Das Land an Europas Aussengrenze ist eines der Hauptziele für Migranten, die auf den Kontinent kommen. Die Regierung möchte, dass das auch in Zukunft so bleibt. Diese Haltung ist in der EU eine Ausnahme, stösst in Spanien aber erst seit kurzem auf Gegenwind.
Der Ton in der europäischen Migrationspolitik ist rau. Abschreckende Massnahmen wie Pushbacks, Grenzkontrollen oder die Aussetzung des EU-Asylrechts sind längst nicht nur Thema kontroverser Diskussionen – sie werden bereits umgesetzt. Brüssel verfolgt inzwischen selbst Experimente wie die Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten mit Interesse, auch wenn erste Versuche, etwa von Italien in Albanien, vorerst gescheitert sind.
Anders verhält es sich da in Spanien. Zwar ist das Land an der EU-Aussengrenze in den letzten Jahren zu einem Hauptzielland von Migranten in Europa avanciert. Mit rund 700 000 Asylanträgen seit 2015 zählt es zu den vier Ländern mit den meisten Gesuchen. Hinzu kamen über 220 000 Geflüchtete aus der Ukraine, und jeden Monat registrieren die spanischen Grenzschutzbehörden durchschnittlich etwa 5 000 irreguläre Grenzübertritte.
Doch in Spanien, so betonte Regierungschef Pedro Sánchez in letzter Zeit immer wieder, seien Migranten willkommen.
Das Land – aber auch der Kontinent – müsse sich entscheiden, ob es künftig reich und offen oder arm und verschlossen sein wolle, erklärte er bei einer Rede zur Asylpolitik im spanischen Parlament und am Rande des EU-Migrationsgipfels in Brüssel.
Abgewiesene Asylbewerber sollen legalisiert werden
Dabei warb der Sozialist auch für eine Reform der spanischen Ausländerverordnung, die Migranten den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern und noch dieses Jahr in Kraft treten soll. Geplant sind verkürzte Fristen für Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse, von denen eingewanderte Studierende, Arbeitssuchende, Familien – und insbesondere abgewiesene Asylbewerber – profitieren sollen.
So sollen abgewiesene Migranten, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung seit mehr als sechs Monaten illegal in Spanien aufhalten, eine Möglichkeit zur Legalisierung bekommen: Sie können eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Wie viele Abgewiesene davon profitieren könnten, ist ungewiss. Allein Ende 2023 hielten sich über 60 000 abgewiesene Asylsuchende trotz Ausreisepflicht noch in Spanien auf.
Es ist bereits die zweite Legalisierung von irregulären Migranten, die Spanien in diesem Jahr auf den Weg bringt. Im April stimmte eine breite Mehrheit im Parlament für ein Gesetz, das die ausserordentliche Legalisierung von bis zu 500 000 Zuwanderern vorsieht, die vor 2021 ins Land gekommen sind.
Dass Spanien inmitten europäischer Debatten über mehr Abschiebungen Hunderttausende irreguläre Migranten dauerhaft aufnehmen will, ist laut der Regierung eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Das Land ist derzeit Europas Wachstumsmotor. Investitionen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds, staatliche Energiepreissubventionen und ein boomender Tourismussektor kurbeln die Wirtschaft an; für dieses Jahr prognostiziert der Internationale Währungsfonds ein Wachstum von knapp drei Prozent.
Sánchez’ Regierung argumentiert, die Zuwanderung sei nötig, um dem Fachkräftemangel und dem demografischen Wandel entgegenzuwirken. Unerwähnt bleibt dabei die derzeitige Arbeitslosenquote von 11,8 Prozent. Zwar ist sie so niedrig wie seit 15 Jahren nicht mehr, doch immer noch die höchste in der EU.
Die Spanier wissen, was auswandern bedeutet
Aber nicht nur wirtschaftliche Gründe bewegen die linke Regierung zu einer offeneren Migrationspolitik: «Wir Spanier sind die Kinder der Einwanderung, wir werden nicht die Eltern der Fremdenfeindlichkeit sein», erinnerte Sánchez die Abgeordneten im Parlament kürzlich. Er verwies dabei auf Zeiten, in denen Hunderttausende Spanier auswanderten und in anderen Ländern ein besseres Leben suchten – sei es während der faschistischen Diktatur unter Franco oder jüngst nach der schweren Wirtschaftskrise von 2012.
