

Wehrform in den Nato- und EU-Staaten

Wie das gehen kann, zeigt Schweden. Das skandinavische Land hatte im Jahr 2018 die Wehrpflicht reaktiviert, nachdem es sie erst neun Jahre zuvor ausgesetzt hatte. Grund war, dass Schweden, anders als Deutschland, bereits nach der Krim-Annexion durch Russland im Jahr 2014 eine veränderte Bedrohungslage feststellte. Während in den Jahrzehnten vor 2009 nur männliche Bürger dienen mussten, gilt die Wehrpflicht nun für beide Geschlechter.

Die Schweden akzeptieren Wehrungerechtigkeit

Doch solange der Kriegsfall nicht eintritt, müssen kaum zehn Prozent eines Jahrganges an die Waffe. Die genaue Zahl der einberufenen Schweden berechnet sich nach dem Gesamtbedarf der Truppe im Krieg. Er liegt derzeit bei 116 000 Soldaten. Davon sollen 46 000 Wehrpflichtige sein. Daher verfolgt Schweden mit der Wehrpflicht vor allem das Ziel, diese 46 000 Soldaten permanent auszubilden und in Übung zu halten. Der Aspekt der Wehrgerechtigkeit, der in Deutschland besonders in den Jahren vor der Aussetzung der Wehrpflicht eine grosse Rolle spielte, hat dabei so gut wie keine Bedeutung. Mit Blick auf die Bedrohungslage akzeptieren die Schweden, dass es bei der Auswahl nicht gerecht zugeht.

Auch sonst unterscheidet sich das schwedische Wehrpflichtmodell erheblich vom früheren deutschen Modell. Die Gesetzeslage in dem Land schreibt vor, dass sich jede Frau und jeder Mann im Alter von 18 Jahren registrieren und prüfen lassen muss. Während die deutschen Schulabgänger bei einem der damaligen Kreiswehrersatzämter vorstellig werden mussten, belässt es Schweden zunächst dabei, die jungen Leute einen Fragebogen etwa zur Gesundheit, zum körperlichen Zustand, zur Persönlichkeit und zu eventuellen Straftaten ausfüllen zu lassen.

Dieser Befragung folgt ein Auswahlprozess. Dabei wird entschieden, wer von den etwa 100 000 Schweden eines Jahrgangs zu den 30 000 gehört, die zu einer zweitägigen Musterung vorgeladen werden. Aus diesen
30 000 wiederum werden zurzeit etwa 6000 bis 8000 Personen ausgewählt, die den Grundwehrdienst und anschliessend einen mehrjährigen Reservedienst leisten müssen. Zudem rekrutieren die schwedischen Streitkräfte aus diesen Wehrpflichtigen inzwischen einen erheblichen Teil ihrer Zeit- und Berufssoldaten.

Teure Werbekampagnen unnötig

Für Deutschland hätte dieses Modell, das die Sozialdemokraten vor 13 Jahren schon einmal in ähnlicher Form vorgeschlagen hatten, mehrere Vorteile. Es ermöglichte der Bundeswehr erstens, alle Männer und Frauen eines Jahrgangs zu erfassen und einen Überblick über die Zahl der potenziell wehrfähigen jungen Leute zu bekommen. Diese «Wehrerfassung» erfolgt seit 2011 nicht mehr. Zweitens müssten die deutschen Streitkräfte nicht mehr teure und nur bedingt erfolgreiche Kampagnen starten, um Nachwuchs für die Truppe zu werben. Sie könnten sie direkt und gezielter ansprechen. Und drittens liesse sich dadurch schneller eine Reserve wiederaufbauen.

Vor allem der dritte Punkt wird in der deutschen Debatte um die «Kriegstauglichkeit» bisher kaum berücksichtigt. Dabei, das zeigt sich in der Ukraine, ist er von existenzieller Bedeutung. Kriege werden oft mit Profis begonnen und enden mit Reservisten und Wehrpflichtigen. Deutschland hat weder ausreichend Reservisten noch Wehrpflichtige.

Pistorius dürfte sich daher auf seiner Skandinavien-Reise auch das finnische Modell erklären lassen. Dabei wird es weniger die kleine Berufsarmee der Nordeuropäer mit ihren 8000 Berufssoldaten sein, der das Interesse des Verteidigungsministers gilt. Vielmehr ist es das Reservistenheer der Finnen. Von den etwa 5,5 Millionen Einwohnern des Landes sind derzeit 900 000 überwiegend Männer zum regelmässigen Dienst in der Reserve verpflichtet.

