Die beiden führenden Opernhäuser Wiens zeigen gleichzeitig Neuinszenierungen von Vincenzo Bellinis «Norma». Das Kräftemessen, an dem die gefeierte Sopranistin Asmik Grigorian in einer Paraderolle von Maria Callas debütiert, geht unerwartet aus.
Zwei Bellini, bitte! In der Regel würde man einen Wunsch dieser Art wohl in der Bar seines Vertrauens äussern. In Wien, wo man sich seit Mozarts Zeiten als Welthauptstadt der Musik versteht, kann sich eine solche Forderung derzeit aber auch auf den künstlerischen Dienstleistungssektor beziehen. Denn im Februar offerierten das kleine, aber feine Theater an der Wien und die grossmächtige Wiener Staatsoper innert Wochenfrist zwei verschiedene Neuinszenierungen von Bellinis «Norma».
Eine klassische Belcanto-Battle also. Und das hier immer noch besonders opernnärrische Publikum diskutierte schon Monate zuvor erregt: Wo würde die szenisch interessantere, wo die musikalisch stimmigere, wo die insgesamt hochwertigere «Norma» zu erleben sein? Welches Opernhaus würde aus dem künstlerischen Kräftemessen als Sieger hervorgehen?
Gross gegen klein
Die beiden Kombattanten, die sich ungeplant – wie allenthalben betont wird – diesem direkten Vergleich stellen, wirken dabei auf den ersten Blick wie David und Goliath. Die Staatsoper ist der Platzhirsch der Branche, Aushängeschild und Flaggschiff der österreichischen Bundestheater. Fast 650 000 Besucher lockte man in der Saison 2023/2024 an, davon 40 Prozent aus dem Ausland. Das Haus fasst gut 2100 Besucher und ist fast immer voll. In der laufenden Saison zeigt man 45 unterschiedliche Opern- und 7 Ballettproduktionen. Eine Studie der Wiener Wirtschaftskammer attestierte der Staatsoper jüngst einen gesamtwirtschaftlichen Beitrag zum Bruttoinlandprodukt von 296 Millionen Euro. Das Haus wird seit 2020 von Bogdan Roščić geführt, der zuvor in leitenden Positionen bei internationalen Klassiklabels tätig war.
Im Verhältnis dazu ist beim Theater an der Wien alles ein paar Nummern kleiner. Im traditionsreichen, rund tausend Besucher fassenden Haupthaus am Naschmarkt zeigt man in dieser Saison acht szenische Produktionen, jeweils im Stagione-Betrieb, also en bloc, und noch einmal so viele konzertante Opernaufführungen. Solisten, Chor und Orchester werden für jede Produktion separat gebucht, meist wechseln sich im Orchestergraben die Wiener Symphoniker und das ORF-Radio-Symphonieorchester ab. Intendant des von der Stadt getragenen Hauses und der assoziierten Wiener Kammeroper ist seit 2022 der gefeierte Regisseur Stefan Herheim. Der Norweger setzt bevorzugt auf Raritäten.
Sein Haus machte beim «Norma»-Wettstreit den Anfang. Herheim hat das Projekt allerdings von seinem Vorgänger geerbt: Roland Geyer wollte Bellinis Meisterwerk bereits im Mai 2020 in einer Neuinszenierung von Vasily Barkhatov zeigen, mit Asmik Grigorian in der Titelpartie; die Corona-Pandemie vereitelte das Vorhaben. In der Produktion, die im April an die Berliner Lindenoper übersiedelt, setzt der russische Regisseur die gefeierte Sopranistin, übrigens seine Ex-Frau, als Vorarbeiterin einer Fabrik in Szene. Darin werden Statuen für das herrschende Militärregime hergestellt.
