Donnerstag, Oktober 10

Stefano Artioli hat sich in das Gebäude verliebt. Er will dem vergammelten Prunkbau den alten Glanz wiedergeben – und damit auch dem Filmfestival. Wer ist der schillernde Tessiner Unternehmer, der im Ferrari zur Baustelle kommt. Eine Begegnung.

Bevor er das Grand Hôtel Locarno kaufte, kaufte sich Stefano Artioli einen Palazzo. Vor fünf Jahren erwarb der Tessiner Immobilienunternehmer den Palazzo Albertolli in Lugano. In der neoklassischen Villa hatte achtzig Jahre lang die Schweizer Nationalbank ihren Sitz. Dann zog die Bank Wegelin ein, die später über ihr Amerikageschäft stolperte. Jetzt wohnen da die Artiolis.

Auf dem Handy zeigt Stefano Artioli ein paar Fotos: Der Flügel im Musikzimmer ist hundert Jahre alt, es gibt filigrane Freskenmalereien von 1815, als das Haus erbaut wurde. Wie gross der Palazzo sei? Artioli legt das Handy weg und schaut ein bisschen verwundert, so, als habe er noch gar nicht darüber nachgedacht. «Sechs Stockwerke, zwei unterirdisch.»

In einer Homestory, die er der Zeitschrift «L’illustré» gewährte, ist von 1650 Quadratmetern die Rede. Laut «Bilanz» gehört Artioli zu den 300 reichsten Schweizern. Seine Geldpolitik ist locker: Er gibt gerne aus.

Stefano Artioli, 63 Jahre alt, hat fürs letzte Lebensdrittel beschlossen, sich etwas zu leisten. Ein Bergdorf beispielsweise. Er ist dabei, das quasi ausgestorbene San Bernardino im Misox wieder zu beleben. «San Bernardino Swiss Alps» heisst das Projekt, zweihundert, vielleicht dreihundert Millionen muss Artioli aufwenden. Verglichen damit wirkt der Kauf des Grand Hôtel Locarno fast wie ein konservatives Investment. Aber nur fast.

Mussolini war im Grand Hôtel

Seit 2005 steht das Hotel leer. Gleich beim Bahnhof Locarno, hinter dem McDonald’s, vergammelt eines der geschichtsträchtigsten Gebäude der Schweiz. Vor hundert Jahren wurde hier der europäische Frieden nach dem Ersten Weltkrieg gesichert. Reichskanzler Hans Luther war ins Grand Hôtel gekommen, um die Verträge von Locarno zu unterzeichnen, Austen Chamberlain war dabei, Benito Mussolini.

Später traf sich jahrzehntelang die internationale Filmprominenz in dem Prunkbau mit den markanten Aussentreppen, die zweiseitig in den weitläufigen Park hinabführen. In den ersten 25 Jahren, bevor es die Piazza Grande gab, fanden im Palmengarten die Freiluftvorführungen des Festivals statt. Gina Lollobrigida liess sich blicken, später Marlene Dietrich.

Tempi passati. 2005 berichtete die NZZ, dass für den «Kasten aus der Belle Époque» 22 Millionen Franken hingeblättert werden müssten. Über die Jahre gab es ein halbes Dutzend Anläufe, das Hotel zu retten. Mögliche Käufer kamen und gingen. Darunter die Credit Suisse, ausserdem der Denner-Erbe René Schweri, der sich ein einjähriges Vorkaufsrecht gesichert hatte, dann aber verzichtete. Das Risiko war ihm zu gross.

Nicht so für Stefano Artioli. «Wieso ich es gekauft habe? Das ist wie zu fragen: Wieso haben Sie geheiratet?» Man hatte sich einfach gefunden, das Hotel ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Vor drei Jahren war er gerade auf seiner Jacht, irgendwo zwischen Sizilien und Malta, als er das Geschäft machte. Er rief den Anwalt der Eigentümergemeinschaft an und sagte: «Ich zahle 21 Millionen Franken, in 30 Tagen muss der Abschluss gemacht sein.» – «Ist das ein Witz?», soll der Anwalt geantwortet haben. Er konnte es offenbar nicht glauben, dass die Geschichte doch noch ein gutes Ende nehmen sollte.

Er kaufte unter einer Bedingung

Wenn sich Stefano Artioli etwas vornimmt, zögert er nicht lange. In seinem Beruf müsse man Risiken eingehen, sagt der Selfmade-Millionär, weisse Hose, senfgelbes Poloshirt, blaue Wildleder-Mokassins. Wie er geschlafen habe in der Nacht, nachdem er das Angebot abgegeben hatte? «Bene.»

Beim Kauf habe er nur eine Bedingung gestellt, sagt Artioli: Sein Name sollte bis kurz vor dem Abschluss unter Verschluss bleiben. Wieso? Ist er eine so kontroverse Figur? Im Restaurant in Locarno, vorderster Tisch zum See hinaus, schaut Stefano Artioli kurz von seinem Vitello tonnato auf. «Im Tessin gibt es Leute, die gerne schöne Dinge blockieren, wenn man ihnen die Möglichkeit lässt.»

Einer der Eigentümer des Hotels sei etwa ein Konkurrent von Artiolis Immobilienfirma, der Artisa Group, gewesen. Kurz vor der Unterzeichnung des Vertrags war der Mann plötzlich nicht mehr erreichbar. Wie vom Erdboden verschluckt, als wollte er den Verkauf verhindern. «Wie in einem Film war das», sagt Artioli. Im letzten Moment wurde die Person gefunden. Offenbar machten die anderen Eigentümer Druck. Den Verkauf wollten sie sich nicht entgehen lassen.

