Mittwoch, Januar 15

Die Schweiz nimmt eine linke Initiative an – wieso haben so viele Bürgerliche zugestimmt?

In den bürgerlichen Parteien hielten sich im Abstimmungskampf viele vornehm zurück, wenn es darum ging, gegen eine dreizehnte Rente zu kämpfen. Eigentlich war man geschlossen dagegen, aber das Spitzenpersonal verzichtete auf Auftritte in grossen politischen Arenen, im Fernsehen traten Jungpolitiker auf. Zu populär war die Initiative an der eigenen Basis. Nicht selten deshalb: Schweigen in allen Landessprachen.

Am Sonntag, als die Niederlage feststand, verloren sich noch ein paar wenige Funktionäre mit langen Gesichtern und verschränkten Armen im Restaurant Grosse Schanze in Bern. Monika Rühl, Direktorin von Economiesuisse, relativierte ihr Engagement im Abstimmungskampf: Man sei zwar operativ, aber nicht inhaltlich zuständig gewesen. Wer irgendwie konnte, distanzierte sich von einer der grössten Niederlagen der bürgerlichen Schweiz.

Aus dem Hotel Bern, wo sich die linken Gewinner der 13.-AHV-Initiative trafen, kamen gleichzeitig euphorische Bilder – die Arme nicht verschränkt, sondern in die Höhe gestreckt. Erstmals gewannen Gewerkschaften und linke Parteien eine Initiative über den Ausbau des Sozialstaats.

Und so bleibt in den bürgerlichen Parteien am Tag danach die Frage, was dieses Abstimmungsresultat bedeutet: Haben sie ihre eigene Basis und die alte Selbstverständlichkeit verloren?

Die Wagenknecht-Schweiz

Ein nationaler Linksrutsch kann es nicht gewesen sein. In den kantonalen Wahlen in Uri, Schwyz und St. Gallen, die am gleichen Sonntag stattfanden, verloren SP und Grüne. Grosse Gewinnerin stattdessen? Die SVP.

Bei der SVP verdichten sich die Zeichen dieses Sonntags: Nicht nur die Wahlerfolge in den Kantonen sprechen dafür – eine Nachwahlbefragung von Tamedia ergab auch, dass die Basis der Partei mehrheitlich für eine dreizehnte Rente stimmte (gegen die Parole der eigenen Parteileitung). Die Initiative der Gewerkschaften muss massgeblich durch bürgerliche Stimmen angenommen worden sein. Eine Ahnung von diesem Zeitgeist war im Januar an der Albisgütli-Tagung in Zürich zu spüren, wo der rechte Elitenkritiker Christoph Blocher von der SVP und der linke Elitenkritiker Pierre-Yves Maillard vom Gewerkschaftsbund das gleiche Publikum überzeugten.

Peter Keller, der als Generalsekretär der SVP in die Abstimmungskampagne involviert war, sagt: «Es ist interessant, dass die Leute am Sonntag ganz anders abgestimmt als gewählt haben.» In diesem Sinn erkennt er einen schweizerischen Sahra-Wagenknecht-Moment – benannt nach der links-rechten deutschen Politikerin, die gleichzeitig den Sozialstaat ausbauen und die Grenzen sichern will. Im Generalsekretariat der SVP kamen viele Zuschriften an: Das Geld fliesse überallhin, ins Asylwesen, in die Ukraine, in die Entwicklungshilfe. «Die Eliten haben sich Sonderbedienungszonen eingerichtet», sagt Peter Keller, «jetzt melden die Leute selbst Bedarf an: Switzerland first, ich zuerst!»

Die doppelte Elitenkritik

Die Kritik an liberalen Eliten, die Wagenknecht in Deutschland gross gemacht hat, scheint auch in der Schweiz zu einem entscheidenden Element zu werden: Erhebungen des Meinungsforschers Michael Hermann ergeben, dass das Vertrauen in die liberale Elite, die lange Staat und Wirtschaft dominierte, abnimmt – stattdessen steigt die Bereitschaft für staatliche Interventionen.

Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen und der vielleicht aktivste bürgerliche AHV-Abstimmungskämpfer, sieht aber keine Zeitenwende gekommen. «Viele Bürgerliche haben aus Protest für eine dreizehnte Rente gestimmt.» Er beobachtet eine Art doppelte Elitenkritik: an der Politik in Bern, «die sonst auch immer Geld für alles hat», und an Managern, «die sich bedienen, ohne sich verantworten zu müssen».

