Die Macht des künftigen Präsidenten hängt stark davon ab, welche Partei die Mehrheit im Kongress hat. Im Orange County könnte sich entscheiden, ob die Republikaner das Repräsentantenhaus halten können.
Die kalifornische Sonne knallt durch die Palmwedel auf das Trottoir, wo Sandra Robbie und Steve Lawrence nebeneinander am Strassenrand stehen. Die beiden sind ein Hingucker hier, an der Hauptstrasse der Stadt Tustin im Herzen vom Orange County. Zahlreiche Autofahrer hupen, manche strecken den Daumen hoch, andere den Mittelfinger.
«Das Schöne ist, dass man nie weiss, wem von uns was gilt», sagt Lawrence – Bauchansatz, glatt rasiert, das graue Haar trägt er zurückgekämmt. Seite an Seite haben Lawrence und Robbie Poster für «Trump 2024» und «Harris-Walz» aufgespannt und verkaufen Fanartikel der Präsidentschaftskandidaten.
Am besten verkauften sich die Make-America-great-again-Mützen, sagt der 64-Jährige und rückt einen Stapel zurecht. «Die Leute wollen das, was Trump trägt.» Seit dem ersten Anschlag auf ihn sei auch die Fahne mit «Fuck your feelings» ein Renner. «Viele waren vorher heimliche Trump-Fans, nun wollen sie offen ihre Loyalität zeigen.»
Lawrence arbeitete früher in der holzverarbeitenden Industrie, nun verdient sich der Rentner ein Zubrot mit den Fanartikeln. Vor allem wolle er aber «an Trump zurückzugeben und ihn unterstützen». Natürlich seien er und Sandra Robbie politisch anderer Meinung, aber befreundet seien sie trotzdem. «Manchmal bringe ich ihr Pizza mit und sie mir Rugelach», jüdisches Gebäck.
Auch Sandra Robbie, 66 Jahre, hat ihre Wahlkampfartikel ausgebreitet: Harris-Anstecker, Tanktops mit aufgedruckten Kokospalmen, Baseball-Mützen mit Converse-Turnschuhen – das Markenzeichen der demokratischen Kandidatin. Gerade verkauft sie einer älteren Dame ein T-Shirt mit buntem «Kamala»-Aufdruck. Die Kundin ist völlig begeistert, dass Robbie hier ist. «Dass die Demokraten hier im Orange County so offen auftreten – das hätte es früher nicht gegeben. Das ist wirklich toll.»
Die Republikaner müssen ihre Sitze halten
Das Orange County ist einer der am meisten umkämpften Schauplätze in diesem Wahljahr. Denn wer auch immer bei der Präsidentenwahl siegt – für die Machtverhältnisse in Washington wird entscheidend sein, welche Partei im Senat und im Repräsentantenhaus die Mehrheit hat. Letzterem fallen Schlüsselaufgaben zu, wie die parlamentarische Aufsicht oder die Eröffnung von Impeachmentverfahren. Und sollten beide Kandidaten gleich viele Elektorenstimmen auf sich vereinigen – zum ersten und einzigen Mal geschah das im Jahr 1800 –, wird das Repräsentantenhaus gar zum Königsmacher bei der Präsidentenwahl.
Zurzeit halten die Republikaner in der grossen Kongresskammer acht Sitze mehr als die Demokraten – eine der dünnsten Mehrheit seit Jahrzehnten. Bei den allermeisten Kongressbezirken sei von vorneherein klar, welche Partei gewinnen werde, erklärt Mark Baldassare von der Denkfabrik Public Policy Institute of California im Gespräch. Nur eine Handvoll Rennen sei wirklich offen und werde über die Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus entscheiden. «Letztlich kommt es auf wenige Sitze in Kalifornien und in New York an.»
Speziell hier im Orange County – einem Bezirk mit gut drei Millionen Einwohnern in Südkalifornien – sind gleich vier Kongresssitze «stark umkämpft», wie der überparteiliche «Cook Political Report» ermittelt hat: Zwei davon sind zurzeit in republikanischer Hand, einer in demokratischer und einer offen, weil die demokratische Amtsinhaberin nicht mehr antritt. Wollen die Republikaner ihre Mehrheit verteidigen, müssen sie ihre Sitze im Orange County halten oder ausbauen. «Das Rennen um das Weisse Haus führt durch Kalifornien», urteilt der «Cook Political Report».
OC, die Heimat von Richard Nixon
Allein die Tatsache, dass die Abgeordnetensitze umkämpft sind, ist eine Sensation. Denn OC, wie die Einheimischen sagen, war lange eine konservative Hochburg. Richard Nixon wurde hier geboren, Barry Goldwater bejubelt und Ronald Reagan begraben. Was San Francisco für Amerikas Hippies ist, war das Orange County lange für die Konservativen. «Die guten Republikaner gehen, bevor sie sterben, ins Orange County», sagte Reagan einst. Selbst als der Rest Kaliforniens Ende der neunziger Jahre zunehmend politisch nach links rückte, blieb das Orange County konservativ; ein roter Fels in einem blauen Meer.