Dem Filmfestival könnte das neue Grand Hôtel den schmerzlich vermissten Glanz zurückbringen. Denn in den vergangenen Jahren fiel es der künstlerischen Leitung zunehmend schwer, internationale Kinoprominenz nach Locarno zu locken. Das hatte auch mit den praktisch nicht vorhandenen Luxushotels in der Stadt zu tun. Als sich 2011 mit Harrison Ford und Daniel Craig das letzte Mal Vertreter von Hollywood oberster Liga nach Locarno bequemten, übernachteten die beiden in Lugano.

Solari freut’s

Mit der Renovation des Grand Hôtel gebe Artioli «dem Locarneser Tourismus das Admiralsschiff zurück», sagt Marco Solari. Der ehemalige Tourismus- und Festivalpräsident hofft auf einen «Ort des Glamours und der intellektuellen nächtlichen Diskussionsrunden».

Zwar werde es nie mehr so sein wie in den letzten Jahren des Hotels. Damals war es «das einzige Grand-Hotel in der Schweiz mit zwei Sternen», scherzt Solari. Er meint das aber auch wohlwollend: Lange habe das Haus den Geist der 68er geatmet. «So wird es nicht mehr, die Zeiten sind andere.»

Man kenne sich schon lange, sagt Stefano Artioli. Kurz nach dem Kauf sah er Solari zufällig im Hotel Splendide in Lugano. Artioli kritzelte die Worte «Grand Hôtel Locarno» auf eine Serviette und bat den Kellner, Solari die Serviette zu bringen. Solari kam zu ihm und rief: «Was ist das? Wie, du hast es gekauft?»

«Vielleicht bin ich visionär, oder ich bin verrückt», sagt heute Stefano Artioli.

Ein 800-Kilo-Kronleuchter

2026 soll Eröffnung sein. Die Arbeiten am Hotel sind aber noch sehr am Anfang, dies der Eindruck beim Baustellenrundgang. Bereits fortgeschritten ist der Bau einer imposanten Tiefgarage, die Nobelkarossen der Gäste wollen schliesslich versorgt sein.

Die Arbeiten am Hotelgebäude verlangen viel Fleiss. Freskenmalereien und Stuckaturen müssen vorsichtig freigelegt werden, damit das Haus, das 1876 eröffnet wurde, ausgehend vom Originalzustand instand gesetzt werden kann. «Es ist keine Renovation, es ist eine Restauration», sagt Artioli. Allein der 800 Kilo schwere Kronleuchter aus Murano-Glas, der grösste der Welt, muss in fünfmonatiger Arbeit in Murano neu hergerichtet werden.

Stefano Artioli hat einen Mitarbeiter bei sich, der übersetzt; er spricht kein Deutsch, aber ein Wort, das er kennt, ist «Heimatschutz». Der Baufachmann ist sich bewusst, dass die Arbeiten viel Geduld und Geld (laut dem «Corriere del Ticino» 80 Millionen Franken) verlangen. Wenn er woanders etwas kaufe, interessiere das niemanden, sagt Artioli. «Das hier interessiert die ganze Schweiz.» Hier seien die Augen der Gesellschaft auf ihn gerichtet, die Augen der Politik, der Grand-Hotel-Liebhaber und der Bürger von Locarno. «Das Grand Hôtel gehört auch ihnen, es gehört zur Geschichte.»

Auf der baufälligen Terrasse steht ein stolzer Stefano Artioli und schaut auf den See oder vielleicht auch auf das Denkmal, das er sich vor seinem inneren Auge setzt.

«Ich komme aus der Tessiner Arbeiterklasse», sagt er. «Für mich ist es wichtig, dem Tessin etwas zu geben.» Gefragt, ob er sich von der Politik genug unterstützt fühle, muss Artioli lachen. Nein, aber das sei jetzt auch nicht wichtig. Es sei manchmal besser, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Dem Immobilienunternehmer wäre es recht, wenn sich die Politik weniger einmischen würde. «Gerade im Tourismus wird viel politisiert, statt dass die Probleme gelöst werden.»

Er fährt den SUV-Ferrari

Artioli schätzt die Freiheiten in der Schweiz. Seine Familie sei 1955 aus Italien gekommen, der Vater war 18 Jahre alt. «Er blieb bis zu seinem Tod.» Während es in Italien nicht leicht war wegen der starken Gewerkschaften, seien ihm in der Schweiz alle Türen offengestanden. Nördlich von Bellinzona baute er ein Metallbauunternehmen auf. Als Stefano volljährig war, stieg er sofort in den Betrieb ein.

Mit Arbeit und der richtigen Mentalität sei alles möglich, sagt Artioli. «Die Leute sagen, die USA seien das Land der Träume. Aber die Schweiz ist das wahre ‹land of dreams›.»

Als er 15 Jahre alt war, erinnert sich Stefano Artioli, habe er allen gesagt, dass er «mit 40 eine Million auf dem Konto und einen Ferrari» haben wolle. Denn die Familie stammt aus der Ferrari-Stadt Modena. Doch als er das Alter erreichte, hatte er weder das eine noch das andere. «Ich musste einen Gang zulegen und die Autobahn nehmen.» Die Ziele wurden hochgeschraubt. Mit 50 Jahren sollten es 100 Millionen sein.

Wie er es geschafft hat, führt er nicht näher aus, aber ein neuer Geschäftszweig mit möblierten Mikroappartements hat wohl dazu beigetragen. Mittlerweile ist Stefano Artioli 63 Jahre alt, und die «Bilanz» schätzt sein Vermögen auf 250 bis 300 Millionen Franken. Auf dem Parkplatz vor der Baustelle hat er seinen Ferrari Purosangue parkiert, das SUV-Modell des Sportwagenherstellers. Wie viele Ferraris er besitze? «Sagen wir, ein paar.»

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