Nachdem die Credit Suisse vom Staat hatte gerettet werden müssen, brachte Matthias Müller die Idee einer «Manager-Verantwortungs-Initiative» ein – auch weil er weiss, dass sich Verfehlungen in der Businessclass politisch unmittelbar auf die FDP auswirken. Die Initiative wurde nicht lanciert, aber Müller appelliert an die Eliten: «Die Obersten in Wirtschaft und Staat müssen sich zurücknehmen, und die Unteren dürfen nicht vergessengehen. Nur so funktioniert die Schweiz.»

Sowohl FDP als auch SVP wollen ihren sozialpolitischen Kurs nicht ändern – sie wollen den Zeitgeist überwinden, indem sie ihn besser bekämpfen. Die Kritik an den kampagnenführenden Wirtschaftsverbänden ist am Tag nach der Abstimmung gross: falsche Leute, falsches Timing, falscher thematischer Fokus. Aus den Verbänden müssten Kampfverbände im Sinne der Gewerkschaften werden.

Aber vielleicht ist die bürgerliche Krise doch grundsätzlicher – weil die bürgerliche Einheit erodiert?

Nichtsozialistisch sozial

Gerhard Pfister, der Präsident der Mitte-Partei, machte am Sonntagabend einen gefassten Eindruck, so, als hätte er das Resultat kommen sehen. Vielleicht auch, weil er sich in seinem eingeschlagenen Kurs bestärkt fühlt: Seine Mitte orientiert sich sozialpolitisch nach links.

«Die Bevölkerung denkt schon lange nicht mehr in den Blöcken ‹bürgerlich› und ‹links›», sagt Pfister. Auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürger habe sich verändert. Nicht alles, was von links oder vom Staat komme, werde zum Vornherein verteufelt. «Wir müssen schauen, dass wir für soziale Fragen nichtsozialistische Lösungen entwickeln», sagt Pfister. Der Mitte-Präsident kann für seine Partei immerhin beanspruchen, dass sie einen inoffiziellen Gegenvorschlag zur Vorlage sowie die Idee eines möglichen Finanzierungsvehikels entwickelte.

Der Mitte-Ständerat Beat Rieder hatte gemeinsam mit der GLP-Nationalrätin Melanie Mettler noch versucht, zielgerichtet die tiefsten Renten zu erhöhen. Schon vor drei Jahren hatte Rieder zudem den Vorschlag eingespeist, die AHV mit einer Besteuerung des Wertpapierhandels zu finanzieren. Lange verfemt, könnte der Vorschlag plötzlich mehrheitsfähig werden. Der FDP-Präsident Thierry Burkart zeigte sich am Sonntagabend zumindest offen. Sehen die Konservativen Pfister und Rieder, was andere Bürgerliche nicht sehen?

Der «völlig enthemmte Neoliberalismus angelsächsischer Natur» habe innert weniger Jahre dazu geführt, dass der Staat gleich zweimal mit horrenden Summen einer renommierten Schweizer Bank zu Hilfe habe eilen müssen, sagt Pfister. «Man kann es den Stimmbürgern nicht übelnehmen, dass sie sich mit einer 13. Rente absichern wollen, nachdem sich die Wirtschaftselite über Jahre auf ihre Kosten bereichert hat.»

Die Selbstkritik ist bei Pfister vor allem eine Kritik an den Wirtschaftsverbänden. Man habe sich vom Druck der Verbände zu sehr beeindrucken lassen und auch deshalb die Möglichkeit eines Gegenvorschlags zu leichtfertig verworfen, sagt Pfister. Der Mitte-Präsident will daraus seine Lehren ziehen, etwa für die anstehenden Diskussionen über den EU-Vertrag. «Auch hier sollen wir machen, was die Wirtschaft von uns verlangt. Aber ist es wirklich im Interesse der Bürgerinnen und Bürger?»

Das Bild von den wenigen armeverschränkenden Verlierern im Restaurant Grosse Schanze ist ein Symbol: Zu sehen ist eine Art letztes Aufgebot, aus dem sich viele schon verabschiedet haben. Zwar ist man sich darüber einig, dass die angenommene linke Initiative nicht das Zeichen eines neuen linken Zeitgeists sein muss, aber man ahnt gleichzeitig, dass es noch weniger das Zeichen eines bürgerlich-liberalen Zeitgeists ist.

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