Mittwoch, Oktober 30

Finanzministerin Rachel Reeves gilt als «Hirn» der neuen Labour-Regierung. Nun setzt sie bei der Präsentation des Staatshaushalts vom Mittwoch auf buchhalterische Tricks – um an den Finanzmärkten mehr Schulden machen zu können.

Als die britische Finanzministerin Rachel Reeves letzte Woche der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington beiwohnte, kamen dunkle Erinnerungen auf. Vor zwei Jahren hatten Premierministerin Liz Truss und ihr Schatzkanzler Kwasi Kwarteng ihren Haushaltsplan mit enormen ungedeckten Steuersenkungen präsentiert. Der IWF übte damals scharfe Kritik an den Plänen, weil sie die Fiskalregeln zur Limitierung der Neuverschuldung ausser Kraft setzten. Und tatsächlich wurden die Investoren aufgeschreckt – und Truss innert Kürze aus dem Amt katapultiert.

Im Wahlkampf erinnerte die Labour-Partei die Wähler pausenlos an die damaligen Marktturbulenzen. «Liz Truss hat die Grundregeln der Mathematik vergessen, wonach Rechnungen aufgehen müssen», sagte Reeves. Nun aber kündigte die neue Schatzkanzlerin in Washington an, dass sie angesichts der schlechten Finanzlage Grossbritanniens am Mittwoch einen Staatshaushalt präsentieren werde, der nicht nur Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen vorsehe, sondern auch die staatlichen Fiskalregeln lockere.

Neue Definition von Schulden

Die heutige Ausgangslage unterscheidet sich von jener 2022, als Grossbritannien mit einer hohen Inflation kämpfte und als Truss und Kwarteng die Märkte völlig überraschten. Reeves hingegen hat die Investoren behutsam auf ihre Pläne vorbereitet. Die heutigen Fiskalregeln sehen vor, dass die staatliche Schuldenlast gemessen an der nationalen Wirtschaftsleistung innert fünf Jahren sinken muss und dass die Neuverschuldung nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen darf.

Reeves will die Definition der Schulden ändern, um an den Kapitalmärkten mehr Geld aufzunehmen. Konkret könnte das Finanzministerium künftig auch Aktivposten des Staates wie an Studenten vergebene Darlehen, Beteiligungen an Privatunternehmen oder womöglich gar Brücken und Strassen in die Gleichung einbeziehen. Dies soll Reeves eine zusätzliche Neuverschuldung im Umfang von 50 Milliarden Pfund (56,4 Milliarden Franken) ermöglichen – allerdings nicht zur Finanzierung laufender Ausgaben wie Löhne, sondern nur für Investitionen wie Infrastrukturprojekte.

Im Wahlkampf hatte Reeves noch versprochen, sie werde haushälterisch mit den Staatsfinanzen umgehen. Nun setzt sie auf buchhalterische Tricks und sagt, die Regierung müsse das marode Gesundheitswesen sanieren und die veraltete Infrastruktur auf Vordermann bringen. «Wir können es uns nicht leisten, nicht zu investieren», erklärte sie in einem Interview. Der IWF unterstützte Reeves und liess verlauten, zusätzliche Investitionen seien in Grossbritannien tatsächlich «dringend nötig». Doch wie die Märkte genau reagieren werden, bleibt abzuwarten. Reeves muss aufpassen, dass sie die Neuverschuldung nicht zu weit treibt, da sonst die Zinsen für britische Staatsanleihen in die Höhe schnellen könnten.

Das «Hirn» der Labour-Regierung

Seit Wochen fiebern die britischen Medien dem Haushalt entgegen, dessen Präsentation dem bisher wichtigsten Moment in Reeves’ Karriere gleichkommt. Die 45-Jährige wird oft als «Hirn» der Labour-Regierung bezeichnet. Premierminister Keir Starmer gilt als Jurist ohne wirtschaftspolitische Affinität, weshalb er Reeves weitgehend freie Hand lässt. Reeves ist die erste Frau an der Spitze des mächtigen Finanzministeriums, das über die Zuteilung der Ressourcen an die anderen Ministerien entscheidet.

Die Mutter zweier Kinder gilt als willensstark und dossierfest. In der Londoner City attestiert man ihr eine «unideologische Haltung». An Glaubenskämpfen war Reeves nie interessiert. Sie wuchs als Tochter eines Lehrerehepaars in einfachen Verhältnissen im Südosten von London auf. Den Weg in die Politik fand sie über ihre Erfahrungen an einer staatlichen Schule, wo es zu wenig verfügbare Klassenzimmer und zu wenig Schulbücher gab. «Ich war stets an praktischer Politik interessiert», sagte sie im Podcast «The Rest Is Politics».

Reeves fiel in der Schule früh durch ihre mathematische Begabung auf. Ihre Leidenschaft galt dem Schachspiel: Sie wurde britische U-14-Schachmeisterin und spricht bis heute über ihre Genugtuung, wenn sie Mädchen aus teuren Eliteschulen schachmatt setzen konnte.

Als eine der ersten Absolventinnen ihrer Schule schaffte Reeves die Aufnahmeprüfung der Universität Oxford, wo sie Wirtschaftswissenschaften studierte. Nach einem Masterstudium an der London School of Economics heuerte sie bei der Bank of England an und wirkte später auf der britischen Botschaft in Washington. Danach arbeitete sie im Retailgeschäft der Halifax Bank of Scotland in der nordenglischen Stadt Leeds. Seit 2010 vertritt sie einen Wahlkreis von Leeds als Abgeordnete im Unterhaus.

Politische Wortklaubereien

Vertreter des linken Labour-Flügels blickten stets misstrauisch auf Reeves’ Lebenslauf und argwöhnten, sie sei Teil des wirtschaftlichen Establishments. Sie sahen sich bestätigt, als Reeves im Sommer ankündigte, dass die staatlichen Heizzuschüsse künftig nur noch an die ärmsten statt an alle britischen Rentner ausbezahlt werden sollten. Manche Beobachter glauben, die Schatzkanzlerin habe den Finanzmärkten signalisieren wollen, sie sei fähig, schmerzhafte Kostensenkungen durchzusetzen. Doch da der Schritt isoliert kommuniziert wurde, wirkte er wie eine einseitige Sparmassnahme auf dem Buckel der empörten Pensionäre.

Reeves mag eine fähige Ökonomin sein, doch ist sie auch eine talentierte Politikerin? Die Schatzkanzlerin spricht von einem riesigen Finanzloch im Staatshaushalt, für das sie mit einigem Geschick die konservative Vorgängerregierung verantwortlich macht. Unglaubwürdig wirken für viele Wähler aber die Wortklaubereien der Regierung, die im Wahlkampf Steuererhöhungen für die «arbeitende Bevölkerung» ausschloss und nun die Lohnabgaben für Arbeitgeber erhöhen will – als ob Kleinunternehmer nicht zur arbeitenden Bevölkerung zählten.

Reeves setzt nicht nur darauf, dass die Märkte ihre buchhalterischen Tricks akzeptieren. Sie hofft auch, dass die Wählerinnen und Wähler Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen kurzfristig schlucken, wenn es der Regierung mittelfristig gelingt, die Infrastruktur des Landes zu sanieren. Als Schachspielerin, so sagte sie einmal, plane sie immer mehrere Züge voraus.

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