Man muss in Moskau schon zweimal hinschauen, um zu erkennen, wie der Krieg Russland verändert hat. Hinter den glitzernden Fassaden herrschen Ernüchterung, Erschöpfung und Angst. Die Regierung verordnet Patriotismus, doch ihre Parolen ziehen immer weniger.
Die Moskauer haben unlängst das chinesische Neujahrsfest mit noch grösserem Enthusiasmus gefeiert als einst in Friedenszeiten den irischen St. Patrick’s Day. Damals, als man sich gern prowestlich gab, war indes ohnehin nur ein Teil der Stadt in fröhliches Grün getaucht. Nun leuchtete das ganze Zentrum in Rot, als handle es sich um den Jahrestag der Oktoberrevolution zu Sowjetzeiten.
Unwillkürlich stellte sich die Frage: Sind wir von China besetzt? In gewisser Weise sind wir das. Es fahren viele chinesische Autos auf den Strassen. Die Taxis sind fast vollständig auf Marken aus dem Reich der Mitte umgestiegen, was die Konversation zwischen Kunde und Fahrer belebt: «Schlagen Sie die Tür fester zu, das hier ist kein Nissan.»
Die zweitbeliebteste Sprache, welche Schulkinder erlernen, ist Chinesisch, und die Einstellung der Russen gegenüber den Chinesen ist mehr als freundlich, obwohl vielen Leuten die Tatsache einer übermässigen, vor allem wirtschaftlichen Abhängigkeit von China Sorgen bereitet. Noch und noch fotografieren sich Festbesucher vor dem Hintergrund der riesigen chinesischen Drachen, die nur wenige hundert Meter vom Kreml stehen. Das ist ein grosser Spass.
Umverteilung des Eigentums
Niemand erinnert sich noch daran, dass es zwischen Russen und Chinesen, die «für immer Brüder sind» (so ein Propagandalied von 1949), in den 1960er Jahren eine anhaltende Konfrontation gab, die sogar in militärische Zusammenstösse mündete. Damals hiess es, die UdSSR habe zwei Probleme: Damanski und Nedomansky. Das erste eine Insel im Grenzfluss zu China, dem Ussuri, auf die beide Seiten Anspruch erhoben; das zweite ein ebenso berühmter wie torgefährlicher tschechoslowakischer Eishockeystürmer, welcher dem sowjetischen Nationalteam heftige Probleme bereitete.
Der russische Petrostaat verliert infolge des Krieges und der Sanktionen seine Einnahmen, aber den «Eliten» geht das Geld nicht aus. So kommt es in Russland zu einer Umverteilung des Eigentums, neue Nutzniesser tauchen auf, das Geld sickert immerhin ein wenig nach unten, so dass die obere russische Mittelschicht sich nicht mit chinesischer Billigware begnügen muss. So etwa leistet man sich noch immer europäische Autos. Und, dem Ausmass des Baus von Luxuswohnungen nach zu urteilen, auch grosszügig ausgestattete Wohnungen. Aus denen, die ihren Einsatz im Krieg überlebten, hat sich eine neue Mittelschicht gebildet. Es gibt staatliche Zahlungen für die Teilnahme an Kampfhandlungen, für Verletzung und Todesfall – Mittel, die häufig in Immobilien investiert werden.
Für Normalbürger unerschwinglich sind Wohnungen in der Aue der Moskwa nahe dem neuen Eispalast, der Nawka-Arena, der sich gerade im Bau befindet. Er trägt den Namen von Tatjana Nawka, der berühmten Welt- und Europameisterin sowie Olympiasiegerin im Eiskunstlauf, die viele Jahre in den USA lebte. Seit 2015 ist sie die Ehefrau von Putins Mediensprecher Dmitri Peskow.
Die Inflation stellt für die unteren Schichten eine hohe Belastung dar. Und die russische Oberschicht wartet auf das Ende der «militärischen Sonderoperation», um endlich, wenn alles gutgeht, wieder Direktflüge in ebenjene westlichen «Entscheidungszentren» zu bekommen, die hohe Beamte und politische TV-Starmoderatoren vor kurzem noch mit einem Atomschlag vom Angesicht der Erde tilgen wollten.