Doch 2016 schlug der erste Blitz ein. Mit Hillary Clinton siegte zum ersten Mal seit achtzig Jahren eine demokratische Präsidentschaftskandidatin im Orange County. 2018 folgte der nächste Donnerschlag: Die Demokraten gewannen sämtliche Kongresssitze im Bezirk. Das liessen die Republikaner nicht auf sich sitzen: 2020 fuhren sie alle Geschosse auf und eroberten zwei Abgeordnetensitze zurück. Seitdem ist das Orange County die Verkörperung eines «swing county» – heiss umkämpft und ergebnisoffen.
Vom Orange County gehe eine Signalwirkung für den Rest des Landes aus, sagt der Politologe Mark Baldassare. «Für die Zukunft beider Parteien ist es wichtig zu beobachten, was in Südkalifornien passiert – und wie sich die Wählerschaft dort verändert.»
An die Türen klopfen – und beten
Wer verstehen will, was mit der einstigen konservativen Hochburg passiert ist, muss ins Auto steigen. Fährt man vom linksliberalen Los Angeles eine Stunde nach Süden, immer die Pazifikküste entlang, fühlt man sich bald wie auf einem anderen Planeten. Kaum hat man den Fluss San Gabriel überquert, sieht man überall Stars and Stripes. In manikürten Vorgärten wehen Trump-Flaggen. Porsches und Ferraris düsen über den Highway.
Kalifornien ist hier weiss, konservativ – vermögend: Das Orange County ist eine der wohlhabendsten Regionen des Landes, das Median-Einkommen liegt bei 110 000 Dollar und damit 16 Prozent über dem kalifornischen Niveau.
Besonders offensichtlich wird das in der Hafenstadt Newport Beach. Unzählige Luxusjachten liegen vor Anker, Sportwagenhändler und Feinschmecker-Restaurants reihen sich aneinander. Und es ist Trump-Land, da gibt es keine Zweifel: Für die kommenden Tage ist ein «Boaters for Trump»-Fundraiser geplant.
Gegenüber dem Hafen, direkt am Highway 1, steht das Hauptquartier der lokalen Republikanischen Partei – kaum zu verpassen dank der riesigen Trump-Fahne davor. Der Kandidat begrüsst die Besucher gleich am Eingang: als lebensgrosse Pappfigur mit zwei hochgestreckten Daumen – ideales Selfie-Material. Wie fleissige Arbeitsbienen wuseln weisshaarige Damen durch den Raum, sie bauen Werbeschilder für den lokalen Kongresskandidaten Scott Baugh zusammen und verkaufen pinkfarbene Maga-Mützen für 20 Dollar. Eine Kundin zeigt auf Trump-Socken mit aufgesetztem Plüschhaar und sagt: «So was hat mein Mann als Schutzhülle für seine Golfschläger.»
An einem Tisch sitzt Bill Dunlap – eine Smartwatch am Handgelenk, «Yes and Amen» steht auf seiner Mütze. Der 75-Jährige kommt jeden Mittwochabend hierher und betet mit anderen ehrenamtlichen Helfern für den Kandidaten Scott Baugh.
Doch in der heissen Phase des Wahlkampfs will er mehr tun. «Die Demokraten konnten im Orange County aufholen, weil wir Republikaner bequem geworden sind», sagt er. Sie müssten im «ground game» besser werden: die Wähler anrufen, an Haustüren klopfen, sie für die Republikaner begeistern. Vor Dunlap liegt eine Liste mit Namen und Nummern von parteilosen Wählern, daneben ein Zettel mit Kernargumenten. Die nächste Stunde wird er am Telefon verbringen.
Das County wird bunter und gebildeter
Newport Beach, das ist das alte Orange County: demografisch wie politisch gleichförmig. Doch der demografische Wandel hat OC verändert: Die Bevölkerung wuchs seit 1990 von 2,4 Millionen auf 3,1 Millionen, vor allem dank hispanisch- und asiatischstämmigen Zuzügern. In der gleichen Zeit sank der Anteil der Weissen von zwei Dritteln auf ein Drittel.
Politisch habe das zwei Auswirkungen, erklärt der Politologe Jon Gould von der University of California Irvine, dessen Fakultät regelmässig Studien zum Orange County durchführt.
Erstens seien inzwischen viele der zugewanderten Latinos wahlberechtigt, und diese wählten eher demokratisch. Zweitens sei in den letzten Jahren das Bildungsniveau im Orange County gestiegen, sagt Gould. «Vielen Wählern mit Hochschulabschluss ist Trump aber suspekt, deswegen wenden sie sich zunehmend von der Republikanischen Partei ab.» Das liege auch daran, dass Trump den menschengemachten Klimawandel abstreite und neue Bohrrechte im Pazifik vergeben wolle. In einem County mit 70 Kilometern Küste sind solche Einstellungen unpopulär.