Vor gerade einmal zehn Jahren emigrierten aus Spanien mehr Menschen, als in das Land einwanderten. Womöglich liegt darin ein Grund, warum die Zuwanderungsfrage in der Bevölkerung kaum als Problem gilt. Umfragen zeigen seit Jahren, dass nur ein geringer Prozentsatz der Spanier Migration als grosses Problem wahrnimmt.
In der Vergangenheit änderte sich das nur, wenn der spanische Grenzschutz auf den kanarischen Inseln oder an der Landgrenze zu Marokko einen deutlichen Anstieg irregulärer Grenzübertritte meldete. Der grösste Aufschrei erfolgte 2006, als erstmals Tausende Migranten aus Senegal und Mauretanien über Marokko nach Spanien gelangten. Doch die Sorge liess nach, sobald die Regierung Massnahmen ergriff.
Der sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero schloss damals Abkommen mit Marokko für einen strengen Grenzschutz zu Land und zu Wasser, die als Vorbild für spätere Abkommen der EU mit der Türkei und Tunesien gelten. Auch unter Pedro Sánchez bleibt das Grenzabkommen mit Marokko ein zentraler Pfeiler der spanischen Migrationspolitik. Pushbacks gehören dabei längst zum Alltag.
Lateinamerikaner ja, Afrikaner eher nein
Für Sánchez ist die Einwanderung aus Afrika politisch heikel. Jüngste Berichte über einen neuen Höchststand bei den irregulären Grenzübertritten aus Westafrika haben dazu geführt, dass sich der Anteil der Spanier, die Migration als grosses Problem betrachten, verfünffacht hat. Noch im Januar, als die Zahl der Übertritte tief war, lag er bei 6 Prozent, Anfang Oktober bei 30 Prozent. Die kanarischen Inseln sind überlastet, und seit Monaten gibt es Streit zwischen der Zentralregierung und den mehrheitlich konservativen Regionalpräsidenten Spaniens über eine gerechtere Verteilung von Migranten, insbesondere von Minderjährigen, im gesamten Land.
Allerdings spielen Migranten aus Afrika im Vergleich zur Gesamtzuwanderung in Spanien eine eher geringe Rolle. Haupttreiber der Zuwanderung sind Einwanderer aus Lateinamerika, insbesondere aus Ländern wie Venezuela, Kolumbien und Honduras. Sie reisen als Touristen ein, beantragen dann Asyl und arbeiten häufig in Berufen, in denen dringend Arbeitskräfte benötigt werden, wie etwa als Haushaltshilfen, Bauarbeiter, in der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe.
Die Migranten aus den ehemaligen Kolonien sind in Spanien bis in konservative Kreise hinein akzeptiert – auch, wenn sie sich als abgewiesene Asylsuchende irregulär im Land aufhalten. Selbst die rechtspopulistische Vox heisst sie willkommen. Man teile eine gemeinsame Sprache, Kultur, Religion und Geschichte, betont der Parteichef Santiago Abascal. Anders sei das mit den Zuwanderern aus afrikanischen Ländern. Für sie hat die Partei den Slogan «Más muros y menos moros», mehr Mauern und weniger Mauren, entwickelt; eine Anspielung auf die muslimischen Berber und Araber, die im Mittelalter einen Teil der iberischen Halbinsel besetzt hatten.
Im Gegensatz zu anderen rechtspopulistischen Parteien Europas hatte Vox in Spanien mit ihren migrationskritischen Leitsprüchen bisher aber noch keinen durchschlagenden Erfolg. Bei den letzten Wahlen erreichte die Partei rund 12 Prozent der Stimmen, in aktuellen Umfragen kommt sie auf rund 10 Prozent. Sie belegt damit den dritten Platz hinter dem konservativen Partido Popular mit 31,5 Prozent und den Sozialisten von Pedro Sánchez mit 34 Prozent.