Statt Eisenkraut im Haar trägt Grigorian als Norma nun Ostblock-Grau, anstelle des Mondes beleuchten Neonröhren die Zusammenkunft der Unterdrückten und ihrer Anführerin im Kampf gegen die Römer. Asmik Grigorian, die grosse Singschauspielerin, zeigt und lebt die gallische Druidenpriesterin hier als moderne Frau, blass und doch kämpferisch, eingekeilt zwischen zwei Systemen und im Stich gelassen vom Vater ihrer Kinder, dem Militär Pollione.
Grigorian hat ihren Ausflug ins Reich des Belcanto – es soll angeblich ein einmaliges Abenteuer bleiben – ihrer litauischen Mutter Irena Milkevičiūtė gewidmet, die sie als eine der grössten Sopranistinnen ihrer Zeit bezeichnet. Grigorian eifert ihr freilich längst nach, und tatsächlich gelingt ihr eine Norma, die das Publikum mitreisst in die Strudel ihrer Verzweiflung. Die Sängerin strebt dabei weniger homogenen Schönklang als emotionale Dringlichkeit und Wahrhaftigkeit an.
Mehr Verismo als Belcanto bietet auch der Pollione von Freddie De Tommaso, dessen Tenor den Theaterraum wie eine Force majeure erobert, aber auch mit Intimität und Zärtlichkeit zu berühren weiss. Aigul Akhmetshina als Polliones neue Flamme Adalgisa besteht mit der dichten Glut ihres Mezzos in den Duetten mit Grigorian – was keine geringe Leistung ist. Schade, dass Francesco Lanzillotta die Wiener Symphoniker nur zu einer durchschnittlichen Interpretation anleitet.
Da stachelt sein Landsmann Michele Mariotti das Staatsopernorchester deutlich energischer an: Straff, drahtig und nervös zeichnet der Italiener die Anspannung bereits in der Ouvertüre zur «Norma» nach. Die Zusammenkunft der von den Römern unterdrückten Gallier ereignet sich in der Inszenierung von Cyril Teste in einem Notlager in einem grossen Industriebau. Grossaufnahmen von Norma und den spielenden Kindern werden live auf eine transparente Fläche vor der Szene projiziert und bringen Einzelschicksale näher.
Im Gegensatz zu Barkhatov, der ebenfalls auf ein antikisierendes Ambiente für seine Produktion verzichtet, gibt der Franzose auch der Poesie Raum: Wogende Baumwipfel erinnern an den heiligen Hain Irmins, an die Erlöserkraft der Natur, und das Bühnenbild von Valérie Grall labt das Auge mit malerischen Bildern. Ein von Francis Kurkdjian eigens kreierter, erdig-holziger Duft erweitert das Gesamtkunstwerk sogar um eine olfaktorische Dimension.
Gesungen wird die «Norma» an der Staatsoper deutlich ebenmässiger, bescheidener, belcantesker als im Theater an der Wien: Biedermeier statt Belle Époque, Ziergarten statt Stimmenzunder. Umgekehrt hätte es mehr Sinn ergeben. Der gedeckte, weiche Sopran von Federica Lombardi in der Titelrolle ist ganz homogene Schönheit, der Tenore di grazia von Juan Diego Flórez bleibt wegen seiner beschränkten dynamischen Bandbreite überwiegend dem Harmlosen verhaftet. Am vielseitigsten und wandlungsfähigsten präsentiert sich Vasilisa Berzhanskaya: Ihre Adalgisa – eine Rolle, in der einst etwa die junge Christa Ludwig neben Maria Callas zu bestehen hatte – wächst über die fromme Unschuld vom Land hinaus und erreicht dramatische Wucht.
Szenisch wie musikalisch geht der Vergleich zwischen David und Goliath am Ende durchaus überraschend aus – mit einem bereichernden Unentschieden. Als Sieger darf neben dem Publikum auch der Komponist Bellini gelten: der grosse Melodiker, der menschliches Leid in duftige, von Streicherpizzicati unterfütterte Kantilenen zu transformieren wusste, so süss wie der gleichnamige Pfirsich-Cocktail.