Russland – und die Hauptstadt ist keine Ausnahme – lebt in der Erwartung, dass bald Frieden einkehren wird. Erstens sind drei Jahre Krieg eine Menge Zeit, und diese reicht völlig aus, um zu beweisen, wie stark und «souverän» Russland ist – das erkennt doch jeder. Zweitens beginnt die Wirtschaft zu schrumpfen, erreicht die Inflation neue Höhen, sie bewegt sich auf Jahresbasis bereits im zweistelligen Bereich, was keinen Grund darstellt, dass der Absatz von manchen Konsumgütern nicht einen Zuwachs von zehn Prozent aufweist.
Die Gesetze der Ökonomie sind unerbittlich. Wenn in noch nie da gewesenem Mass Geld für militärische Ausrüstung ausgegeben wird, heizt das die Inflation nicht nur an, sondern bewirkt, dass sie chronisch wird; da weiss auch die Zentralbank, die nun von allen gegeisselt wird, keinen Ausweg.
Und drittens ist da der neue US-Präsident Donald Trump, der alles auf den Kopf zu stellen scheint. Riesige Hoffnungen ruhen auf ihm. Auf seiner Kühnheit und auf seiner Bereitschaft, mit Putin zu reden.
Hoffen auf Al Bano
Die Erwartungen sind gewiss übertrieben – sowohl bei den normalen Leuten als auch bei den Eliten. Einige haben irgendwie mitbekommen, dass der Friede bis zum 9. Mai, dem Tag des Sieges im «Grossen Vaterländischen Krieg», Einzug halten soll. Es gab Gerüchte, dass der italienische Sänger Al Bano, der sich in den 1980er Jahren in der UdSSR grosser Beliebtheit erfreute, im August oder September ein grosses Konzert geben wird. Und dieser Event werde dem Frieden gewidmet sein bzw. dem Sieg – in den Köpfen der einfachen Russen ist das im Grunde dasselbe.
Die Führungskräfte fangen an, arrogant über die bevorstehende Rückkehr ausländischer, sprich westlicher Unternehmen zu reden: Diese seien in Russland nicht wirklich erwünscht, den Russen gehe es auch ohne sie ganz gut, aber da sie kommen wollten, würden sie sie kommen lassen, aber die Konditionen würden weit schlechter sein als früher. Natürlich ist das kaum mehr als Wunschdenken. Zumal die Enteignung und Verstaatlichung von vielen ausländischen Vermögenswerten während der Kriegsjahre die Hoffnung auf eine Rückkehr westlicher Investoren alles andere als beflügelt.
Moskau ist immer noch Moskau. Aber es wird kaum noch offen über Politik diskutiert. In der U-Bahn sieht man die Leute auf dem Smartphone Games spielen oder der Werbung nachhängen; man tauscht sich aus unter Freunden, aber nicht über den Krieg. Dessen bittere Gegenwart tritt in den Hintergrund: Es gilt als moralisch, patriotisch zu sein und «unsere Jungs» zu unterstützen, aber selbst im Privaten sind Auseinandersetzungen über den Sinn des Krieges erlahmt und wird stumm der Friede herbeigesehnt. Niemand achtet noch auf Pro-Krieg-Plakate – genauso wenig wie in der Spätzeit der Sowjetunion die kommunistische Agitation noch verfing. Und wie in den Jahren des Kommunismus halten sich die Leute auch jetzt an Sprechverbote und Verhaltensregeln, um keine Probleme mit den Behörden zu bekommen.
Hier im Stadtzentrum, innerhalb des Boulevard-Rings, ist freilich Anspannung zu spüren: Die Polizei zeigt starke Präsenz, wer die U-Bahn benutzt, muss sich Taschenkontrollen unterziehen, fast wie auf einem Flughafen. Aber auch das wird Norm und Routine. Umso mehr, als die Kontrolleure äusserst höflich sind.