Sie müssen – je nach Einheit und Tätigkeit – alle ein bis zwei Jahre zirka eine Woche lang üben. Für jeden Reservisten halten die Streitkräfte Waffen, Munition und andere Ausrüstung vor. In Deutschland gibt es nicht einmal für jeden der derzeit etwa 41 500 aktiven Reservesoldaten ein Gewehr. Das soll sich erst ändern, wenn das neue Sturmgewehr G95 eingeführt ist und die bisherige Waffe, das G36, in die Reserve übernommen wird. Das dürfte noch mindestens fünf Jahre dauern.

Keine kriegstaugliche Reserve

Doch nicht nur Anzahl und Ausrüstung der Reservisten sind ungenügend. Es gibt auch keine kriegstaugliche Reservestruktur. Bisher setzte die Bundeswehr die Reservisten vor allem ein, um einzelne aktive Soldaten auf ihren Dienstposten für eine begrenzte Dauer zu ersetzen oder um Vakanzen in aktiven Einheiten zu überbrücken. Erst seit einigen Jahren sind die Streitkräfte dabei, den Heimatschutz wiederaufzubauen. Diese Reserveeinheiten sollen im Kriegsfall militärisch wichtige Einrichtungen in Deutschland schützen, etwa Flugplätze, Häfen, Kommandozentren und Luftverteidigungsstellungen.

Während des Kalten Kriegs waren in Deutschland Hunderttausende Reservisten im Heimatschutz eingeplant. Diese Strukturen existieren heute nicht mehr. Ihr Wiederaufbau in deutlich geringerem Umfang verläuft zäh. Es fehlt sowohl das Personal als auch das Gerät. Ausserdem kann kein Deutscher zum Reservedienst gezwungen werden. Seit der Aussetzung der Wehrpflicht sind Reserveübungen freiwillig. Arbeitgeber müssen ihre Beschäftigten für den Dienst nicht mehr freistellen.

Was fehlt, ist der politische Wille, diesen Zustand zu ändern. So sind führende Sozialdemokraten wie Bundeskanzler Olaf Scholz und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich gegen eine Reaktivierung der Wehrpflicht. Auch die Liberalen lehnen einen Zwangsdienst ab, allerdings nicht mit einer sicherheitspolitischen Begründung, sondern weil er «massiv in die Selbstbestimmung der davon Betroffenen» eingreifen würde. Dies passe nicht ins liberale Weltbild, heisst es.

Doch insbesondere die liberale Schweiz zeigt, dass dieses Argument kaum sticht. Das Schweizer Wehrmodell basiert auf einer Wehrpflicht, gepaart mit einem Milizprinzip. Dabei müssen die meisten Wehrpflichtigen ihren Dienst nach einer kurzen Grundausbildung über mehrere Jahre verteilt in Wiederholungskursen leisten.

Mehrheit der Deutschen für Wehrpflicht

In Deutschland scheint allerdings die Gesellschaft weiter zu sein als die Politik. Umfragen zeigen, dass sich eine Mehrheit für die Einführung eines Wehrdienstes im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht für Frauen und Männer ausspricht. Dieser Dienst soll neben dem Militär auch in zivilen Bereichen abgeleistet werden können. Die Gegner argumentieren, die Bundeswehr würde schon bei ein paar tausend Wehrpflichtigen pro Jahr an ihre Grenzen kommen. Es gebe zu wenig Kasernen, Ausbilder und Gerät. Der Wiederaufbau einer Wehrerfassung dauere zudem Jahre.

Solche Argumente dürfte es möglicherweise auch in Norwegen und Schweden gegeben haben. Doch diesen Ländern kommt es offenkundig nicht auf eventuelle Schwierigkeiten bei der Wehrpflicht an. Sie leitet vor allem ihr Bedrohungsempfinden gegenüber dem Russland Putins. Verteidigungsminister Pistorius dürfte daher auch auf seiner dritten Skandinavien-Station in Norwegen gut zuhören. Dort sind – seit 2015 – neben den Männern auch alle Frauen wehrpflichtig.

Von den etwa 60 000 wehrpflichtigen Bürgern eines Jahrgangs wird dort derzeit zwar nur jeder sechste einberufen. Doch offenkundig sehen es die Norweger wie der britische Armeechef Patrick Sanders. Nur «Bürgerarmeen» seien in der Lage, den kommenden Angriff auf die westliche Lebensweise abzuwehren, sagte Sanders im Januar dieses Jahres.

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