Das neue Orange County sieht man schnell, wenn man die Pazifikküste hinter sich lässt und gute 20 Autominuten ins Landesinnere fährt. Etwa nach Santa Ana. Hier sind die Geschäfte auf Spanisch angeschrieben, Salsamusik dröhnt über die Strassen, Händler verkaufen das Maisteiggericht Tamales. Santa Ana sei «das Gesicht eines neuen Kalifornien» – jünger, weniger weiss, gebildeter, schrieb die «New York Times». Acht von zehn Anwohnern sind hispanischstämmig.
Doch die Latinos sind nur ein Teil des Wandels. Im Nordwesten von Santa Ana säumen plötzlich buddhistische Tempel das Stadtbild. Strassenschilder sind in der vietnamesischen Lautschrift angeschrieben, Häuser haben geschwungene rote Ziegeldächer. Die Stadt Westminster ist eine der grössten vietnamesischen Enklaven in den USA, Spitzname: «Little Saigon».
Das Herz der Gemeinde ist ein Einkaufsareal, wo man Banh-Mi-Sandwiches, Strohhüte und Ao Dais kaufen kann, die langärmeligen Traditionsgewänder Vietnams. Im ersten Geschoss dieses Areals, oberhalb eines asiatischen Supermarktes, findet sich Unerwartetes: ein Gemeindezentrum der Republikanischen Partei. «Chao Mung» – «Willkommen» – steht auf Vietnamesisch an der Eingangstür, daneben ist die amerikanische Flagge gedruckt. Eine Trump-Fahne sucht man vergebens.
Die Republikaner verteidigen ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus auch in «Little Saigon». Besucher werden mit Gratis-Yogakursen und Musikunterricht angelockt, dazu gibt es eine Prise Wahlkampf: In einer Ecke stapeln sich Werbeplakate für die republikanische Kongressabgeordnete Michelle Steel, die um ihren Sitz zittert: Experten sehen auch dieses Rennen als «toss-up», als offen.
Viele vietnamesische Amerikaner gehen nicht wählen
Die vietnamesische Bevölkerung sei eigentlich ein Schatz für die Republikanische Partei, erklärt der Politologe Gould: Viele seien im Zuge des Vietnamkrieges in die USA gekommen und antikommunistisch eingestellt. Doch dieser Schatz sei schwer zu heben, weil viele nicht wählen gingen. Mit dem neuen Wahlbüro versuchten die Republikaner das zu ändern, «aber es dürfte zu wenig zu spät sein», glaubt Gould.
Das zeigt sich bei einem Gespräch in einem Schnellrestaurant in dem Einkaufsareal. Auf der Karte stehen Papayasalat, Hühnerfüsse und Rindfleisch mit Zitronengras. Eine der Kundinnen ist die 34-jährige Nancy, sie arbeitet als Ärztin und kauft gerade mit ihrer Mutter ein. Diese spricht kein Englisch, die Tochter erzählt deswegen: Die Eltern kamen vor rund vierzig Jahren im Zuge des Vietnamkriegs nach Kalifornien, sie und ihre drei Geschwister wurden hier geboren. Schnell zügelte die Familie nach «Little Saigon», bis heute schauen die Eltern die Nachrichten auf den vietnamesischen Sendern, die sich in der Diaspora etabliert haben.
Ihre Eltern seien politisch konservativ, sagt Nancy, vor allem, weil sie gegen China seien. Regelmässig klopften bei ihnen die Wahlkämpfer der Kongressabgeordneten Michelle Steel an die Tür. «Aber meine Eltern sind nicht der Wählertyp», sagt Nancy. Sie seien noch nie wählen gegangen. Auch ihre beiden älteren Brüder gingen nicht wählen, obwohl sie es alle dürften. «Politik interessiert sie einfach nicht.»
Möglicher Vorteil für die Demokraten
Und sie selbst? «Ich fühle mich den Demokraten näher», sagt Nancy leise und schaut dann schnell nach links und rechts, ob sie jemand gehört hat. «Das würde ich normal nicht laut sagen.»
Die vietnamesische Gemeinde werde mit jeder Generation gebildeter und rücke zunehmend in die politische Mitte, sagt der Politologe Gould und verweist auf seine Umfragen. «Gerade bei den jüngeren Wählern tun die Republikaner nicht genug, um sie auf ihre Seite zu ziehen – und dafür zu sorgen, dass sie auch wirklich wählen gehen.»
Im Wettrennen um das Repräsentantenhaus könnte es für die Demokraten letztlich zum entscheidenden Vorteil werden, dass mit Kamala Harris eine gebürtige Kalifornierin zur Wahl stehe, so Gould. Das könnte viele Wähler motivieren, tatsächlich an die Urnen zu gehen – und eine solch höhere Wahlbeteiligung könnte über die knappen Rennen im Orange County entscheiden.
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