So ruhig das Leben in den glitzernden Lichtern der Innenstadt daherkommt, es kann stets etwas Aussergewöhnliches passieren. Hier, mitten im Zentrum, platzt plötzlich ein Polizeikommando in eine gesittete Technoparty im alten Savoy-Hotel und beginnt die Gäste zu kontrollieren. Wonach wird gefahndet? Nach Drogen? Nach Westlern mit freiheitlicher Gesinnung?
Und in der Tat gibt es eine solche Person – Irina Hakamada, einst eine beliebte liberale Politikerin, die sich längst aus der Politik zurückgezogen hat. Heute Abend ist sie im «Savoy» bloss zu Gast, obwohl später in Moskau ein Gerücht die Runde machen wird, dass sie ebenda eine Rede halten wollte und die Polizei dies zu verhindern trachtete.
Vielleicht wollte die Polizei nur jene beschämen, die hier ihre Zeit untätig verbringen – während «unsere Jungs» an der Front kämpfen. Das ist derzeit eine modische Anschuldigung, die mit einem hochmoralischen Unterton daherkommt. Aber keiner will sie mehr hören, also müssen die Staatsorgane die jungen Leute mit nicht gerade zimperlichen Methoden an die «Unwürde» ihres Verhaltens erinnern.
Die Intelligenzia am Nullpunkt
Das ist nur eine Geschichte. Eine andere ist, dass viele Buchpräsentationen und öffentliche Diskussionen abgesagt werden. Früher strotzte Moskau vor intellektuellem Leben, aber jetzt hat es sich praktisch auf null reduziert. Organisatoren haben Angst und sagen Veranstaltungen manchmal vorsorglich selbst ab, manchmal reagieren sie auf einen Anruf von «oben».
Die Intelligenzia hat sich auf ihre eigene Blase zurückgezogen, sie versammelt sich in kleinem Kreis und kehrt zurück in die Küchen der Sowjetära, die nachgerade in vorteilhaftem Licht erscheint. Damals gab es wenigstens einige verständliche Regeln im Umgang mit den Behörden, heute gibt es keine mehr. Damals gab es keine «ausländischen Agenten» und «unerwünschten Organisationen».
Gut, man konnte wegen exzessiven «dissidenten» Verhaltens zu einem Verhör aufgeboten werden oder gar den Job verlieren. Aber es gab niemanden, der als «ausländischer Agent» gebrandmarkt war und aufgrund gesetzlicher Beschränkungen keine Stelle als Lehrer bekommen konnte, und es kam nicht vor, dass eine Person, die einer «unerwünschten Organisation» angehörte, ins Gefängnis musste. Es scheint, dass der lustige alte Breschnew weit netter war als der harte und unlustige alterslose Putin.
Wenn es doch kein Friedensabkommen gibt, wird dieses fragile Gemeinwesen zumindest in einen depressiven Zustand zurückfallen. Die Zukunft wird vertagt. Einige Leute werden noch wütender sein als bisher und noch eifriger nach den Schuldigen suchen – den «Feinden» im Westen und den «Verrätern» im eigenen Land. Und wenn dann noch eine Stagflation einsetzt . . .
Es scheint, dass selbst Putin sich über ein solches Szenario Sorgen machen muss. Die Russen möchten, dass er nicht nur als Präsident des Krieges dasteht, der die Nation zu mobilisieren imstande war, sondern als Sieger. Diesem Wunsch muss er nachkommen, wenn er die Unterstützung für seinen Kurs aufrechterhalten will. Doch die Nation lässt sich auch damit weiter mobilisieren, dass der Krieg gegen den Westen mit anderen Mitteln geführt wird – nämlich hybrid. Kein heisser, aber ein fortgesetzter kalter Krieg 2.0 liegt durchaus in Putins Interesse.
Andrei Kolesnikow ist Journalist und Buchautor. Er lebt in Moskau, ist Kolumnist von «The New Times» und schreibt für die Online-Zeitung «Nowaja Gaseta». – Aus dem Englischen von A. Bn.